7. Januar 2018

Aus den Fehlern anderer lernen

Nicht nur Schweizer Lehrpersonen sind auf allen Bildungsstufen mit dem Kompetenzbegriff konfrontiert und überlegen, was er an Neuerungen, Verbesserungen oder Einbussen mit sich bringen könnte. In Deutschland und Österreich ist die Kompetenzorientierung schon lange an den Hochschulen angekommen, wo sie herbe Kritik provoziert. Dass diese Neuorientierung dort den gesamten Bildungsbereich durcheinander und eben auch aufgebracht hat, zeigte eine anderthalbtägige Konferenz prominenter Vertreter/-innen aus Hochschule und Politik, die Anfang Juli in Frankfurt stattgefunden hat. Auf der 1. (In-) Kompetenzkonferenz hielten Hochschullehrer/-innen aus sieben Fakultäten, darunter der Präsident des deutschen Hochschullehrerverbandes, sowie ein bundesdeutscher Minister Vorträge zur Kompetenzorientierung in der Bildung und diskutierten ihre Erkenntnisse mit ca. 250 Teilnehmern aus allen deutschsprachigen Ländern.

Bilder: Gymnasium Helveticum
Kompetenzorientierung als Sündenfall in der Pädagogik? Gymnasium Helveticum 5/2017 von Gabriela Trutmann und Yasemin Kanele

Die Tagung mag an Kritik nur wenig Neues gebracht haben, doch haben die Vorträge gezeigt, dass die Auswirkungen der Kompetenzorientierung auf die Hochschule, die Freiheit von Lehre und Forschung und insbesondere die Ausbildung der Lehrer auf breiter Ebene als enormer Qualitätsverlust wahrgenommen werden. Prof. Liessmann aus Wien sprach gar von der Kompetenzorientierung als «Sündenfall in der Pädagogik». Nun wird ein Stopp von Hochschulseite gefordert. Im Folgenden werden jene Ergebnisse aus den neun Referaten dargestellt, die unbestritten waren.

Wurzel und Problematik der Kompetenzorientierung
Sämtliche Referenten sahen die Kompetenzorientierung als Resultat der Ökonomisierung der Bildung. Die OECD hat Ende der 1990er-Jahre diese Entwicklung mit der Einführung der PISA-Tests rasant beschleunigt: «Die PISA-Aufgaben erfassen, inwieweit Schüler/-innen in der Lage sind, alltagsrelevante Probleme effektiv zu analysieren, ihre Lösungen zu begründen und darzulegen. Reines Faktenwissen spielt dabei eine untergeordnete Rolle. [...] Die Ergebnisse aus der Studie dienen den Teilnehmerstaaten als Grundlage von schulpolitischen Entscheidungen sowie zur Einschätzung und Kontrolle der Effektivität des jeweiligen Bildungssystems.»1

In die gleiche Richtung geht die Bologna-Reform, die Bildung in verschiedenen Ländern ohne Rücksicht auf unterschiedliche Bildungsbedürfnisse und -traditionen vergleichbar machen will.

Weinerts Kompetenzdefinition als Grundlage einer flächendeckenden Neuausrichtung der Bildung in der Kritik
Die Kompetenzorientierung geht von der Definition Franz E. Weinerts2 aus: Kompetenzen sind «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können».

Kritisiert wurde, dass allein die Problemlösung zum Ziel aller Bildungsprozesse wird und die Steuerung des Willens des Lernenden anvisiert wird. Die erworbenen Fähigkeiten werden von Inhalten entkoppelt, da sie in variablen Situationen anwendbar sein sollen. Reine Neugierde und ungerichteter Drang nach Erkenntnisgewinn – bislang Motor der Wissenschaften – werden verdrängt.

Auswirkungen auf Lehre und Unterricht
Festgestellt wurden Auswirkungen auf den Bildungsbegriff im Allgemeinen:
• Bildung richtet sich ausschliesslich am Prinzip der Nützlichkeit aus und ist rein handlungsorientiert.
• Fächer mit anderen Zugängen zur Welt als der unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit geraten immer mehr ins Aus.
• Statt Persönlichkeitsentwicklung rückt die Verwertbarkeit der Lernenden in der Wirtschaft ins Zentrum.
• Wissen trägt seinen Zweck nicht mehr in sich selbst, sondern ist Mittel zur Kompetenzgewinnung.
• Fach- und Sachinhalte werden bewusst vage gehalten.

