Die Schulzeit der Kinder
ist für viele Eltern eine emotionale Rutschbahn: Man startet in der ersten
Klasse mit höchsten Erwartungen und schlimmsten Befürchtungen und gleitet im
Laufe der Jahre stetig hinab in ruhigere Gefilde. Das zeigt sich beispielhaft an
den Elternabenden, die in den ersten Schuljahren hochexplosive
Erwachsenenrunden sein können und die in der Oberstufe dann zu entspannten
Kurzanlässen werden. Irgendwann merken Eltern, dass ihre Kinder robuster sind,
als sie angenommen haben, und dass sie die Schule – auch wenn nicht immer alles
rundläuft – insgesamt unbeschadet überstehen werden. Auch dank patenter
Lehrerinnen und Lehrer, die es – neben den anderen – glücklicherweise ebenfalls
gibt.
Seldwyla im Schulzimmer, Weltwoche, 1.2. von Katharina Fontana
Auch wenn man als Mutter also gelernt hat, der Schule ihren Lauf
zu lassen und sich nicht einzumischen, gibt es mitunter doch derart augenfälligen
Unsinn, dass man sich in Seldwyla wähnt. Das gilt im Speziellen für den
Frühfranzösischunterricht. In den Kantonen Bern, Solothurn, Freiburg, Wallis
und in den beiden Basel, die alle an der deutsch-französischen Sprachgrenze
liegen, werden die Kinder ab der dritten Klasse in Französisch unterrichtet. Ab
der fünften Klasse kommt Englisch dazu, das Sprachenmodell trägt den Titel
«Passepartout». Schon bald nach dem Start des Frühfranzösisch vor fünf, sechs
Jahren regte sich Widerstand seitens der Eltern, der immer vehementer wurde. Im
Mittelpunkt des Streits, der bis heute anhält und Leserbriefseiten füllt, steht
das Lehrmittel «Mille feuilles», das die Lehrer im Französischunterricht
obligatorisch verwenden müssen.
Zu viel
Selbstverwirklichung
Die Macher von «Mille feuilles» hatten den Ehrgeiz, etwas
grundlegend Neuartiges zu kreieren und die Kinder auf frischen Pfaden an das
Sprachenlernen heranzuführen. Heute lässt sich sagen, dass ein bisschen mehr
gesunder Menschenverstand und ein bisschen weniger Selbstverwirklichung dem
Vorhaben wohl nicht geschadet hätten. So wird beispielsweise auf Rubriken wie
«Im Restaurant bestellen» oder «In Paris nach dem Weg fragen», anhand deren
frühere Schülergenerationen den französischen Wortschatz Schritt für Schritt
und Thema für Thema erlernten, verzichtet, da «diese Situationen – wenn
überhaupt – erst Jahre später erlebt werden», wie die
Lehrmittelverantwortlichen schreiben. Das mag ja sein, nur stellt sich dann die
Frage, warum die Kinder jetzt Vokabeln wie «le percnoptère» lernen müssen. Für
alle, die das Wort nicht kennen: Es handelt sich um den «Schmutzgeier», einen
Vogel, der in Mitteleuropa nur auftaucht, wenn er in der Luft komplett von
seinem Weg abgekommen ist. Da scheinen Vokabeln rund um das Restaurant oder die
Wege in Paris doch etwas naheliegender zu sein.
Auch bezüglich Grammatik bleibt mit «Mille feuilles» kein Stein
auf dem anderen. Statt altmodisch Regeln zu lernen, sollen die Kinder die
Sprache zuerst spielerisch ausprobieren, sie sollen die Hemmungen verlieren
und selbstbewusst ans Französisch herangehen. Es versteht sich von selbst,
dass das, was dabei herauskommt, nur noch sehr entfernt mit der Sprache Voltaires
zu tun hat, zumal auch die Aussprache kaum je korrigiert wird – man will die
Kinder ja schliesslich nicht entmutigen. Wirklich enttäuschend jedoch ist, dass
diese Methode keinen Erfolg bringt: Selbst für einfache Alltagsgespräche – «Ce
soir on va manger une pizza?» – «Hä?» – reicht es vielfach nicht, wie viele
Eltern ernüchtert feststellen. Das dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass
der Durchschnitt der «Mille feuilles»-Schüler nach vier – vier! – Jahren
Frühfranzösisch die fünfhundert wichtigsten Wörter nicht kennt, wie der
Projektleiter von «Passepartout» vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Basler
Zeitung einräumen musste.
