«Treffen wir uns doch in der Mitte», hat Reto Furter, Leiter des
Passepartout-Konzepts, gesagt. So reist er vom schweizerischen Freiburg an und
die Journalistin von Basel. Im «Starbucks» in Olten sitzen wir uns gegenüber,
er wirkt sympathisch, zugänglich und durchaus offen für Kritik am neuen
Frühsprachen-Konzept Passepartout – und diese gibt es durchaus. Aufgewachsen im
Luzerner Hinterland sei er zuerst Sekundar- und dann Gymnasiallehrer gewesen, nachher
habe er das deutschsprachige Volksschulamt im Kanton Freiburg geleitet, erzählt
er. Mit 50 habe er noch etwas Neues beginnen wollen und die Leitung des
Passepartout-Konzepts übernommen. Das Frühsprachenkonzept ist seit dem Jahr
2012 in Kraft und hat bei Eltern und Lehrpersonen einigen Wirbel ausgelöst. Die
Kritik: Kinder würden mit der neuen Methodik schlechter Sprachen lernen.
Reto Furter:"Ich habe gelernt, bescheidener zu werden", Bild: Franziska Laur
"Sprachenkonzept ist kein Geflick, wir handeln", Basler Zeitung, 25.1. von Franziska Laur
Soeben hat die Kantonale Schulkonferenz Basel-Stadt ihre Umfrage zum
Frühsprachenkonzept unter den Lehrpersonen ausgewertet. Diese zeigt, dass
Pädagogen insbesondere zu den Französisch-Lehrmitteln «Mille Feuilles» und
«Clin d’œil» mehrfach kritische Aussagen machen. Die BaZ hat sich mit
Reto Furter über die kritisierten Punkte und über den künftigen Weg
unterhalten.
BaZ: Herr Furter, schon lange monieren Pädagogen, das
Passepartout-Frühsprachen-Konzept sei stark verbesserungsbedürftig. Was sagen
Sie dazu?
Reto Furter: Es gibt einzelne Punkte, die man kritisieren muss und kann. Vor
allem in Bezug auf die Lehrmittel. Die Kritiken sind uns bekannt und wir
arbeiten daran. Mühe habe ich, wenn es sich um Pauschalkritik handelt. Diese
ist häufig respektlos denjenigen Lehrpersonen gegenüber, die schon länger
erfolgreich und engagiert damit arbeiten. Aber es ist richtig, dass es Dinge
gibt, die wir verbessern müssen.
Was meinen Sie mit Pauschalkritik?
Beispielsweise, dass es völlig konfus zu- und hergehe, dass die Schüler
keinen Erfolg hätten und die Lehrpersonen überfordert seien. Das ist eine Form
von Pauschalkritik, die so nicht stimmt.
Ein Kritikpunkt ist, dass sich Kinder in Alltagssituationen auf
Französisch auch nach zwei Jahren Unterricht nicht ausdrücken können.
Das kommt nicht überraschend. Das Französisch-Lehrmittel ist so
aufgebaut, dass man erst später Gewicht legt aufs Reden. Jetzt kann man salopp
sagen: Ja, wir müssen einfach Geduld haben, das kommt schon. – Aber wir haben
selber festgestellt, dass die Kinder in der 4. bis 6. Klasse in alltäglichen
Situationen zu wenig Französisch sprechen können.
Und was ist die Konsequenz?
Wir sind beim Verlag, der diese Lehrmittel entwickelt hat, vorstellig
geworden und haben die Überarbeitung der Lehrmittel für die 5. und 6. Klasse
veranlasst. Das Schwergewicht soll stärker aufs Sprechen auch in
Alltagssituationen gelegt werden. Ausserdem soll es mehr Übungsmaterial geben.
Wo sehen Sie genau die Vorteile des Passpartout-Sprachenkonzepts?
Da muss ich ausholen. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat 2004
festgelegt, wie man den Fremdsprachenunterricht erneuern soll und eine
Sprachenstrategie entwickelt. Die sechs Kantone an der Sprachgrenze wollten
diese Vorgaben zusammen umsetzen und starteten das Passepartout-Projekt. Zuerst
wurde ein neuer Lehrplan entwickelt. Dann die neuen Lehrmittel, eine bessere
Weiterbildung der Lehrkräfte in der Sprachkompetenz und eine zusätzliche
methodisch-didaktische Weiterbildung. Zudem wurde die Unterrichtszeit
erweitert, indem der Fremdsprachenunterricht früher startet und mehr Lektionen
zur Verfügung stehen.
Doch nun stellen sich dieses Passepartout-Konzept und die neuen
Lehrmittel als ständiges Flickwerk heraus.
Es ist kein Geflick, sondern wir haben Verbesserungsbedarf festgestellt
und handeln. Wir merkten vor allem bei den leistungsschwächeren Kindern, dass
das Französisch-Lehrmittel sehr anspruchsvoll für sie ist. Daher stellen wir
den Lehrpersonen seit Längerem zusätzliche Arbeitsblätter zur Verfügung.