Auf die Schulen:
• Lehrpläne und Didaktik richten sich auf messbaren Output aus. Lehrpläne werden in Kompetenzstufen und tausende von Einzelkompetenzen gegliedert, die in dieser Zahl nicht umsetzbar sind.
• Lehrer/-innen fungieren nicht als Wissensvermittler, sondern als reine Lernbegleiter (Coaches).
• Ziel ist, Probleme sofort lösen zu können, aber nicht, diese in Frage zu stellen.
• Verzicht auf Wissen und Verstehen und Anspruch auf Transfer in den einfachen Alltag banalisieren komplexe Inhalte und verhindern den Blick auf Phänomene ausserhalb des unmittelbar Nützlichen. Dieser Trend hat dazu geführt, dass Aufgaben in Zentralabituren ohne Fachwissen lösbar geworden sind: Eine Abiturklausur des Leistungskurses Biologie wurde versuchsweise einer 9. Klasse eines Gymnasiums in Nordrhein-Westfalen vorgelegt. Thema und Aufgabenstellung waren den Schülern vorher nicht bekannt. Von 27 Schülern erhielten 23 die Noten ausreichend bis sehr gut.3
• Vom Credo, nur fachwissenschaftliche Quellentexte in den Naturwissenschaften zu verwenden, hat man sich entfernt: So wurden 2014 in Hamburg der Abiturprü- fung in Biologie Texte aus einer Tourismuswebseite mit fachwissenschaftlich falschen Aussagen zugrundegelegt.
• Gute Noten allgemein und Abiture mit Bestnoten nehmen überdurchschnittlich zu.4

Auf die Hochschulen:
• Die Hochschulen empfinden sich als Anhängsel der Wirtschaftspolitik. • Sie sind unter Bolognas Vergleichbarkeitsdiktat extrem verschult worden.
• Problemorientierung führt weg von Wissenschaftsorientierung.
• Die Segmentierung der Bildung durch stark modularisierte Studiengänge erschwert Studierenden individuelles Vertiefen einzelner Bereiche. Zugleich hat sich der Prüfungsumfang verringert und kann ohne grösseren Überblick über ein Fachgebiet bewältigt werden.
• Die Modularisierung hat 18000 Studiengänge geschaffen und dadurch das Kernziel von Bologna, den internationalen Austausch für Studierende zu vereinfachen, ad absurdum geführt.
• An den Hochschulen findet eine Entkopplung statt: Man ist sich bewusst, dass die Kompetenzorientierung nur einen kleinen  Teil der Trias «gewusst, was», «gewusst, wie» und «gewusst, warum» abdeckt. Nach aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen Pragmatismus und oft Ablehnung.

Auf die Lehrerausbildung:
• Didaktik, Methodik und Präsentation ersetzen schleichend Wissen und Inhalte: In Österreich ist der fachwissenschaftliche Bereich so weit in den Hintergrund getreten, dass die Lehrerausbildung von den Referenten als katastrophal eingeschätzt wurde. In Deutschland wurde die didaktische Ausbildung auf Kosten der fachwissenschaftlichen von 10% auf heute 33–46 % ausgebaut.
• Vielen Lehrern fehlt nun der fachwissenschaftliche Hintergrund. Sie sind auf aufbereitetes didaktisches Material angewiesen, dessen fachliche Richtigkeit sie oft nicht beurteilen können. Aufgabenpools staatlicher Bildungsinstitute5 enthalten triviale Aufgabenstellungen, deren überdidaktisierte Kommentare fachliche Ansprüche erheben, die die Aufgaben nicht erfüllen.6
• Beim Testen ist allgemein problematisch, die Kompetenzstufen klar voneinander abzugrenzen: Wann ist die Kompetenzstufe III bei einem 6-Jährigen erreicht, wann bei einem Abiturienten?

