25. Januar 2018

Generation Frühfranzösisch hat auch beim Lesen Mühe

Weniger Grammatikkenntnisse, dafür ein besseres Lese­verständnis: So werden die Sprachkompetenzen der ­Generation Frühfranzösisch generell umschrieben. Eine Studie zeigt jetzt allerdings: Nicht einmal beim Lesen bringt die Reform Vorteile.
Frühfranzösisch: Schüler sind auch im Lesen schlecht, Berner Zeitung, 25.1. von Marius Aschwanden

Wann immer in den letzten Jahren Kritik am vorverschobenen Französischunterricht laut wurde, reagierten die Verantwort­lichen gleich: Die Schüler würden nicht weniger, sondern einfach anders lernen, hiess es stets. So seien die Kinder und Jugend­lichen womöglich weniger gut in Grammatik und hätten einen kleineren Wortschatz, dafür würden sie geschriebene Texte besser verstehen.
Für die Gegner der Sprachreform sowie besorgte ­Eltern hingegen war immer klar: Diejenigen Kinder, die Französisch bereits ab der 3. Klasse ­büffeln, beherrschen die Fremdsprache generell schlechter als jene, die erst in der 5. Klasse gestartet sind.
Schuld daran seien die neuen Lehrmittel «Mille ­feuilles» und «Clin d’œil». Wer recht hat, gleicht einer Glaubensfrage. Konkrete Forschungsergebnisse liegen nicht vor, eine abschliessende offizielle Evaluation durch das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg folgt erst 2021.
Einer Lehrerin ging das im Rahmen ihres Zweitstudiums offenbar zu lange. Sie wollte einen Beitrag zur «Verkleinerung dieser Forschungslücke» leisten und verglich in ihrer Masterarbeit an der Uni Freiburg das Leseverständnis der «Generation Frühfranzösisch» mit jenem der «Generation ‹Bonne chance›». Das Resultat: Erstere verstehen geschriebene Texte nicht etwa besser, sondern schlechter.
Ernüchterndes Fazit
Die Studentin verglich für ihre mit summa cum laude ausgezeichnete Arbeit Anfang des letzten Jahres 473 Realschüler in 35 Klassen verteilt über den gesamten Kanton Bern. Rund die Hälfte der Jugendlichen gehörte zum letzten Jahrgang, der noch mit «Bonne chance» unterrichtet wurde, die andere Hälfte zum ­ersten Jahrgang mit dem neuen Lehrmittel. Alle hatten mit 588 Französischlektionen dieselbe Anzahl Unterrichtsstunden hinter sich. Die Schüler mit «Clin d’œil» besuchten die 8. Klasse, jene mit dem alten Lehrbuch die 9. Klasse.
Eine abschliessende offizielle Evaluation durch das Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg folgt erst 2021. 
Alle Jugendlichen absolvierten einen Test, bei dem sie Fragen über vier verschiedene geschriebene Texte beantworten mussten. Zudem wurde untersucht, welche Strategien sie zum Verstehen der Französischtexte anwenden. Beides sind Kompetenzen, die mit dem neuen Lehrmittel gezielt gefördert werden sollen.
Nach der Analyse der Resultate zog die Studentin ein ernüchterndes Fazit: Sowohl beim Erfassen der Hauptaussage als auch beim gezielten Herausfiltern von Informationen schnitten die «Bonne Chance»-Schüler um zehn Prozent besser ab.
Unterschiede entdeckte die Studentin auch bei der Anwendung von Strategien wie etwa dem Herleiten von Wörtern aus dem Kontext. Die Frühfranzösischschüler konnten zwar leicht mehr solche Strategien aufzählen und gaben auch an, mehr von diesen genutzt zu haben. Tatsächlich erfolgreich angewandt haben solche Strategien aber häufiger die «Bonne chance»-Schüler.
Zu wenig Struktur
Dass die Schüler unter dem neuen Fremdsprachenregime trotz Strategietraining und Vertrautheit mit authentischen Texten schlechtere Resultate erzielten, erklärt die Studentin unter anderem mit der «untergeordneten Rolle von Wortschatz und Grammatik» im neuen Lehrmittel. Denn solche Sprachenkentnisse hätten gemäss früheren Studien den grössten Einfluss auf das Leseverständnis.
