Der Autor des Buchs "Die Inklusionsfalle" über
die Probleme der "real existierenden Inklusion" in den Schulen, die
mit zu wenigen Ressourcen zu viele und zu hohe Erwartungen erfüllen soll – und
nicht kann.
STANDARD: Sie sind Autor des Buchs "Die
Inklusionsfalle" und haben eine Infoplattform zur Inklusionsdebatte
(inklusion-als-problem.de) gestartet. Dabei sind Sie als Gymnasiallehrer ja
ohnehin kaum bis gar nicht betroffen, denn wenn, spielt sich Inklusion
behinderter Kinder sowieso vor allem in anderen Schulformen ab. Warum ist
Inklusion für Sie ein Problem?
Felten: Umwälzungen und Perspektivwechsel werden ja nicht
unbedingt von denen angestoßen, die am stärksten leiden. Ich beschäftige mich
schon seit längerem kritisch mit den Entwicklungen im Bildungssystem. Inklusion
ist nun quasi das neueste und vielleicht umfassendste pädagogische
"Reformprojekt". Mich hat erstaunt, dass zweifelnde Stimmen und
skeptische Befunde dazu im öffentlichen Diskurs bislang nur eine marginale
Rolle spielten. Dabei eskalieren die Probleme im schulischen Alltag, also
jenseits der Hochglanzbroschüren. Darüber müssen wir unbedingt eine offenere,
ehrlichere Debatte führen.
STANDARD: Und warum ist Inklusion für Sie nun ein Problem?
Felten: Weil die schöne Formel "Eine Schule für
alle" eben nicht bedeutet, dass dort jedes Kind mit seinen
Lernbedürfnissen optimal gefördert wird. Tatsächlich entwickeln sich viele
Schüler in der real existierenden Inklusion schlechter als bisher.
STANDARD: Sie haben ja sogar einmal geschrieben:
"Dabei ist die radikale Inklusionsschule selbst ein grotesker
Menschenversuch." Das klingt doch arg zynisch.
Felten: Die Verhältnisse sind eben so. Wir werden verlockt
– jede Falle hat ja ihren Speck – durch die pädagogische Vision der
Differenzenlosigkeit: Kinder würden sich dann am besten entwickeln, wenn sie
ungeachtet aller Fähigkeitsunterschiede miteinander lernen könnten – das sei
überhaupt ein Menschenrecht. Die Klappe, die dann zuschlägt, ist: Die Schulen
bekommen weit weniger Geld und sonderpädagogische Expertise als die
vielgepriesenen Leuchtturmschulen, und dadurch entstehen teilweise chaotische
Zustände, in denen viele Kinder auf mannigfache Art zu kurz kommen.
STANDARD: Man könnte ja auch sagen: Es schadet
nichtbehinderten Kindern vermutlich nicht, wenn sie die Erfahrung machen, mit
einem Kind, das vielleicht langsamer ist, das bestimmte Dinge, die sie selbst
können, nicht kann, nie können wird, zu leben und zu lernen. Das ist für die
meisten ohnehin die einzige Zeit in ihrem Leben. Später trennen sich die Wege,
wenn es keine familiären Beziehungen gibt, sowieso fast immer. Zählt dieser
Aspekt für Sie denn gar nicht?
Felten: Die sozialisierende Funktion der Schule ist mir
ungemein wichtig, aber man darf sie nicht gegen jede Entwicklungspsychologie
umsetzen. Wenn Kinder mit emotionalen Störungen das Lernen der Regelschüler
ständig stören, wird das Miteinander nämlich schnell zum Gegeneinander. Und
wenn umgekehrt ein lernbehindertes oder geistig eingeschränktes Kind in einer
Regelklasse viel größere Leistungsunterschiede erlebt als im Schonraum der
Sonderschule, dann wird es oft zusätzlich entmutigt. Eine deutsche Mutter
schrieb in einem Blog: Entschuldigung, liebe progressive Eltern, aber ich
möchte meinen behinderten Sohn nicht dafür zur Verfügung stellen, dass eure
Kinder sich noch besser entwickeln, als sie es ohnehin schon täten.
STANDARD: Welche Beispiele würden Sie als vorbildhaft
bezeichnen?
Felten: In Bayern gibt es etwa das System der
Partnerklassen. Da wird eine Förderklasse an einer Regelschule oder in einem
Schulverbund im selben Gebäude geführt. Die Förderschüler lernen mit einer
sonderpädagogischen Lehrkraft nach ihrem Lehrplan, aber in bestimmten Fächern
haben sie gemeinsamen Unterricht mit einer Regelklasse, außerdem gibt es ein
reichhaltiges außerunterrichtliches Schulleben. Manchmal absolvieren auch
Oberstufenschüler ein Pädagogikpraktikum in der besonderen Betreuung einzelner
Förderkinder – es gäbe vieles, das ausbaubar wäre. Wir müssen in der
Inklusionsfrage nach sehr individuellen Lösungen suchen und nicht mit dem
großen Strukturhammer arbeiten, also einfach alle Kinder in dieselbe
unterfinanzierte Einheitsschule stecken.