Lösungsansätze
Es herrschte Einigkeit in der Forderung, das Können sei wieder nach dem Wissen auszurichten, nicht umgekehrt. So wäre am Beispiel des Literaturunterrichts zu überlegen, welche Texte Lernende gelesen und verstanden haben sollten; erst danach sei zu fragen, welches Wissen und welche Kompetenzen sie für deren Verständnis bräuchten. Nicht jede Form des Wissens könne sofort angewendet werden, manches gehe vergessen oder unterliege einer gewissen «Halbwertszeit». Der Erwerb sei dennoch nicht sinnlos: «Nach dem Vergessen bin ich ein anderer als vorher», so Prof. Liessmann. Neugier für die Sache als eigentliche Motivation zum Erkenntnisgewinn bedürfe einer Wiederbelebung in Unterricht und Lehrerausbildung. Kompetenzorientierung löse im Lernenden weder Neugier noch Enthusiasmus aus.

Biologiedidaktiker Prof. Klein forderte, die fachwissenschaftliche Lehrerausbildung zu stärken und das Verhältnis von stark reduzierter Fachwissenschaft und ausgebauter Didaktik zu korrigieren. Die Lehrpersonen sollen ihren Unterricht jenseits der aufgezeigten Absurditäten gestalten und von den Lehrerverbänden gestützt werden, falls sie deswegen unter Druck geraten.

Von politischen Amtsträgern wird erwartet, dass sie die Wissenschaften und ihre Freiheiten stärken. Der deutsche Hochschullehrerverband, so der Verbandspräsident Prof. Kempen, setze sich explizit für eine Rückbesinnung auf den Humboldt’schen Bildungsbegriff ein. Der Vorschlag, juristische Schritte auf verfassungsrechtlicher Ebene zu ergreifen, sei zu prüfen. Trotz fachlicher Überlegenheit könne die Hochschule lediglich über das Mittel des Arguments auf die Öffentlichkeit einwirken. Widerstand und Druck von aussen, betonte auch Mathematikprof. Bandelt, mache Eindruck auf die politisch Verantwortlichen. Das Beispiel der G9-Bewegung7 in Nordrhein-Westfalen zeige, so Finanz- und ehemaliger Bildungsminister Brodkorb, die Macht der Eltern und der Öffentlichkeit. Die Politik beginne umzudenken.

Schlussfolgerungen für das Schweizer Bildungswesen
Die Relevanz des Tagungsthemas für die Schweiz liegt auf der Hand. Der Trend hat unser Bildungswesen bereits voll erfasst: Bologna ist Realität an den Hochschulen; die Pisa-Ergebnisse werden jedes Jahr mit Bangen erwartet; harmonisiert wird in den Kantonen mittels kompetenzorientiertem Lehrplan 21; die aufwendigen Bemühungen der EDK, die gymnasiale Bildung den internationalen Forderungen anzugleichen, brachten Projekte wie «Gemeinsam prüfen» und das der «Basalen fachlichen Kompetenzen in der Erstsprache und in Mathematik» hervor, deren Umsetzung wir uns gerade stellen.

Wollen wir den Gefahren des Niveauverlustes und der Verflachung der Bildung entgehen und fachwissenschaftliche Inhalte vor der Didaktisierung retten, so sollten wir all unsere Bemühungen auf ein gesundes Austarieren von Kompetenzen und Fachwissen richten. Denn bei allem Reformeifer sollten wir nicht vergessen: Wir können aus den Fehlern anderer lernen.

1 https://www.bifie.at/pisa
2 F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel, 2001, S. 27f.
3 H. P. Klein, Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen, Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel, zu Klampen Verlag, 2016, S. 19–24.
4 Artikel ZEIT ONLINE vom 12.5.16: http://www. zeit.de/2016/19/abitur-bestnoten-pruefungenschnitt-leistung; Kultusminister Konferenz, Statistik Abiturnoten im Ländervergleich: https://www.kmk.org/dokumentation-undstatistik/statistik/schulstatistik/abiturnoten.html
5 Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (D) und Bundesinstitut für Bildungswesen, Innovation und Entwicklung (A)
6 Beispiel Temperaturmessung (Physik): https://aufgabenpool.bifie.at/nawi/index. php?action=14&cmd=1&sbm_search=1& faecher[]=4&rc=12&offset=10
7 Volksinitiative zur Erhöhung der Gymnasialdauer von 8 auf 9 Jahre


Gabriela Trutmann unterrichtet Latein und Griechisch an der Kantonsschule Zürich Nord. Sie ist Präsidentin des Forums Alte Sprachen Zürich. Yasemin Kanele ist Gymnasiallehrerin für das Fach Deutsch an der Kantonsschule Zürich Nord.

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