Nun mag man denken, dass es ja nicht pressiert und die Kinder in
der Oberstufe noch ausreichend Zeit mit Französisch verbringen werden.
Allerdings zeigt sich – und hier wird es geradezu grotesk –, dass die
Frühfranzösisch-Schüler beim Übertritt nach der sechsten Primarschulklasse in
die Oberstufe oft über weniger Wissen verfügen als ihre Vorgänger, die erst in
der fünften Klasse mit Französisch starteten und noch ganz traditionell Wörter
und Grammatik pauken mussten. So sind beispielsweise die Verben être und avoir für
die «Mille feuilles»-Kinder zu Beginn der Oberstufe vielfach böhmische Dörfer,
sie können nichts mit ihnen anfangen, schon gar nicht können sie sie konjugieren.
Der Frühfranzösischunterricht in der Primarschule führt also paradoxerweise
dazu, dass es in der Oberstufe teils deutlich mehr harzt als früher und die
Lehrer im Unterricht das Basiswissen nachholen müssen, das in vier
Primarschuljahren offenbar nicht vermittelt werden kann. Offen zugeben will das
kaum jemand. Es gibt in den Kantonen zwar Umfragen unter Lehrern, die sehr
kritische Ergebnisse hervorgebracht haben. Doch von offizieller Stelle wird beruhigt
und besänftigt: Man habe selber eine umfassende Evaluation zum Stand der
Französischkenntnisse in Auftrag gegeben. Diese sei noch am Laufen,
anschliessend werde man weitersehen.
Die Kritik in den sechs «Passepartout»-Kantonen ist indes so laut
und anhaltend, dass die Verantwortlichen, die ihr (gemäss eigenen Angaben) 50
Millionen Franken teures Sprachenkonzept lange Zeit tapfer verteidigt haben,
das Offensichtliche nun zumindest ansatzweise zugeben müssen: Man habe Fehler
gemacht, sei überambitioniert gewesen, das Lehrmittel werde teilweise
überarbeitet. Dass die Bildungslobby nur sehr widerwillig Änderungen an die
Hand nimmt und für Verbesserungen zu haben ist, hat nicht nur mit «Mille
feuilles» zu tun, sondern ist vor einem grösseren Hintergrund zu sehen. Denn
ein Eingeständnis, dass das Frühfranzösisch nicht den versprochenen Erfolg
bringt, gibt der Debatte über Sinn oder Unsinn des frühen Sprachenlernens
wieder neuen Schub. Was eine frühe Spracherziehung bringt, darüber gehen die
Meinungen bekanntlich auseinander. Es werden Studien dafür und Studien dagegen
ins Feld geführt, ein Wissenschaftler kontert den anderen. Erst kürzlich kam
eine breitangelegte Masterarbeit der Universität Freiburg zum Schluss, dass
Schüler, die nach der neuen Methode Französisch lernen, Texte weniger gut
verstehen als Kinder, die nach dem alten Konzept unterrichtet wurden, also erst
später mit der Fremdsprache begonnen haben. Doch welcher Studie auch immer man
glauben will: Man muss nicht Erziehungswissenschaftlerin sein, um zu erkennen,
dass zwei, drei spielerische Wochenlektionen Französisch in der Primarschule
letztlich wenig, zu wenig bewirken.
Kondome für
Elfjährige
Beim Sprachenkonzept erinnert einiges an die Sexualkunde, die vor
einiger Zeit viel zu reden gegeben hat und wo ebenfalls über ehrgeizige
didaktische Modelle diskutiert wurde. Nichts gegen Sexualkunde und Aufklärung
in der Schule; dass diese Themen im Unterricht behandelt werden, ist sicher
richtig. Doch auch hier möchte man die Verantwortlichen ermuntern, bei all den
ausgetüftelten Konzepten das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren und
sich etwas näher am Leben der Kinder zu bewegen. Es muss nicht sein wie in
unserer Primarschule, dass bereits Elfjährige sich einen Vormittag darin üben,
Kondome über Bananen zu stülpen. Nicht, weil dies den Kindern schaden würde –
laut den Erzählungen zu Hause war es für die Klasse insgesamt eine lustige Sache
–, sondern weil es der falsche Zeitpunkt ist. Elfjährige brauchen noch keine
Kondome. Aber Bildungsverantwortliche vielleicht einen besseren Kompass.
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