Eine weitere Erklärung könne auch der frühere Fremdsprachenunterricht selber sein. «Womöglich ist dieser ineffizient», schreibt die Studentin und verweist auf andere Studien. Schliesslich wäre aber auch denkbar, dass der obligatorische Englischunterricht parallel zum Französisch die Realschüler überfordere.
Sowohl beim Erfassen der Hauptaussage als auch beim gezielten Herausfiltern von Informationen schnitten die «Bonne Chance»-Schüler um zehn Prozent besser ab. 
Einen Erklärungsansatz liefert die Arbeit auch für die Tatsache, dass die meisten Lehrer der untersuchten Klassen das Können der Schüler falsch einschätzen. Da den Frühfranzösisch­jugendlichen von den Verantwortlichen für die Fremdsprachenreform ein besseres Lese­verständnis zugeschrieben wird, könnten die Lehrer etwas wahrnehmen, «das sie denken, wahrnehmen zu müssen, oder das sie wahrzunehmen wünschen», steht in der Masterarbeit. Und weiter: «Die Befunde deuten darauf hin, dass eine Anpassung der Reform notwendig ist.»
Kritiker sehen sich bestätigt
Egal, wo nun genau die Gründe für das schlechtere Abschneiden der «Clin d’œil»-Schüler liegen: Die Masterarbeit ist Wasser auf die Mühlen der Frühfranzösischkritiker. Eine von ihnen, SVP-Grossrätin Sabina Geissbühler (Herrenschwanden), hat denn auch bereits reagiert und eine Interpellation eingereicht. Darin will sie vom Berner Regierungsrat wissen, welche Konsequenzen er aus der Arbeit ziehe.
Geissbühler hat von Beginn ab gegen das Frühfranzösisch gekämpft und in verschiedenen Vorstössen Studien mit Vergleichsklassen gefordert – ohne Erfolg. Die nun vorliegende Masterarbeit ist für sie eine Bestätigung für die «Untauglichkeit der Lehrmittel». Das eigentliche Ziel, sich auf Fran­zösisch verständigen zu können, werde komplett verfehlt. «Das führt bei Kindern und Eltern zu Frustration», so Geissbühler. Sie kritisiert zudem die hohen Kosten für die zusätzlichen Lektionen, die offensichtlich nichts bringen würden.
«Es wäre eine Illusion, zu meinen, ein solches Projekt gehe ohne Probleme über die Bühne.»Bernhard Pulver, Erziehungsdirektor
Keine Freude an den Erkenntnissen aus Freiburg dürften die Befürworter des Frühfranzösisch haben. Der Berner Erziehungs­direktor Bernhard Pulver (Grüne) sagt denn auch, dass es einige methodische Fragezeichen bei der Arbeit gebe. «Der Spracherwerb geschieht nicht linear, sondern in Sprüngen. Da kann es sein, dass zwischen der 8. und der 9. Klasse noch viel geschieht.»
Er erhalte zudem sehr unterschiedliche Rückmeldungen bezüglich des Leseverständnisses. Die Franzlehrer etwa, welche die Aufnahmeprüfung für die Gymnasien betreut hätten, seien positiv überrascht gewesen ob der Kenntnisse der Schüler.
Pulver rät zur Geduld
Trotzdem nehme Pulver die Ergebnisse ernst und hoffe, dass die bereits in Auftrag gegebene Überarbeitung des Lehrmittels auch beim Leseverständnis Verbesserungen bringe. Eine Abkehr von der Reform kommt für ihn nicht infrage. «Wir müssen ein wenig Geduld haben. Es wäre eine Illusion, zu meinen, ein solches Projekt gehe ohne Probleme über die Bühne.»
Gleichzeitig rechnet Pulver aber auch damit, die gesteckten Ziele in den nächsten Jahren tatsächlich noch nicht zu erreichen. Damit das abschliessend beurteilt werden kann, müssten aber die Ergebnisse der offiziellen wissenschaftlichen Evaluation abgewartet werden.



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