25. Januar 2018

Passepartout-Chef verteidigt Didaktik

«Treffen wir uns doch in der Mitte», hat Reto Furter, Leiter des Passepartout-Konzepts, gesagt. So reist er vom schweizerischen Freiburg an und die Journalistin von Basel. Im «Starbucks» in Olten sitzen wir uns gegenüber, er wirkt sympathisch, zugänglich und durchaus offen für Kritik am neuen Frühsprachen-Konzept Passepartout – und diese gibt es durchaus. Aufgewachsen im Luzerner Hinterland sei er zuerst Sekundar- und dann Gymnasiallehrer gewesen, nachher habe er das deutschsprachige Volksschulamt im Kanton Freiburg geleitet, erzählt er. Mit 50 habe er noch etwas Neues beginnen wollen und die Leitung des Passepartout-Konzepts übernommen. Das Frühsprachenkonzept ist seit dem Jahr 2012 in Kraft und hat bei Eltern und Lehrpersonen einigen Wirbel ausgelöst. Die Kritik: Kinder würden mit der neuen Methodik schlechter Sprachen lernen.
Reto Furter:"Ich habe gelernt, bescheidener zu werden", Bild: Franziska Laur
"Sprachenkonzept ist kein Geflick, wir handeln", Basler Zeitung, 25.1. von Franziska Laur


Soeben hat die Kantonale Schulkonferenz Basel-Stadt ihre Umfrage zum Frühsprachenkonzept unter den Lehrpersonen ausgewertet. Diese zeigt, dass Pädagogen insbesondere zu den Französisch-Lehrmitteln «Mille Feuilles» und «Clin d’œil» mehrfach kritische Aussagen machen. Die BaZ hat sich mit Reto Furter über die kritisierten Punkte und über den künftigen Weg unterhalten.

BaZ: Herr Furter, schon lange monieren Pädagogen, das Passepartout-Frühsprachen-Konzept sei stark verbesserungsbedürftig. Was sagen Sie dazu?
Reto Furter: Es gibt einzelne Punkte, die man kritisieren muss und kann. Vor allem in Bezug auf die Lehrmittel. Die Kritiken sind uns bekannt und wir arbeiten daran. Mühe habe ich, wenn es sich um Pauschalkritik handelt. Diese ist häufig respektlos denjenigen Lehrpersonen gegenüber, die schon länger erfolgreich und engagiert damit arbeiten. Aber es ist richtig, dass es Dinge gibt, die wir verbessern müssen.

Was meinen Sie mit Pauschalkritik?
Beispielsweise, dass es völlig konfus zu- und hergehe, dass die Schüler keinen Erfolg hätten und die Lehrpersonen überfordert seien. Das ist eine Form von Pauschalkritik, die so nicht stimmt.

Ein Kritikpunkt ist, dass sich Kinder in Alltagssituationen auf Französisch auch nach zwei Jahren Unterricht nicht ausdrücken können.
Das kommt nicht überraschend. Das Französisch-Lehrmittel ist so aufgebaut, dass man erst später Gewicht legt aufs Reden. Jetzt kann man salopp sagen: Ja, wir müssen einfach Geduld haben, das kommt schon. – Aber wir haben selber festgestellt, dass die Kinder in der 4. bis 6. Klasse in alltäglichen Situationen zu wenig Französisch sprechen können.

Und was ist die Konsequenz?
Wir sind beim Verlag, der diese Lehrmittel entwickelt hat, vorstellig geworden und haben die Überarbeitung der Lehrmittel für die 5. und 6. Klasse veranlasst. Das Schwergewicht soll stärker aufs Sprechen auch in Alltagssituationen gelegt werden. Ausserdem soll es mehr Übungsmaterial geben.

Wo sehen Sie genau die Vorteile des Passpartout-Sprachenkonzepts?
Da muss ich ausholen. Die Erziehungsdirektorenkonferenz hat 2004 festgelegt, wie man den Fremdsprachenunterricht erneuern soll und eine Sprachenstrategie entwickelt. Die sechs Kantone an der Sprachgrenze wollten diese Vorgaben zusammen umsetzen und starteten das Passepartout-Projekt. Zuerst wurde ein neuer Lehrplan entwickelt. Dann die neuen Lehrmittel, eine bessere Weiterbildung der Lehrkräfte in der Sprachkompetenz und eine zusätzliche methodisch-didaktische Weiterbildung. Zudem wurde die Unterrichtszeit erweitert, indem der Fremdsprachenunterricht früher startet und mehr Lektionen zur Verfügung stehen.

Doch nun stellen sich dieses Passepartout-Konzept und die neuen Lehrmittel als ständiges Flickwerk heraus.
Es ist kein Geflick, sondern wir haben Verbesserungsbedarf festgestellt und handeln. Wir merkten vor allem bei den leistungsschwächeren Kindern, dass das Französisch-Lehrmittel sehr anspruchsvoll für sie ist. Daher stellen wir den Lehrpersonen seit Längerem zusätzliche Arbeitsblätter zur Verfügung.

