1. Februar 2018

Anhaltender Widerstand gegen Frühfremdsprachen

Die Schulzeit der Kinder ist für viele Eltern eine emotionale Rutschbahn: Man startet in der ­ersten Klasse mit höchsten Erwartungen und schlimmsten Befürchtungen und gleitet im Laufe der Jahre stetig hinab in ruhigere Gefilde. Das zeigt sich beispielhaft an den Elternabenden, die in den ersten Schuljahren hochexplosive Erwachsenenrunden sein können und die in der Oberstufe dann zu entspannten Kurzanlässen werden. Irgendwann merken Eltern, dass ihre Kinder robuster sind, als sie angenommen haben, und dass sie die Schule – auch wenn nicht immer alles rundläuft – insgesamt unbeschadet überstehen werden. Auch dank patenter Lehrerinnen und Lehrer, die es – neben den anderen – glücklicherweise ebenfalls gibt.
Seldwyla im Schulzimmer, Weltwoche, 1.2. von Katharina Fontana


Auch wenn man als Mutter also gelernt hat, der Schule ihren Lauf zu lassen und sich nicht einzumischen, gibt es mitunter doch derart ­augenfälligen Unsinn, dass man sich in Seld­wyla wähnt. Das gilt im Speziellen für den Frühfranzösischunterricht. In den Kantonen Bern, Solothurn, Freiburg, Wallis und in den beiden Basel, die alle an der deutsch-französischen Sprachgrenze liegen, werden die Kinder ab der dritten Klasse in Französisch unterrichtet. Ab der fünften Klasse kommt Englisch dazu, das Sprachenmodell trägt den Titel «Passepartout». Schon bald nach dem Start des Frühfranzösisch vor fünf, sechs Jahren regte sich Widerstand seitens der Eltern, der immer vehementer wurde. Im Mittelpunkt des Streits, der bis heute anhält und Leserbriefseiten füllt, steht das Lehrmittel «Mille feuilles», das die Lehrer im Französischunterricht obligatorisch verwenden müssen.

Zu viel Selbstverwirklichung

Die Macher von «Mille feuilles» hatten den Ehrgeiz, etwas grundlegend Neuartiges zu kreieren und die Kinder auf frischen Pfaden an das Sprachenlernen heranzuführen. Heute lässt sich sagen, dass ein bisschen mehr gesunder Menschenverstand und ein bisschen weniger Selbstverwirklichung dem Vorhaben wohl nicht geschadet hätten. So wird beispielsweise auf Rubriken wie «Im Restaurant bestellen» oder «In Paris nach dem Weg fragen», anhand deren frühere Schülergenerationen den französischen Wortschatz Schritt für Schritt und Thema für Thema erlernten, verzichtet, da «diese Situationen – wenn überhaupt – erst Jahre später erlebt werden», wie die Lehrmittelverantwortlichen schreiben. Das mag ja sein, nur stellt sich dann die Frage, warum die Kinder jetzt ­Vokabeln wie «le percnoptère» lernen müssen. Für alle, die das Wort nicht kennen: Es handelt sich um den «Schmutzgeier», einen Vogel, der in Mitteleuropa nur auftaucht, wenn er in der Luft komplett von seinem Weg abgekommen ist. Da scheinen Vokabeln rund um das Restaurant oder die Wege in Paris doch etwas nahe­liegender zu sein.

Auch bezüglich Grammatik bleibt mit «Mille feuilles» kein Stein auf dem anderen. Statt altmodisch Regeln zu lernen, sollen die Kinder die Sprache zuerst spielerisch ausprobieren, sie ­sollen die Hemmungen verlieren und selbst­bewusst ans Französisch herangehen. Es versteht sich von selbst, dass das, was dabei herauskommt, nur noch sehr entfernt mit der Sprache Voltaires zu tun hat, zumal auch die Aussprache kaum je korrigiert wird – man will die Kinder ja schliesslich nicht entmutigen. Wirklich enttäuschend jedoch ist, dass diese Methode keinen Erfolg bringt: Selbst für einfache Alltagsgespräche – «Ce soir on va manger une pizza?» – «Hä?» – reicht es vielfach nicht, wie viele Eltern ernüchtert feststellen. Das dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass der Durchschnitt der «Mille feuilles»-Schüler nach vier – vier! – Jahren Frühfranzösisch die fünf­hundert wichtigsten Wörter nicht kennt, wie der Projekt­leiter von «Passepartout» vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Basler Zeitung einräumen musste.