Es geht aber nicht nur um die leistungsschwächeren Schüler. Der
Durchschnitt der Schüler kann noch nach vier Jahren Französisch die 500
wichtigsten Wörter nicht.
Das stimmt, daher hat der Verlag reagiert und die 500 Wörter festlegt.
Wir haben zu Beginn tatsächlich unterschätzt, wie gross der Aufwand für die
Lehrpersonen ist, diese selber zu erarbeiten.
Es scheint also nicht nur für die Schüler ein anspruchsvolles Lehrmittel
zu sein, sondern auch für die Pädagogen.
Sehr anspruchsvoll. Das können und müssen wir nach den vier Jahren, seit
es im Gebrauch ist, offen zugeben. Es sind Fehler passiert, es gibt
Schwierigkeiten. Wenn man Neues wagt, dann muss man auch mit Fehlern rechnen.
Wir haben beispielsweise zu Beginn so getan, als würden wir das Rad neu
erfinden, und wir haben zu wenig gewürdigt, was die Lehrpersonen zuvor alles
Wichtiges und Wertvolles geleistet haben. So kamen wir von einem Extrem ins
andere. Wir haben auch unterschätzt, wie viel Zeit es für die Lehrpersonen
braucht, sich in ein neues Lehrmittel zu vertiefen.
Es ist nicht nur anspruchsvoll, es ist auch verwirrend. Da werden Wörter
gelehrt, welche die Kinder noch nicht einmal auf Deutsch können.
Ein altes Lehrmittel war meist eine konkrete Gebrauchsanleitung. Ein
neues Lehrmittel ist wie eine Art Drehbuch, das den Lehrpersonen viel
Interpretationsspielraum lässt.
Was ist die Idee dahinter?
Die Idee ist, dass sich Vorstellungen des Lernens verändert haben.
Früher hatte man mehr die Idee, Wissen, Grammatik und den Wortschatz zu
vermitteln. Heute weiss man, dass Lernen anders vor sich geht. Kinder lernen,
indem sie Dinge ausprobieren und handeln. Und die neuen Lehrmittel wollen nicht
die ganze Klasse ins Zentrum stellen, sondern den Lehrpersonen helfen, dem
einzelnen Kind noch gerechter zu werden.
Reaktionen von Eltern auf unsere BaZ-Artikel zum
Passepartout-Konzept zeigen, dass dabei vielen Kindern das Französisch
verleidet.
Das ist natürlich sehr bedenklich und überhaupt nicht das, was wir uns
wünschen. Aber der Erfolg stellt sich wirklich nicht von heute auf morgen ein.
Das ist etwas, das wir zu wenig kommuniziert haben. Es braucht Geduld und
Ausdauer.
Sie sind also überzeugt, dass es sich auf die Länge bei allen Schülern
auszahlt?
Ich bin felsenfest überzeugt, dass sich dieses Lehrmittel etabliert. Die
Primarlehrpersonen, welche schon länger damit arbeiten, sagen uns, dass sie
nach dem dritten, vierten Durchgang feststellen, dass es besser und besser
kommt. Weil sie sich als Lehrpersonen besser an das Lehrmittel gewöhnt haben.
Es gibt aber sehr viele Lehrpersonen, die gar nicht mehr mit diesem
Lehrmittel arbeiten, sondern alte oder privat herumgereichte nehmen?
Das sollte nicht sein, denn das Lehrmittel ist obligatorisch. Wie
gesagt, dieses Lehrmittel wird sich langfristig auszahlen. Es ist nun eine
grosse Evaluation der Universität Freiburg am Laufen, die überprüft, ob wir die
gesteckten Ziele im Französischunterricht erreichen.
Wenn nun jedoch viele Lehrpersonen nicht mit diesem Lehrmittel arbeiten,
so wird das Bild dieser Studie verfälscht.
Gut, wir gehen davon aus, dass sie damit arbeiten. Schliesslich ist es
ein obligatorisches Lehrmittel.
Wer macht diese Studie?
Das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg. Schüler aus
allen sechs Passepartout-Kantonen und alle Leistungsstufen werden befragt.
Angeschaut wird das Lese- und Hörverstehen und das Sprechen, und zwar Ende der
6. und 9. Klasse. Ausserdem werden die Lehrpersonen gefragt, wie sie ihren
Französischunterricht gestalten und erleben.
In einer Masterarbeit hat Susanne Zbinden von der Universität Freiburg
festgestellt, dass Kinder, die nach der neuen Methode lernen, Texte weniger gut
verstehen als Kinder, die mit den alten Lehrmittel lernen.
Ich kenne die Masterarbeit gut und ich sprach lange mit Susanne Zbinden.
Auch über ihre Erfahrungen als Lehrerin. In ihrer Arbeit hat sie einen sehr
eingeschränkten Bereich in den Blick genommen: Realschüler im Kanton Bern. Sie
hat auch das alte mit dem neuen Lehrmittel verglichen und zusätzlich
8.-Klässler mit 9.-Klässlern. Methodisch ist das hoch problematisch, weil man
so Äpfel mit Birnen vergleicht. Und ganz wichtig: Für die Erklärung der
Unterschiede gibt es noch viele andere Gründe als bloss das Lehrmittel. Doch
wir nehmen diese Studie ernst und können wieder einiges lernen.