Es geht aber nicht nur um die leistungsschwächeren Schüler. Der Durchschnitt der Schüler kann noch nach vier Jahren Französisch die 500 wichtigsten Wörter nicht.
Das stimmt, daher hat der Verlag reagiert und die 500 Wörter festlegt. Wir haben zu Beginn tatsächlich unterschätzt, wie gross der Aufwand für die Lehrpersonen ist, diese selber zu erarbeiten.

Es scheint also nicht nur für die Schüler ein anspruchsvolles Lehrmittel zu sein, sondern auch für die Pädagogen.
Sehr anspruchsvoll. Das können und müssen wir nach den vier Jahren, seit es im Gebrauch ist, offen zugeben. Es sind Fehler passiert, es gibt Schwierigkeiten. Wenn man Neues wagt, dann muss man auch mit Fehlern rechnen. Wir haben beispielsweise zu Beginn so getan, als würden wir das Rad neu erfinden, und wir haben zu wenig gewürdigt, was die Lehrpersonen zuvor alles Wichtiges und Wertvolles geleistet haben. So kamen wir von einem Extrem ins andere. Wir haben auch unterschätzt, wie viel Zeit es für die Lehrpersonen braucht, sich in ein neues Lehrmittel zu vertiefen.

Es ist nicht nur anspruchsvoll, es ist auch verwirrend. Da werden Wörter gelehrt, welche die Kinder noch nicht einmal auf Deutsch können.
Ein altes Lehrmittel war meist eine konkrete Gebrauchsanleitung. Ein neues Lehrmittel ist wie eine Art Drehbuch, das den Lehrpersonen viel Interpretationsspielraum lässt.

Was ist die Idee dahinter?
Die Idee ist, dass sich Vorstellungen des Lernens verändert haben. Früher hatte man mehr die Idee, Wissen, Grammatik und den Wortschatz zu vermitteln. Heute weiss man, dass Lernen anders vor sich geht. Kinder lernen, indem sie Dinge ausprobieren und handeln. Und die neuen Lehrmittel wollen nicht die ganze Klasse ins Zentrum stellen, sondern den Lehrpersonen helfen, dem einzelnen Kind noch gerechter zu werden.

Reaktionen von Eltern auf unsere BaZ-Artikel zum Passepartout-Konzept zeigen, dass dabei vielen Kindern das Französisch verleidet.
Das ist natürlich sehr bedenklich und überhaupt nicht das, was wir uns wünschen. Aber der Erfolg stellt sich wirklich nicht von heute auf morgen ein. Das ist etwas, das wir zu wenig kommuniziert haben. Es braucht Geduld und Ausdauer.

Sie sind also überzeugt, dass es sich auf die Länge bei allen Schülern auszahlt?
Ich bin felsenfest überzeugt, dass sich dieses Lehrmittel etabliert. Die Primarlehrpersonen, welche schon länger damit arbeiten, sagen uns, dass sie nach dem dritten, vierten Durchgang feststellen, dass es besser und besser kommt. Weil sie sich als Lehrpersonen besser an das Lehrmittel gewöhnt haben.

Es gibt aber sehr viele Lehrpersonen, die gar nicht mehr mit diesem Lehrmittel arbeiten, sondern alte oder privat herumgereichte nehmen?
Das sollte nicht sein, denn das Lehrmittel ist obligatorisch. Wie gesagt, dieses Lehrmittel wird sich langfristig auszahlen. Es ist nun eine grosse Evaluation der Universität Freiburg am Laufen, die überprüft, ob wir die gesteckten Ziele im Französischunterricht erreichen.

Wenn nun jedoch viele Lehrpersonen nicht mit diesem Lehrmittel arbeiten, so wird das Bild dieser Studie verfälscht.
Gut, wir gehen davon aus, dass sie damit arbeiten. Schliesslich ist es ein obligatorisches Lehrmittel.

Wer macht diese Studie?
Das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg. Schüler aus allen sechs Passepartout-Kantonen und alle Leistungsstufen werden befragt. Angeschaut wird das Lese- und Hörverstehen und das Sprechen, und zwar Ende der 6. und 9. Klasse. Ausserdem werden die Lehrpersonen gefragt, wie sie ihren Französischunterricht gestalten und erleben.

In einer Masterarbeit hat Susanne Zbinden von der Universität Freiburg festgestellt, dass Kinder, die nach der neuen Methode lernen, Texte weniger gut verstehen als Kinder, die mit den alten Lehrmittel lernen.
Ich kenne die Masterarbeit gut und ich sprach lange mit Susanne Zbinden. Auch über ihre Erfahrungen als Lehrerin. In ihrer Arbeit hat sie einen sehr eingeschränkten Bereich in den Blick genommen: Realschüler im Kanton Bern. Sie hat auch das alte mit dem neuen Lehrmittel verglichen und zusätzlich 8.-Klässler mit 9.-Klässlern. Methodisch ist das hoch problematisch, weil man so Äpfel mit Birnen vergleicht. Und ganz wichtig: Für die Erklärung der Unterschiede gibt es noch viele andere Gründe als bloss das Lehrmittel. Doch wir nehmen diese Studie ernst und können wieder einiges lernen.