Nun mag man denken, dass es ja nicht pressiert und die Kinder in der Oberstufe noch ausreichend Zeit mit Französisch verbringen werden. Allerdings zeigt sich – und hier wird es geradezu grotesk –, dass die Frühfranzösisch-­Schüler beim Übertritt nach der sechsten Primarschulklasse in die Oberstufe oft über weniger Wissen verfügen als ihre Vorgänger, die erst in der fünften Klasse mit Französisch starteten und noch ganz traditionell Wörter und Grammatik pauken mussten. So sind beispielsweise die Verben être und avoir für die «Mille feuilles»-­Kinder zu Beginn der Oberstufe vielfach böhmische Dörfer, sie können nichts mit ihnen anfangen, schon gar nicht können sie sie kon­jugieren. Der Frühfranzösischunterricht in der Primarschule führt also paradoxerweise dazu, dass es in der Oberstufe teils deutlich mehr harzt als früher und die Lehrer im Unterricht das Basiswissen nachholen müssen, das in vier Primarschuljahren offenbar nicht vermittelt werden kann. Offen zugeben will das kaum jemand. Es gibt in den Kantonen zwar Umfragen unter Lehrern, die sehr kritische Ergebnisse hervorgebracht haben. Doch von offizieller Stelle wird beruhigt und besänftigt: Man habe selber eine umfassende Evaluation zum Stand der Französischkenntnisse in Auftrag gegeben. Diese sei noch am Laufen, anschliessend werde man ­weitersehen.

Die Kritik in den sechs «Passepartout»-­Kantonen ist indes so laut und anhaltend, dass die Verantwortlichen, die ihr (gemäss eigenen Angaben) 50 Millionen Franken teures Sprachenkonzept lange Zeit tapfer verteidigt haben, das Offensichtliche nun zumindest ansatzweise zugeben müssen: Man habe Fehler gemacht, sei überambitioniert gewesen, das Lehrmittel ­werde teilweise überarbeitet. Dass die Bildungs­lobby nur sehr widerwillig Änderungen an die Hand nimmt und für Verbesserungen zu haben ist, hat nicht nur mit «Mille feuilles» zu tun, sondern ist vor einem grösseren Hintergrund zu sehen. Denn ein Eingeständnis, dass das Frühfranzösisch nicht den versprochenen Erfolg bringt, gibt der Debatte über Sinn oder Unsinn des frühen Sprachenlernens wieder neuen Schub. Was eine frühe Spracherziehung bringt, darüber gehen die Meinungen bekanntlich auseinander. Es werden Studien dafür und Studien dagegen ins Feld geführt, ein Wissenschaftler kontert den anderen. Erst kürzlich kam eine breitangelegte Masterarbeit der Universität Freiburg zum Schluss, dass Schüler, die nach der neuen Methode Französisch lernen, Texte weniger gut verstehen als Kinder, die nach dem alten Konzept unterrichtet wurden, also erst später mit der Fremdsprache begonnen haben. Doch welcher Studie auch immer man glauben will: Man muss nicht Erziehungswissenschaftlerin sein, um zu erkennen, dass zwei, drei spielerische Wochenlektionen Französisch in der Primarschule letztlich wenig, zu wenig bewirken.

Kondome für Elfjährige

Beim Sprachenkonzept erinnert einiges an die Sexualkunde, die vor einiger Zeit viel zu reden gegeben hat und wo ebenfalls über ehrgeizige didaktische Modelle diskutiert wurde. Nichts gegen Sexualkunde und Aufklärung in der Schule; dass diese Themen im Unterricht behandelt werden, ist sicher richtig. Doch auch hier möchte man die Verantwortlichen ermuntern, bei all den ausgetüftelten Konzepten das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren und sich etwas näher am Leben der Kinder zu bewegen. Es muss nicht sein wie in unserer Primarschule, dass bereits Elfjährige sich einen Vormittag darin üben, Kondome über Bananen zu stülpen. Nicht, weil dies den Kindern schaden würde – laut den Erzählungen zu Hause war es für die Klasse insgesamt eine lustige ­Sache –, sondern weil es der falsche Zeitpunkt ist. Elfjährige brauchen noch keine Kondome. Aber Bildungsverantwortliche vielleicht einen besseren Kompass.
     



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