Weniger
Grammatikkenntnisse, dafür ein besseres Leseverständnis: So werden die
Sprachkompetenzen der Generation Frühfranzösisch generell umschrieben. Eine
Studie zeigt jetzt allerdings: Nicht einmal beim Lesen bringt die Reform Vorteile.
Frühfranzösisch: Schüler sind auch im Lesen schlecht, Berner Zeitung, 25.1. von Marius Aschwanden
Wann immer in
den letzten Jahren Kritik am vorverschobenen Französischunterricht laut wurde,
reagierten die Verantwortlichen gleich: Die Schüler würden nicht weniger,
sondern einfach anders lernen, hiess es stets. So seien die Kinder und Jugendlichen
womöglich weniger gut in Grammatik und hätten einen kleineren Wortschatz, dafür
würden sie geschriebene Texte besser verstehen.
Für die
Gegner der Sprachreform sowie besorgte Eltern hingegen war immer klar:
Diejenigen Kinder, die Französisch bereits ab der 3. Klasse büffeln,
beherrschen die Fremdsprache generell schlechter als jene, die erst in der 5.
Klasse gestartet sind.
Schuld daran
seien die neuen Lehrmittel «Mille feuilles» und «Clin d’œil». Wer recht hat,
gleicht einer Glaubensfrage. Konkrete Forschungsergebnisse liegen nicht vor,
eine abschliessende offizielle Evaluation durch das Institut für
Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg folgt erst 2021.
Einer
Lehrerin ging das im Rahmen ihres Zweitstudiums offenbar zu lange. Sie wollte
einen Beitrag zur «Verkleinerung dieser Forschungslücke» leisten und verglich
in ihrer Masterarbeit an der Uni Freiburg das Leseverständnis der «Generation
Frühfranzösisch» mit jenem der «Generation ‹Bonne chance›». Das Resultat:
Erstere verstehen geschriebene Texte nicht etwa besser, sondern schlechter.
Ernüchterndes Fazit
Die Studentin
verglich für ihre mit summa cum laude ausgezeichnete Arbeit Anfang des letzten
Jahres 473 Realschüler in 35 Klassen verteilt über den gesamten Kanton
Bern. Rund die Hälfte der Jugendlichen gehörte zum letzten Jahrgang, der noch
mit «Bonne chance» unterrichtet wurde, die andere Hälfte zum ersten Jahrgang
mit dem neuen Lehrmittel. Alle hatten mit 588 Französischlektionen dieselbe
Anzahl Unterrichtsstunden hinter sich. Die Schüler mit «Clin d’œil» besuchten
die 8. Klasse, jene mit dem alten Lehrbuch die 9. Klasse.
Eine abschliessende offizielle Evaluation durch das Institut für
Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg folgt erst 2021.
Alle
Jugendlichen absolvierten einen Test, bei dem sie Fragen über vier verschiedene
geschriebene Texte beantworten mussten. Zudem wurde untersucht, welche
Strategien sie zum Verstehen der Französischtexte anwenden. Beides sind
Kompetenzen, die mit dem neuen Lehrmittel gezielt gefördert werden sollen.
Nach der Analyse
der Resultate zog die Studentin ein ernüchterndes Fazit: Sowohl beim Erfassen
der Hauptaussage als auch beim gezielten Herausfiltern von Informationen
schnitten die «Bonne Chance»-Schüler um zehn Prozent besser ab.
Unterschiede
entdeckte die Studentin auch bei der Anwendung von Strategien wie etwa dem
Herleiten von Wörtern aus dem Kontext. Die Frühfranzösischschüler konnten zwar
leicht mehr solche Strategien aufzählen und gaben auch an, mehr von diesen
genutzt zu haben. Tatsächlich erfolgreich angewandt haben solche Strategien
aber häufiger die «Bonne chance»-Schüler.
Zu wenig Struktur
Dass die
Schüler unter dem neuen Fremdsprachenregime trotz Strategietraining und
Vertrautheit mit authentischen Texten schlechtere Resultate erzielten, erklärt
die Studentin unter anderem mit der «untergeordneten Rolle von Wortschatz und
Grammatik» im neuen Lehrmittel. Denn solche Sprachenkentnisse hätten gemäss
früheren Studien den grössten Einfluss auf das Leseverständnis.
