Nicht
nur Schweizer Lehrpersonen sind auf allen Bildungsstufen mit dem
Kompetenzbegriff konfrontiert und überlegen, was er an Neuerungen,
Verbesserungen oder Einbussen mit sich bringen könnte. In Deutschland und
Österreich ist die Kompetenzorientierung schon lange an den Hochschulen
angekommen, wo sie herbe Kritik provoziert. Dass diese Neuorientierung dort den
gesamten Bildungsbereich durcheinander und eben auch aufgebracht hat, zeigte
eine anderthalbtägige Konferenz prominenter Vertreter/-innen aus Hochschule und
Politik, die Anfang Juli in Frankfurt stattgefunden hat. Auf der 1. (In-)
Kompetenzkonferenz hielten Hochschullehrer/-innen aus sieben Fakultäten,
darunter der Präsident des deutschen Hochschullehrerverbandes, sowie ein
bundesdeutscher Minister Vorträge zur Kompetenzorientierung in der Bildung und
diskutierten ihre Erkenntnisse mit ca. 250 Teilnehmern aus allen
deutschsprachigen Ländern.
Bilder: Gymnasium Helveticum
Kompetenzorientierung als Sündenfall in der Pädagogik? Gymnasium Helveticum 5/2017 von Gabriela Trutmann und Yasemin Kanele
Die
Tagung mag an Kritik nur wenig Neues gebracht haben, doch haben die Vorträge
gezeigt, dass die Auswirkungen der Kompetenzorientierung auf die Hochschule,
die Freiheit von Lehre und Forschung und insbesondere die Ausbildung der Lehrer
auf breiter Ebene als enormer Qualitätsverlust wahrgenommen werden. Prof.
Liessmann aus Wien sprach gar von der Kompetenzorientierung als «Sündenfall in
der Pädagogik». Nun wird ein Stopp von Hochschulseite gefordert. Im Folgenden
werden jene Ergebnisse aus den neun Referaten dargestellt, die unbestritten
waren.
Wurzel und Problematik der
Kompetenzorientierung
Sämtliche
Referenten sahen die Kompetenzorientierung als Resultat der Ökonomisierung der
Bildung. Die OECD hat Ende der 1990er-Jahre diese Entwicklung mit der
Einführung der PISA-Tests rasant beschleunigt: «Die PISA-Aufgaben erfassen,
inwieweit Schüler/-innen in der Lage sind, alltagsrelevante Probleme effektiv
zu analysieren, ihre Lösungen zu begründen und darzulegen. Reines Faktenwissen
spielt dabei eine untergeordnete Rolle. [...] Die Ergebnisse aus der Studie
dienen den Teilnehmerstaaten als Grundlage von schulpolitischen Entscheidungen
sowie zur Einschätzung und Kontrolle der Effektivität des jeweiligen
Bildungssystems.»1
In die
gleiche Richtung geht die Bologna-Reform, die Bildung in verschiedenen Ländern
ohne Rücksicht auf unterschiedliche Bildungsbedürfnisse und -traditionen
vergleichbar machen will.
Weinerts Kompetenzdefinition als Grundlage
einer flächendeckenden Neuausrichtung der Bildung in der Kritik
Die
Kompetenzorientierung geht von der Definition Franz E. Weinerts2 aus:
Kompetenzen sind «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren
kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie
die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften
und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich
und verantwortungsvoll nutzen zu können».
Kritisiert
wurde, dass allein die Problemlösung zum Ziel aller Bildungsprozesse wird und
die Steuerung des Willens des Lernenden anvisiert wird. Die erworbenen
Fähigkeiten werden von Inhalten entkoppelt, da sie in variablen Situationen
anwendbar sein sollen. Reine Neugierde und ungerichteter Drang nach
Erkenntnisgewinn – bislang Motor der Wissenschaften – werden verdrängt.
Auswirkungen auf Lehre und Unterricht
Festgestellt
wurden Auswirkungen auf den Bildungsbegriff im Allgemeinen:
•
Bildung richtet sich ausschliesslich am Prinzip der Nützlichkeit aus und ist
rein handlungsorientiert.
•
Fächer mit anderen Zugängen zur Welt als der unmittelbaren ökonomischen
Verwertbarkeit geraten immer mehr ins Aus.
• Statt
Persönlichkeitsentwicklung rückt die Verwertbarkeit der Lernenden in der
Wirtschaft ins Zentrum.
•
Wissen trägt seinen Zweck nicht mehr in sich selbst, sondern ist Mittel zur
Kompetenzgewinnung.
