Eine
Frage beschäftigt Karsten Jung noch immer: «Hätte ich es verhindern können?»
Vor vier Jahren unterrichtete der Religionspädagoge an einem beruflichen
Gymnasium in Süddeutschland einen jungen Mann namens Nadim. Ein gläubiger
Muslim aus akademischem Elternhaus mit guten Noten. «Nadim war freundlich,
interessiert und fragte oft nach», sagt Jung. Doch eines Tages war er plötzlich
weg. Was erst ein Verdacht war, erhärtete sich kurz danach: Nadim, noch nicht
volljährig, zog nach Syrien in den Dschihad.
Für den
Deutschen Karsten Jung war das ein Schockerlebnis. «Es gab Hinweise, doch ich
wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.» Er suchte nach Büchern und
Ratgebern, wollte erfahren, was er hätte anders machen können. Gefunden hat er
... nichts. Also schrieb er selber ein Buch, das anderen Lehrern helfen soll.
«Schüler radikalisieren sich nicht von heute auf morgen», sagt er. Das sei ein
langwieriger Prozess, der bis zu 18 Monate dauern könne.
Terror-Kontrolle an Schulen? Südostschweiz, 9.12. von Yannick Nock
Eindeutig
sind die Anzeichen selten. Viele Kleinigkeiten könnten sich aber zu einem
klaren Bild zusammenfügen. Haben die Jugendlichen ein striktes Verbotsdenken,
wenn es um ihren Glauben geht? Verhält sich der Jugendliche gegenüber dem
anderen Geschlecht anders? Bricht der Kontakt zu Freunden ab? Wenn ein Lehrer
diese Indizien frühzeitig erkennt, könne er gegen die Radikalisierung
ankämpfen, sagt Jung.
Verlagerung
der Rekrutierung
In
Deutschland haben sich in den letzten Jahren über 900 Personen nach Syrien oder
in den Irak aufgemacht. Darunter viele Jugendliche, Männer wie Frauen. Das
Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in der Schweiz können sich
Schüler radikalisieren. Jung geht davon aus, dass mindestens ein Kind pro
Kanton gefährdet ist. In den Städten stärker als auf dem Land.
Offizielle
Zahlen gibt es nicht. Für den Genfer Sicherheitsdirektor Pierre Maudet ist
dennoch klar: «Die Gefahr ist real.» Genf stand zuletzt wiederholt im Zentrum
von Terrordrohungen. Im Dezember 2015 herrschte mehrere Wochen erhöhte
Alarmbereitschaft, weil sich vier Terrorverdächtige auf der Flucht befanden.
Ausserdem führte der Kanton 2016 eine Dschihad-Hotline für besorgte Angehörige
ein. «Wir haben 70 Hinweise erhalten», sagt Maudet. Unbegründete Anrufe habe es
kaum gegeben.
Islamisten
wüssten mittlerweile, dass sie in Moscheen überwacht würden. Deshalb hätten sie
die Rekrutierung auf Schulen und Sportvereine verlagert, sagt Maudet. «Schulen
nehmen eine Schlüsselrolle im Kampf gegen Radikalisierung ein.» Sie hätten oft
am längsten Zugang zu den Jugendlichen. Deshalb spricht sich der
Sicherheitsdirektor auch für höhere Mittel aus. Die Schweiz sei weniger
gefährdet als Frankreich oder Deutschland, deswegen dürfe man sich aber nicht
in Sicherheit wiegen, sagt Maudet.
So ist es
nicht verwunderlich, dass der Bundesrat zu Wochenbeginn einen nationalen
Aktionsplan gegen Radikalisierung vorstellte. Justizministerin Simonetta
Sommaruga sagte vor versammelter Presse: «Wir wollen eingreifen, bevor es zu
spät ist.» Kinder, die Ausgrenzung erleben, seien später stärker gefährdet. 44
Seiten umfasst der Aktionsplan. Darin nehmen Universitäten, Schulen und Lehrer
eine wichtige Rolle ein. Das Problem ist nur: Wirklich involviert sind sie
nicht.
Lehrer
sind keine Spione
Lehrerpräsident
Beat Zemp will nicht, dass Lehrkräfte ihren Schülern nachspionieren: «Wir sind
keine Mitarbeiter des Geheimdienstes», sagt er. Zwar würden sie auffälliges
Verhalten den Fachstellen für Gewaltprävention melden, es könne aber nicht
sein, dass Lehrer ganze Klassen systematisch überwachen oder Facebook-Seiten
der Kinder durchforsten sollen. Das Vertrauensverhältnis zu den Schülern und
Eltern dürfe nicht zerstört werden.
Worauf die
Lehrer aber seit Längerem ein Augenmerk legen, ist Mobbing: «Wir achten sehr
darauf, dass keine Schüler ausgegrenzt werden.» Das sei die beste Prävention
gegen eine drohende Radikalisierung.
Neben den
Lehrern nimmt der Bundesrat auch die Universitäten in der Pflicht. So heisst es
im Aktionsplan, die «politische Verantwortlichkeit» für die Weiterbildung der
Lehrer und für neue Studien zu Extremismus liege bei den Hochschulen. Doch auch
sie sind noch nicht so weit. Gespräche wurden bisher keine geführt, die
Rektoren nicht kontaktiert. Das überrascht bei der deutlichen Nennung im
Aktionsplan. Die Gespräche sollen nun aber nachgeholt werden. «Wir werden in
den kommenden Monaten gemeinsam mit Bund und Kantonen diskutieren, wie wir bei
der Prävention helfen können», sagt Michael Hengartner, Rektor der Universität
Zürich und Präsident des Dachverbandes der Hochschulen. «Wir sind bereit, einen
Beitrag zu leisten.»
So viele
Anrufe gingen bei der Genfer Dschihad-Hotline in nur einem Jahr ein.
«Unbegründete Meldungen gab es kaum», sagt Sicherheitsdirektor Pierre Maudet.
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