Eine weitere
Erklärung könne auch der frühere Fremdsprachenunterricht selber sein.
«Womöglich ist dieser ineffizient», schreibt die Studentin und verweist auf
andere Studien. Schliesslich wäre aber auch denkbar, dass der obligatorische
Englischunterricht parallel zum Französisch die Realschüler überfordere.
Sowohl beim Erfassen der Hauptaussage als auch beim gezielten
Herausfiltern von Informationen schnitten die «Bonne Chance»-Schüler um zehn
Prozent besser ab.
Einen
Erklärungsansatz liefert die Arbeit auch für die Tatsache, dass die meisten
Lehrer der untersuchten Klassen das Können der Schüler falsch einschätzen. Da
den Frühfranzösischjugendlichen von den Verantwortlichen für die
Fremdsprachenreform ein besseres Leseverständnis zugeschrieben wird, könnten
die Lehrer etwas wahrnehmen, «das sie denken, wahrnehmen zu müssen, oder das
sie wahrzunehmen wünschen», steht in der Masterarbeit. Und weiter: «Die Befunde
deuten darauf hin, dass eine Anpassung der Reform notwendig ist.»
Kritiker sehen sich bestätigt
Egal, wo nun
genau die Gründe für das schlechtere Abschneiden der «Clin d’œil»-Schüler
liegen: Die Masterarbeit ist Wasser auf die Mühlen der Frühfranzösischkritiker.
Eine von ihnen, SVP-Grossrätin Sabina Geissbühler (Herrenschwanden), hat denn
auch bereits reagiert und eine Interpellation eingereicht. Darin will sie vom
Berner Regierungsrat wissen, welche Konsequenzen er aus der Arbeit ziehe.
Geissbühler
hat von Beginn ab gegen das Frühfranzösisch gekämpft und in verschiedenen
Vorstössen Studien mit Vergleichsklassen gefordert – ohne Erfolg. Die nun vorliegende
Masterarbeit ist für sie eine Bestätigung für die «Untauglichkeit der
Lehrmittel». Das eigentliche Ziel, sich auf Französisch verständigen zu
können, werde komplett verfehlt. «Das führt bei Kindern und Eltern zu
Frustration», so Geissbühler. Sie kritisiert zudem die hohen Kosten für die
zusätzlichen Lektionen, die offensichtlich nichts bringen würden.
«Es wäre eine Illusion, zu meinen, ein solches Projekt gehe ohne
Probleme über die Bühne.»Bernhard
Pulver, Erziehungsdirektor
Keine Freude
an den Erkenntnissen aus Freiburg dürften die Befürworter des Frühfranzösisch
haben. Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) sagt denn auch,
dass es einige methodische Fragezeichen bei der Arbeit gebe. «Der Spracherwerb
geschieht nicht linear, sondern in Sprüngen. Da kann es sein, dass zwischen der
8. und der 9. Klasse noch viel geschieht.»
Er erhalte
zudem sehr unterschiedliche Rückmeldungen bezüglich des Leseverständnisses. Die
Franzlehrer etwa, welche die Aufnahmeprüfung für die Gymnasien betreut hätten,
seien positiv überrascht gewesen ob der Kenntnisse der Schüler.
Pulver rät zur Geduld
Trotzdem
nehme Pulver die Ergebnisse ernst und hoffe, dass die bereits in Auftrag
gegebene Überarbeitung des Lehrmittels auch beim Leseverständnis Verbesserungen
bringe. Eine Abkehr von der Reform kommt für ihn nicht infrage. «Wir müssen ein
wenig Geduld haben. Es wäre eine Illusion, zu meinen, ein solches Projekt gehe
ohne Probleme über die Bühne.»
Gleichzeitig
rechnet Pulver aber auch damit, die gesteckten Ziele in den nächsten Jahren
tatsächlich noch nicht zu erreichen. Damit das abschliessend beurteilt werden
kann, müssten aber die Ergebnisse der offiziellen wissenschaftlichen Evaluation
abgewartet werden.
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