• Fach-
und Sachinhalte werden bewusst vage gehalten.
Auf die
Schulen:
•
Lehrpläne und Didaktik richten sich auf messbaren Output aus. Lehrpläne werden
in Kompetenzstufen und tausende von Einzelkompetenzen gegliedert, die in dieser
Zahl nicht umsetzbar sind.
•
Lehrer/-innen fungieren nicht als Wissensvermittler, sondern als reine
Lernbegleiter (Coaches).
• Ziel
ist, Probleme sofort lösen zu können, aber nicht, diese in Frage zu stellen.
•
Verzicht auf Wissen und Verstehen und Anspruch auf Transfer in den einfachen
Alltag banalisieren komplexe Inhalte und verhindern den Blick auf Phänomene
ausserhalb des unmittelbar Nützlichen. Dieser Trend hat dazu geführt, dass
Aufgaben in Zentralabituren ohne Fachwissen lösbar geworden sind: Eine
Abiturklausur des Leistungskurses Biologie wurde versuchsweise einer 9. Klasse
eines Gymnasiums in Nordrhein-Westfalen vorgelegt. Thema und Aufgabenstellung
waren den Schülern vorher nicht bekannt. Von 27 Schülern erhielten 23 die Noten
ausreichend bis sehr gut.3
• Vom
Credo, nur fachwissenschaftliche Quellentexte in den Naturwissenschaften zu
verwenden, hat man sich entfernt: So wurden 2014 in Hamburg der Abiturprü- fung
in Biologie Texte aus einer Tourismuswebseite mit fachwissenschaftlich falschen
Aussagen zugrundegelegt.
• Gute
Noten allgemein und Abiture mit Bestnoten nehmen überdurchschnittlich zu.4
Auf die
Hochschulen:
• Die
Hochschulen empfinden sich als Anhängsel der Wirtschaftspolitik. • Sie sind
unter Bolognas Vergleichbarkeitsdiktat extrem verschult worden.
•
Problemorientierung führt weg von Wissenschaftsorientierung.
• Die
Segmentierung der Bildung durch stark modularisierte Studiengänge erschwert
Studierenden individuelles Vertiefen einzelner Bereiche. Zugleich hat sich der
Prüfungsumfang verringert und kann ohne grösseren Überblick über ein Fachgebiet
bewältigt werden.
• Die
Modularisierung hat 18000 Studiengänge geschaffen und dadurch das Kernziel von
Bologna, den internationalen Austausch für Studierende zu vereinfachen, ad
absurdum geführt.
• An
den Hochschulen findet eine Entkopplung statt: Man ist sich bewusst, dass die
Kompetenzorientierung nur einen kleinen Teil
der Trias «gewusst, was», «gewusst, wie» und «gewusst, warum» abdeckt. Nach
aussen scheint die Kompetenzorientierung umgesetzt, intern herrschen
Pragmatismus und oft Ablehnung.
Auf die
Lehrerausbildung:
•
Didaktik, Methodik und Präsentation ersetzen schleichend Wissen und Inhalte: In
Österreich ist der fachwissenschaftliche Bereich so weit in den Hintergrund
getreten, dass die Lehrerausbildung von den Referenten als katastrophal
eingeschätzt wurde. In Deutschland wurde die didaktische Ausbildung auf Kosten
der fachwissenschaftlichen von 10% auf heute 33–46 % ausgebaut.
•
Vielen Lehrern fehlt nun der fachwissenschaftliche Hintergrund. Sie sind auf
aufbereitetes didaktisches Material angewiesen, dessen fachliche Richtigkeit
sie oft nicht beurteilen können. Aufgabenpools staatlicher Bildungsinstitute5
enthalten triviale Aufgabenstellungen, deren überdidaktisierte Kommentare
fachliche Ansprüche erheben, die die Aufgaben nicht erfüllen.6
• Beim
Testen ist allgemein problematisch, die Kompetenzstufen klar voneinander
abzugrenzen: Wann ist die Kompetenzstufe III bei einem 6-Jährigen erreicht,
wann bei einem Abiturienten?