STANDARD: Deutschland hat sich für diesen radikalen Weg
entschieden. Alle Förderschulen sollen abgeschafft und alle Kinder mit
besonderem Förderbedarf in "normale" Schulen integriert werden.
Offenbar funktioniert es aber nicht wirklich überall gut. In einem
"Zeit"-Newsletter wurde – ausgehend von einer
Bürgerschaftsversammlung in Hamburg zum Thema "Notfall
Inklusionsklassen" – eine Lehrerin so zitiert: "Den Job ertrage ich
nur noch mit Rotwein." Was läuft denn da in den Schulen aus Ihrer Sicht
falsch?
Felten: Da gibt's noch ganz andere Notausgänge
aus dem Inklusionsdilemma. Manche Lehrkräfte lassen sich bereits vorzeitig
pensionieren, weil sie diese permanent überfordernde Situation nicht
verkraften. Oder sie können es mit ihrem pädagogischen Ethos nicht vereinbaren,
dass alle ihre Schützlinge zu kurz kommen, die Schwachen, die Guten, die
Mittleren. Keiner hat etwas von der ganzen Mühe, aber sie müssen es ausführen,
weil es von oben gewollt ist. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
wurde in den einzelnen Bundesländern bisher eben höchst unterschiedlich
vollzogen. Und wo das sehr radikal geschah, stürzten darüber auch schon
Regierungen.
STANDARD: Ihre Position ist klar. Sie interpretieren die
UN-Behindertenrechtskonvention, die ein "inklusives Bildungssystem auf
allen Ebenen" fordert, nicht so, dass das die Abschaffung der
Sonderschulen bedeuten würde. Die neue österreichische Regierung will die
Sonderschulen auch "erhalten und stärken", die vorige rot-schwarze
wollte hingegen die Sonderschulen bis 2020 nur noch als Ausnahmen erhalten. Sie
dagegen fordern: "Sonderschulen dürfen nicht abgeschafft werden."
Warum nicht?
Felten: Die Sonderschule ist für viele Kinder ein wichtiger
Schutz- und Entwicklungsraum, zumindest in bestimmten Phasen. Die UN-Konvention
hatte keineswegs die Absicht, hochspezialisierte Förderinstitutionen
abzuschaffen. Sie wollte vielmehr jedem Kind, egal welcher Behinderung, seinen
Anspruch auf guten Unterricht in der öffentlichen Schule garantieren. Denn in
manchen Ländern, etwa auch Frankreich, waren tausende behinderter Kinder vom
Schulbesuch ausgeschlossen, sie wurden zu Hause gehalten, in der Landarbeit
beschäftigt. In Deutschland und auch Österreich zählen die Sonderschulen aber
zum öffentlichen Schulangebot, als Zweig mit besonderem Unterstützungspotenzial
und spezieller Lehrerexpertise. Und man sollte jedem Kind den jeweils
sinnvollsten Förderort gönnen.
STANDARD: Ihre Lösung haben Sie in Ihrer Schulkolumne auf
"Zeit Online" so umrissen: "So viel Integration wie möglich,
aber so viel Separation wie nötig." Was heißt das?
Felten: In manchen Fällen macht gemeinsames Lernen Sinn, in
anderen sind zeitweise getrennte Wege förderlicher. Auch der renommierte
Sonderpädagoge Otto Speck plädiert für ein dual-inklusives Schulsystem, also
ein zweigleisiges Denken: Es gibt ein Regelschulwesen, das wird ergänzt durch
Spezialschulen oder -klassen als zeitweiligen besonderen Förderort, und
zwischen diesen Säulen schafft man möglichst viel Durchlässigkeit und
Verbindung, Offenheit und Flexibilität. Aber dazu muss man die Lehrkräfte
wieder stärker pädagogisch schulen, die verbreitete Selbstlerneuphorie gehörig
zurückfahren. Es wurden schon Schüler als geistig behindert gemeldet, aber dann
stellte der Fachmann fest: Das Kind hat keineswegs biologische Einschränkungen
– die Lehrkraft teilt jedoch nur noch Arbeitsblätter aus und erklärt nichts
mehr, und es kommt einfach nicht damit zurecht, sich den Stoff selbstgesteuert
aneignen zu müssen. Tatsächlich könnten geschulte Regellehrer manch leichtere,
früh und rechtzeitig erkannte Lernbehinderung oder auch Verhaltensstörung
auffangen. Mit inklusiven Klassen wiederum gibt es dann gute Erfahrungen, wenn
sie kleiner sind als gewöhnliche und wenn ständig ein Sonderpädagoge
mitarbeitet. Auch an gut ausgestatteten Schwerpunktschulen kann Inklusion
funktionieren, zumindest in der Grundschule. Aber jede Behinderungsart an jeder
Schule, das ist unbezahlbar – und hätte auch seine Risiken.
Michael Felten (geb. 1951),
seit 1981 Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln, Lehrbeauftragter an
der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, publizierte 2017 "Die
Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem
ruiniert".
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