24. Januar 2018

Das "Drei-Stufen-System" Humboldts

Übrigen… ist «Bildung» eines der im täglichen Diskurs am meisten auftauchenden Wörter. Es gibt einen «Bildungsboom», «Bildungskanon», «Bildungsforschung», «Bildungsplanung» usw. Politiker, Hochschulprofessoren, Lehrer, Ökonomen, Kirchenleute, Unternehmer: Alle sprechen von «Bildung». Die meisten von ihnen verstehen aber unter «Bildung» eine zielgerichtete «Aus-bildung» zumeist sehr enger Kompetenz, die in möglichst kurzer Zeit zu einer - notabene gut bezahlten - Tätigkeit in Wirtschaft, Handel, Industrie, Gewerbe, Bank, Büro und leider immer weniger in einem Handwerk befähigt. 
Übrigens, Walliser Bote, 19.1. Kolumne von Alois Grichting


Der scharfen Trennung zwischen «Aus-bildung» und «Bildung» möchte ich deshalb diesen Beitrag widmen.

- Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Dabei ist es sinnvoll, uns des deutschen Philosophen, Staatsmannes, Sprachwissenschafters und Bildungstheoretikers Wilhelm von Humboldt zu erinnern, dessen 250. Geburtstages man letztes Jahr gedachte. Er war preussischer Minister, erlebte die napoleonische Kriegszeit (Leipzig 1813, Waterloo 1815), nahm 1815 als Diplomat am Wiener Kongress teil und arbeitete auch an der damaligen Neuregelung der von ihm mehrmals besuchten Schweiz mit - z. B. an den Problemen des einst zu Preussen gehörenden Gebietes Neuenburg. Humboldt gründete 1809 die Universität Berlin, beherrschte viele Sprachen, verkehrte auch mit den wichtigsten klassischen Dichtern der deutschen Sprache und wohnte zuletzt im Familiensitz Schloss Tegel zu Berlin.

- Ein «Drei-Stufen-System». Humboldt entwarf als Minister ein dreistufiges allgemeines Bildungssystem aus «Elementarunterricht - Schulunterricht - Universitätsunterricht». Der «Elementarunterricht» enthielt - etwa auch nach Pestalozzi - Lehrstoff in der Muttersprache Deutsch, in Mathematik, Lesen, Schreiben, Zeichnen, Religionsunterricht und in Leibesübungen. Er galt als allgemeine Grundschule für alle Berufe. Die zweite Stufe «Schulunterricht» sollte jene Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben lassen, «ohne die wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich sind». Der Schüler sollte darin das «Lernen des Lernens» erwerben und durch Leibeserziehung (gymnastisch), durch Musik und Kunst (ästhetisch) und durch Mathematik, Naturwissenschaft, Sprachen - unter ihnen auch das streng strukturierende Latein - wissenschaftsvorbereitende (didaktische) Kenntnisse erlangen. Humboldt gilt als Begründer des «humanistischen Gymnasiums», bei dem unsere Generation das Latein seit Jahrzehnten zurückdrängt und dies «Fortschritt» nennt. Humboldt führte 1810 die Lehramtsprüfung und 1812 die Abiturprüfung (Matura) ein - Strukturen, die später auch in der Schweiz übernommen wurden. Die dritte Stufe «Universitätsunterricht» war ihm Lehrveranstaltung ohne Verschulung, wie sie heute leider nach System Bologna als «Lernen und Vergessen-Kotzen» (Wissens-Bulimie) abläuft. «Universität» bedeutete Humboldt vor allem Stützung des eigenen Lernens der Hochschulstudenten und Forschungsförderung.

- Bildung. Sie ist nach Humboldt nicht das ausschliessliche Vollstopfen mit einheitlich organisiertem Stoff, mit Kompetenzen und Kenntnissen in Hinblick auf unmittelbaren Geldfluss. Kenntnisse müssen allerdings auch in seinem Sinne erworben werden. Bildung ist aber in erster Linie Selbstverwandlung des einzelnen Menschen, aus der sein menschliches Selbst und seine Identität entstehen. Diese ermöglichen es, Gründen nachzugehen, Gründe zu prüfen, die eigenen Neigungen und Wünsche nach den allgemein gültigen Forderungen und Wahrheiten zu öffnen, sie gegen die allgemeinen Gründe abzuwägen und damit zu vernünftigen Entscheiden zu kommen. Bildung erschliesst so Orientierung in der Umwelt, Selbsterkenntnis, Selbstverständnis, freie Selbstbestimmung, moralische und ethische Empfindungsfähigkeit, poetische, künstlerische Entfaltung und geschichtliche Erfahrung. Für Humboldt waren deshalb Sprache, Musik, Kunst und Literatur sehr wichtig. Über die Verstandes- und Erfindungspflege in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) hinaus erlaubt z. B. gerade jungen Menschen die Lektüre von Literatur, Romanen, Geschichte usw. das Erfassen und das Kennenlernen von guten, bösen, wohlgeordneten, chaotischen und kritischen Zuständen und Problemen des Menschen, ja der Menschheit. Sie werden diesen Zuständen in ihrem Erwachsenwerden alsbald begegnen, an ihnen leiden und sich darin anders als im kühl sachlich wissenschaftlichen MINT-Bereich bewähren müssen. Fazit: Um menschliche (humane) «Bildung» muss sich jedermann selbstwerdend bemühen. Sie kann nicht nur als «Ausbildung» mit einheitlicher «Wissensstopferei» eingetrichtert werden...! 

- «Humboldt’scher Humanismus»? Das Argument, dieser Humanismus hätte in Deutschland das Aufkommen der Nazis nicht verhindert, ist natürlich irrer Mumpitz. Wie konnten denn Novalis, Mörike, Goethe, Schiller, Bach, Kant usw. den Verbrecher Hitler fördern?


Alois Grichting ist Ingenieur, Volkswirtschafter, Lehrer i. R., Publizist 

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