Übrigen… ist
«Bildung» eines der im täglichen Diskurs am meisten auftauchenden Wörter. Es
gibt einen «Bildungsboom», «Bildungskanon», «Bildungsforschung»,
«Bildungsplanung» usw. Politiker, Hochschulprofessoren, Lehrer, Ökonomen,
Kirchenleute, Unternehmer: Alle sprechen von «Bildung». Die meisten von ihnen
verstehen aber unter «Bildung» eine zielgerichtete «Aus-bildung» zumeist sehr
enger Kompetenz, die in möglichst kurzer Zeit zu einer - notabene gut bezahlten
- Tätigkeit in Wirtschaft, Handel, Industrie, Gewerbe, Bank, Büro und leider
immer weniger in einem Handwerk befähigt.
Übrigens, Walliser Bote, 19.1. Kolumne von Alois Grichting
Der scharfen Trennung zwischen «Aus-bildung» und «Bildung» möchte ich deshalb diesen Beitrag widmen.
- Wilhelm
von Humboldt (1767-1835). Dabei ist es sinnvoll, uns des deutschen Philosophen,
Staatsmannes, Sprachwissenschafters und Bildungstheoretikers Wilhelm von
Humboldt zu erinnern, dessen 250. Geburtstages man letztes Jahr gedachte. Er
war preussischer Minister, erlebte die napoleonische Kriegszeit (Leipzig 1813,
Waterloo 1815), nahm 1815 als Diplomat am Wiener Kongress teil und arbeitete
auch an der damaligen Neuregelung der von ihm mehrmals besuchten Schweiz mit -
z. B. an den Problemen des einst zu Preussen gehörenden Gebietes Neuenburg.
Humboldt gründete 1809 die Universität Berlin, beherrschte viele Sprachen,
verkehrte auch mit den wichtigsten klassischen Dichtern der deutschen Sprache
und wohnte zuletzt im Familiensitz Schloss Tegel zu Berlin.
- Ein
«Drei-Stufen-System». Humboldt entwarf als Minister ein dreistufiges
allgemeines Bildungssystem aus «Elementarunterricht - Schulunterricht -
Universitätsunterricht». Der «Elementarunterricht» enthielt - etwa auch nach
Pestalozzi - Lehrstoff in der Muttersprache Deutsch, in Mathematik, Lesen,
Schreiben, Zeichnen, Religionsunterricht und in Leibesübungen. Er galt als
allgemeine Grundschule für alle Berufe. Die zweite Stufe «Schulunterricht»
sollte jene Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben lassen, «ohne die
wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich sind». Der Schüler
sollte darin das «Lernen des Lernens» erwerben und durch Leibeserziehung
(gymnastisch), durch Musik und Kunst (ästhetisch) und durch Mathematik,
Naturwissenschaft, Sprachen - unter ihnen auch das streng strukturierende
Latein - wissenschaftsvorbereitende (didaktische) Kenntnisse erlangen. Humboldt
gilt als Begründer des «humanistischen Gymnasiums», bei dem unsere Generation
das Latein seit Jahrzehnten zurückdrängt und dies «Fortschritt» nennt. Humboldt
führte 1810 die Lehramtsprüfung und 1812 die Abiturprüfung (Matura) ein -
Strukturen, die später auch in der Schweiz übernommen wurden. Die dritte Stufe
«Universitätsunterricht» war ihm Lehrveranstaltung ohne Verschulung, wie sie
heute leider nach System Bologna als «Lernen und Vergessen-Kotzen»
(Wissens-Bulimie) abläuft. «Universität» bedeutete Humboldt vor allem Stützung
des eigenen Lernens der Hochschulstudenten und Forschungsförderung.
-
Bildung. Sie ist nach Humboldt nicht das ausschliessliche Vollstopfen mit einheitlich
organisiertem Stoff, mit Kompetenzen und Kenntnissen in Hinblick auf
unmittelbaren Geldfluss. Kenntnisse müssen allerdings auch in seinem Sinne
erworben werden. Bildung ist aber in erster Linie Selbstverwandlung des
einzelnen Menschen, aus der sein menschliches Selbst und seine Identität
entstehen. Diese ermöglichen es, Gründen nachzugehen, Gründe zu prüfen, die
eigenen Neigungen und Wünsche nach den allgemein gültigen Forderungen und
Wahrheiten zu öffnen, sie gegen die allgemeinen Gründe abzuwägen und damit zu
vernünftigen Entscheiden zu kommen. Bildung erschliesst so Orientierung in der
Umwelt, Selbsterkenntnis, Selbstverständnis, freie Selbstbestimmung, moralische
und ethische Empfindungsfähigkeit, poetische, künstlerische Entfaltung und
geschichtliche Erfahrung. Für Humboldt waren deshalb Sprache, Musik, Kunst und
Literatur sehr wichtig. Über die Verstandes- und Erfindungspflege in
Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) hinaus erlaubt
z. B. gerade jungen Menschen die Lektüre von Literatur, Romanen, Geschichte
usw. das Erfassen und das Kennenlernen von guten, bösen, wohlgeordneten,
chaotischen und kritischen Zuständen und Problemen des Menschen, ja der
Menschheit. Sie werden diesen Zuständen in ihrem Erwachsenwerden alsbald begegnen,
an ihnen leiden und sich darin anders als im kühl sachlich wissenschaftlichen
MINT-Bereich bewähren müssen. Fazit: Um menschliche (humane) «Bildung» muss
sich jedermann selbstwerdend bemühen. Sie kann nicht nur als «Ausbildung» mit
einheitlicher «Wissensstopferei» eingetrichtert werden...!
- «Humboldt’scher
Humanismus»? Das Argument, dieser Humanismus hätte in Deutschland das Aufkommen
der Nazis nicht verhindert, ist natürlich irrer Mumpitz. Wie konnten denn
Novalis, Mörike, Goethe, Schiller, Bach, Kant usw. den Verbrecher Hitler
fördern?
Alois
Grichting ist Ingenieur, Volkswirtschafter, Lehrer i. R., Publizist
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