Die
klassischen Schulschwänzer sind Gymnasiasten, glaubt man zu wissen. Doch nicht
sie bereiten den Lehrerinnen und Lehrern Kopfzerbrechen, sondern die Kleinsten,
sagt Freddy Noser, Präsident der Schulleiterinnen und Schulleiter im Kanton
St.Gallen. «Das beginnt schon im Kindergarten. Wir haben dort viele Absenzen.»
Dass zunehmend im Kindergarten und der Primarschule Stühle leer bleiben,
beunruhigt ihn.
Schulschwänzen ist auch bei den Kleinen ein Problem, SRF, 22.1. von Jonathan Fisch
«Man kann nicht mehr wegschauen. Man muss es
ernst nehmen. Wenn wir es jetzt nicht machen, haben wir in zehn Jahren noch ein
grösseres Problem, mit Absenzen von 20 oder 30 Prozent.» Zum Schulabsentismus
bei den Kleinsten gibt es keine Auswertungen, denn die Abwesenheiten werden
nicht statistisch erfasst. Deshalb sei es wichtig, genau hinzuschauen, sagt
Noser.
Angst ist das grosse Thema
In St.Gallen befasst sich eine
Arbeitsgruppe aus Vertretern der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, des
Kinderspitals oder des schulpsychologischen Dienstes mit dem Thema. Mitglied
der Gruppe ist Elsbeth Freitag, Vizedirektorin des Schulpsychologischen
Dienstes. Ihr Rat ist dann gefragt, wenn Lehrpersonen nicht weiterkommen.
Sie beleuchtet die Gründe, weshalb sechs-,
sieben-, achtjährige Mädchen und Buben nicht zur Schule kommen: «Wir wissen aus
der Forschung, dass bei Schulabsentismus bei 80 Prozent Wahrscheinlichkeit
Angst im Spiel ist: Schulangst, Versagensangst, Angst der Eltern, Angst des
Kindes vor Ausgrenzung, Demütigung, Mobbing, und vieles mehr.»
Diese
Schulängste führten dazu, dass Kinder im Wissen ihrer Eltern zu Hause blieben,
manchmal für Tage oder Wochen. Vor allem die Mütter seien dafür verantwortlich,
sagen Experten. Mütter fänden oft, ihr Kind sei gestresst, es schlafe schlecht,
es brauche etwas Ruhe. Darüber zu sprechen, falle vielen schwer.
Aus Scham wird nicht darüber geredet
Freitag stellt fest, dass Schulabsentismus
für viele Beteiligte, auch für Lehrpersonen, mit einem gewissen Schamgefühl
verbunden ist. Der Lehrer frage sich, was er falsch mache, dass das Kind nicht
mehr komme. Auch die Mutter frage sich, was sie falsch mache, wenn das Kind
nicht mehr aus dem Haus wolle. Und schliesslich schäme sich das Kind, weil es
das Gefühl habe, im Unterricht nicht zu genügen. Scham sei deshalb ein
wichtiges Thema, sagt Freitag: «Da will man privat bleiben. Doch das ist ein Fehler.
Man muss sich vernetzen und zusammenarbeiten.»
Wissenschaftlich wurden die Gründe für
Schulabwesenheiten in der Schweiz bisher nur bei Oberstufen-Schülern
untersucht. Eine Studie dazu hat Erziehungswissenschafterin Margit Stamm
verfasst. Sie ist emeritierte Professorin der Universität Freiburg.
Stamm überrascht es nicht, dass Absentismus in
der Primarschule zum Thema wird. Sie erkennt einen Wertewandel in der
Gesellschaft. Gerade bei der heutigen Elterngeneration sei die Hemmschwelle
gesunken, sich den Schulregeln zu unterordnen. Eltern fühlten sich der Schule
gegenüber kompetent. «Viele Eltern haben den Eindruck, dass sie besser wüssten,
wie man Schule geben sollte und wie man sich als Lehrperson zu verhalten hat.
Weiter sind wir eine unverbindlichere Gesellschaft geworden. Es ist eine Kultur
der Unverbindlichkeit, die sich auf diese Generation niederschlägt.»
Der Entwicklung Gegensteuer geben
Diese Tendenzen seien schweizweit
feststellbar, der Kanton St.Gallen stehe damit nicht alleine da. Wenn
Kindergarten-Kinder, zu Hause bleiben und Primarschüler abwesend sind, stünden
alle in der Pflicht, da sind sich die Befragten einig.
In St.Gallen wollen Pädagogen, Psychologen
und Ärzte gemeinsam dafür sorgen, dass Schuleschwänzen nicht zum dominierenden
Problem wird, mit Infokampagnen oder Lehrerfortbildungen etwa. Die Experten
wollen auch die Eltern vermehrt in die Pflicht nehmen. Denn halten sie ihre
Kinder gewollt von der Schule fern, können sie gebüsst oder gar angezeigt
werden.
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