Lösungsansätze
Es
herrschte Einigkeit in der Forderung, das Können sei wieder nach dem Wissen
auszurichten, nicht umgekehrt. So wäre am Beispiel des Literaturunterrichts zu
überlegen, welche Texte Lernende gelesen und verstanden haben sollten; erst
danach sei zu fragen, welches Wissen und welche Kompetenzen sie für deren
Verständnis bräuchten. Nicht jede Form des Wissens könne sofort angewendet werden,
manches gehe vergessen oder unterliege einer gewissen «Halbwertszeit». Der
Erwerb sei dennoch nicht sinnlos: «Nach dem Vergessen bin ich ein anderer als
vorher», so Prof. Liessmann. Neugier für die Sache als eigentliche Motivation
zum Erkenntnisgewinn bedürfe einer Wiederbelebung in Unterricht und
Lehrerausbildung. Kompetenzorientierung löse im Lernenden weder Neugier noch
Enthusiasmus aus.
Biologiedidaktiker
Prof. Klein forderte, die fachwissenschaftliche Lehrerausbildung zu stärken und
das Verhältnis von stark reduzierter Fachwissenschaft und ausgebauter Didaktik
zu korrigieren. Die Lehrpersonen sollen ihren Unterricht jenseits der
aufgezeigten Absurditäten gestalten und von den Lehrerverbänden gestützt
werden, falls sie deswegen unter Druck geraten.
Von
politischen Amtsträgern wird erwartet, dass sie die Wissenschaften und ihre
Freiheiten stärken. Der deutsche Hochschullehrerverband, so der
Verbandspräsident Prof. Kempen, setze sich explizit für eine Rückbesinnung auf
den Humboldt’schen Bildungsbegriff ein. Der Vorschlag, juristische Schritte auf
verfassungsrechtlicher Ebene zu ergreifen, sei zu prüfen. Trotz fachlicher
Überlegenheit könne die Hochschule lediglich über das Mittel des Arguments auf
die Öffentlichkeit einwirken. Widerstand und Druck von aussen, betonte auch
Mathematikprof. Bandelt, mache Eindruck auf die politisch Verantwortlichen. Das
Beispiel der G9-Bewegung7 in Nordrhein-Westfalen zeige, so Finanz- und
ehemaliger Bildungsminister Brodkorb, die Macht der Eltern und der
Öffentlichkeit. Die Politik beginne umzudenken.
Schlussfolgerungen für das Schweizer
Bildungswesen
Die
Relevanz des Tagungsthemas für die Schweiz liegt auf der Hand. Der Trend hat
unser Bildungswesen bereits voll erfasst: Bologna ist Realität an den
Hochschulen; die Pisa-Ergebnisse werden jedes Jahr mit Bangen erwartet;
harmonisiert wird in den Kantonen mittels kompetenzorientiertem Lehrplan 21;
die aufwendigen Bemühungen der EDK, die gymnasiale Bildung den internationalen
Forderungen anzugleichen, brachten Projekte wie «Gemeinsam prüfen» und das der
«Basalen fachlichen Kompetenzen in der Erstsprache und in Mathematik» hervor,
deren Umsetzung wir uns gerade stellen.
Wollen
wir den Gefahren des Niveauverlustes und der Verflachung der Bildung entgehen
und fachwissenschaftliche Inhalte vor der Didaktisierung retten, so sollten wir
all unsere Bemühungen auf ein gesundes Austarieren von Kompetenzen und
Fachwissen richten. Denn bei allem Reformeifer sollten wir nicht vergessen: Wir
können aus den Fehlern anderer lernen.
1
https://www.bifie.at/pisa
2 F. E.
Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel, 2001, S.
27f.
3 H. P.
Klein, Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen, Das deutsche Bildungswesen im
Kompetenztaumel, zu Klampen Verlag, 2016, S. 19–24.
4
Artikel ZEIT ONLINE vom 12.5.16: http://www.
zeit.de/2016/19/abitur-bestnoten-pruefungenschnitt-leistung; Kultusminister
Konferenz, Statistik Abiturnoten im Ländervergleich: https://www.kmk.org/dokumentation-undstatistik/statistik/schulstatistik/abiturnoten.html
5
Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (D) und Bundesinstitut für Bildungswesen,
Innovation und Entwicklung (A)
6
Beispiel Temperaturmessung (Physik): https://aufgabenpool.bifie.at/nawi/index.
php?action=14&cmd=1&sbm_search=1&
faecher[]=4&rc=12&offset=10
7
Volksinitiative zur Erhöhung der Gymnasialdauer von 8 auf 9 Jahre
Gabriela Trutmann unterrichtet Latein und
Griechisch an der Kantonsschule Zürich Nord. Sie ist Präsidentin des Forums
Alte Sprachen Zürich. Yasemin Kanele ist Gymnasiallehrerin für das Fach Deutsch
an der Kantonsschule Zürich Nord.
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