Was beispielsweise?
Dass bei der Arbeit mit dem neuen Lehrmittel dem Üben, dem Aufbau des
Wortschatzes und der Grammatik mehr Beachtung geschenkt wird.
Kommt man von der ursprünglichen Idee des Sprachbades wieder weg?
Wenn man zwei, drei Lektionen Französisch pro Woche hat, so kann man
leider nicht von einem Sprachbad sprechen. Deswegen wollen wir das Sprachbad
mit Klassenaustauschen deutsch/französisch ermöglichen.
Die Idee war, dass auch der sprachenferne Unterricht wie etwa Turn- oder
Geschichtsunterricht in der betreffenden Fremdsprache abgehalten wird.
Das wäre ein nächster Schritt für die kommenden paar Jahre und wird
teilweise bereits praktiziert. Momentan haben wir schon viel gewonnen, wenn
sich die Lehrpersonen im neuen Fremdsprachenunterricht sattelfester fühlen. Ich
habe in diesem Projekt gelernt, bescheidener zu werden und nicht zu viel zu
wollen.
Im Eifer, die Kinder nicht zu bremsen, wurden sie teilweise gar nicht
mehr auf Fehler aufmerksam gemacht.
Das habe ich auch gehört. Selbstverständlich soll man Kinder auf Fehler
aufmerksam machen. Ein Fehler ist didaktisch gesehen viel interessanter als die
richtige Antwort. Lernen tun wir vor allem aus Fehlern. Die Frage ist, welche
Bedeutung man ihnen gibt. Meine eigene Erfahrung nach vielen Jahren
Franz-Unterricht war, dass ich mich nicht getraute, Französisch zu sprechen, da
ich stets auf Fehler hingewiesen worden war. Mein Selbstvertrauen war gleich
null. Das soll heutigen Kindern nicht passieren.
Und wie wäre es eigentlich, wenn man zurück zu den alten Lehrmitteln
gehen würde, die man modifizieren und modernisieren könnte?
Da würden wir ganz viele Leute vor den Kopf stossen. Verschiedene
Hearings in den Kantonen haben gezeigt, dass das niemand will. Für die Kinder
wäre es ein Hüst und Hott.
Hat es je bei einem Lehrmittel eine so lange Weiterbildung für die
Lehrpersonen gegeben?
Nein, noch nie. Doch es liegt in der Kompetenz der einzelnen
Bildungsdirektoren, diese zu kürzen. Im Kanton Baselland hat das die
Bildungsdirektorin Monica Gschwind gemacht und das finde ich auch richtig.
Kürzungen gab es auch in den Kantonen Bern und Wallis.
Im Kanton Baselland gab und gibt es ja besonders viel Widerstand gegen
diese Lehrmittel. Hatten Sie mit diesen Lehrpersonen Kontakt?
Ja, mit dem Lehrerverein nahm ich Kontakt auf. Da ist mir viel
Widerstand, vor allem auf der Sekundarstufe I, entgegengeschwappt. Ich weiss
nicht, weshalb dies gerade im Kanton Baselland so ist. Wir haben jedoch auch in
anderen Kantonen festgestellt, dass es Ärger auslöst, wenn ein
Lehrmittelobligatorium eingeführt wird. Es wird als Bevormundung empfunden.
Der ausschlaggebende Punkt dürfte allerdings sein, dass dieses
Lehrmittel im Alltag nicht funktioniert.
Ja, diese Kritik hören wir immer wieder. Wir hören aber auch von vielen
Lehrpersonen das Gegenteil: Es funktioniert!
Ist es überhaupt sinnvoll, Frühfremdsprachen durchzusetzen?
Unbedingt. Da wird viel durcheinander gebracht. Alle wichtigen Studien
bestätigen, dass die Kinder nicht überfordert sind, wenn man schon in der
dritten Klasse mit der ersten Fremdsprache beginnt. Je länger ein Kind für das
Erlernen einer neuen Sprache Zeit hat, desto besser ist es. Würden wir die Zeit
verkürzen, wäre das vor allem für die schwächeren Schülerinnen und Schüler
total unfair und eine Überforderung.
Im Alltag tönt dies anders. Nämlich, dass vor allem Schwächere unter der
Frühfremdsprachen-Einführung leiden.
Diese Kinder haben leider auch in anderen Fächern zu kämpfen.
Dann hätten sie etwas weniger, womit sie sich rumplagen müssten.
Es würde bedeuten, dass für sie die Belastung später umso grösser wäre.
Eine Ungerechtigkeit, die wir unbedingt verhindern wollen.
Wie teuer ist die Einführung des Konzepts?
Rund 50 Millionen Franken als Gesamtpaket aller sechs Kantone über eine
Zeit von zwölf Jahren. Da ist alles dabei: Ausbildung, Weiterbildung, Ausbau
der Anzahl Lektionen, neuer Lehrplan, neue Lehrmittel, Evaluationen und die
gesamte Projektorganisation.
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