Was beispielsweise?
Dass bei der Arbeit mit dem neuen Lehrmittel dem Üben, dem Aufbau des Wortschatzes und der Grammatik mehr Beachtung geschenkt wird.

Kommt man von der ursprünglichen Idee des Sprachbades wieder weg?
Wenn man zwei, drei Lektionen Französisch pro Woche hat, so kann man leider nicht von einem Sprachbad sprechen. Deswegen wollen wir das Sprachbad mit Klassenaustauschen deutsch/französisch ermöglichen.

Die Idee war, dass auch der sprachenferne Unterricht wie etwa Turn- oder Geschichtsunterricht in der betreffenden Fremdsprache abgehalten wird.
Das wäre ein nächster Schritt für die kommenden paar Jahre und wird teilweise bereits praktiziert. Momentan haben wir schon viel gewonnen, wenn sich die Lehrpersonen im neuen Fremdsprachenunterricht sattelfester fühlen. Ich habe in diesem Projekt gelernt, bescheidener zu werden und nicht zu viel zu wollen.

Im Eifer, die Kinder nicht zu bremsen, wurden sie teilweise gar nicht mehr auf Fehler aufmerksam gemacht.
Das habe ich auch gehört. Selbstverständlich soll man Kinder auf Fehler aufmerksam machen. Ein Fehler ist didaktisch gesehen viel interessanter als die richtige Antwort. Lernen tun wir vor allem aus Fehlern. Die Frage ist, welche Bedeutung man ihnen gibt. Meine eigene Erfahrung nach vielen Jahren Franz-Unterricht war, dass ich mich nicht getraute, Französisch zu sprechen, da ich stets auf Fehler hingewiesen worden war. Mein Selbstvertrauen war gleich null. Das soll heutigen Kindern nicht passieren.

Und wie wäre es eigentlich, wenn man zurück zu den alten Lehrmitteln gehen würde, die man modifizieren und modernisieren könnte?
Da würden wir ganz viele Leute vor den Kopf stossen. Verschiedene Hearings in den Kantonen haben gezeigt, dass das niemand will. Für die Kinder wäre es ein Hüst und Hott.

Hat es je bei einem Lehrmittel eine so lange Weiterbildung für die Lehrpersonen gegeben?
Nein, noch nie. Doch es liegt in der Kompetenz der einzelnen Bildungsdirektoren, diese zu kürzen. Im Kanton Baselland hat das die Bildungsdirektorin Monica Gschwind gemacht und das finde ich auch richtig. Kürzungen gab es auch in den Kantonen Bern und Wallis.

Im Kanton Baselland gab und gibt es ja besonders viel Widerstand gegen diese Lehrmittel. Hatten Sie mit diesen Lehrpersonen Kontakt?
Ja, mit dem Lehrerverein nahm ich Kontakt auf. Da ist mir viel Widerstand, vor allem auf der Sekundarstufe I, entgegengeschwappt. Ich weiss nicht, weshalb dies gerade im Kanton Baselland so ist. Wir haben jedoch auch in anderen Kantonen festgestellt, dass es Ärger auslöst, wenn ein Lehrmittelobligatorium eingeführt wird. Es wird als Bevormundung empfunden.

Der ausschlaggebende Punkt dürfte allerdings sein, dass dieses Lehrmittel im Alltag nicht funktioniert.
Ja, diese Kritik hören wir immer wieder. Wir hören aber auch von vielen Lehrpersonen das Gegenteil: Es funktioniert!

Ist es überhaupt sinnvoll, Frühfremdsprachen durchzusetzen?
Unbedingt. Da wird viel durcheinander gebracht. Alle wichtigen Studien bestätigen, dass die Kinder nicht überfordert sind, wenn man schon in der dritten Klasse mit der ersten Fremdsprache beginnt. Je länger ein Kind für das Erlernen einer neuen Sprache Zeit hat, desto besser ist es. Würden wir die Zeit verkürzen, wäre das vor allem für die schwächeren Schülerinnen und Schüler total unfair und eine Überforderung.

Im Alltag tönt dies anders. Nämlich, dass vor allem Schwächere unter der Frühfremdsprachen-Einführung leiden.
Diese Kinder haben leider auch in anderen Fächern zu kämpfen.

Dann hätten sie etwas weniger, womit sie sich rumplagen müssten.
Es würde bedeuten, dass für sie die Belastung später umso grösser wäre. Eine Ungerechtigkeit, die wir unbedingt verhindern wollen.

Wie teuer ist die Einführung des Konzepts?

Rund 50 Millionen Franken als Gesamtpaket aller sechs Kantone über eine Zeit von zwölf Jahren. Da ist alles dabei: Ausbildung, Weiterbildung, Ausbau der Anzahl Lektionen, neuer Lehrplan, neue Lehrmittel, Evaluationen und die gesamte Projektorganisation.

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