Werden Lehrer irgendwann überflüssig sein? Verliert die
Berufslehre an Stellenwert? Wird Bildung privatisiert? Drei grosse
Entwicklungen prägen die Zukunft der Bildung. Doch nicht alle sind
begrüssenswert, schreibt Claudia Wirz.
Schöne neue Bildungswelt, NZZaS, 26.11. von Claudia Wirz
Wenn sich das computergestützte, selbstorganisierte Lernen
durchsetzt, könnten die Lehrkräfte unter Druck kommen. Doch ist das schlecht?
Schüler arbeiten mit dem Tablet.
Der
gläserne Student, nennen wir ihn Huxley, hat sein Gehirn mit einer Maschine
verlinkt. Diese speichert in riesigen Datenbanken das Wissen, das er für eine
reibungslose Berufslaufbahn und als nützlicher Bürger braucht. Durch
Gedankenübertragung kann er diesen Wissensschatz anzapfen. Ein
computergestütztes Trainingsprogramm leitet ihn durch schwierige Gespräche und
trifft für ihn die richtigen Entscheidungen. Der Computer behebt alle Defizite
des Mängelwesens Mensch. Huxley ist die Vision von Heiko von der Gracht,
Zukunftsforscher, Betriebswirtschafter, Universitätsdozent und Manager beim Beratungsunternehmen
KPMG.
Huxley
muss nichts mehr verstehen, keine Vokabeln, keine Formeln, keine Literatur. Er
soll sich auf das Anwenden von Wissen konzentrieren. Nur nützliches Wissen ist
gefragt, Wissen, das die Wirtschaft und die Staaten brauchen. Alles andere ist
Zeitverschwendung. Schule ist dem Gesetz der Effizienz unterworfen. Das ist man
dem Steuerzahler schuldig.
Die
Maschine verfolgt Huxleys Lernkarriere auf Schritt und Tritt – wie eine
elektronische Fussfessel. Wenn er schwächelt, korrigiert sie ihn sanft und
serviert ihm Aufgaben, die er lösen kann, um ihm Erfolgserlebnisse zu
verschaffen. Die Maschine merkt, wenn er keine Lust mehr aufs Lernen hat, und
reagiert mit mundgerechten Angeboten. «Adaptive Lernsysteme» nennt man das.
Huxleys verifizierte Unzufriedenheit wird überdies seiner Schule oder der
Personalabteilung gemeldet, damit diese Massnahmen ergreifen können.
Noch
besser ist es, wenn es bei Huxley gar nicht erst zu einem solchen
Effizienzverlust kommt. Deshalb kann die Maschine Verstimmungen anhand von
personalisierten Datenanalysen voraussagen, bevor sie auftreten. Die Maschine
und damit seine Schule und sein Arbeitgeber wissen mehr über Huxleys Gemütslage
als er selbst.
1. Ökonomisierung der Bildung
Was
klingt wie die Überwachungsphantasie eines monströsen Zukunftsstaates, ist
zumindest zum Teil schon Realität, wenn man Heiko von der Gracht glaubt. Die
American Public University, eine Pionierin des Online-Lernens, identifiziere
mit solchen Programmen schon heute potenzielle Studienabbrecher und habe die
Abbruchquote dadurch massiv senken können, schreibt er. Und was der Schule
recht ist, ist dem Personalmanagement billig. «Unternehmen werden in Zukunft
schon vor der Einstellung wissen, wer am besten zu ihnen passt», sagt van der
Gracht. Die Vermessung der Hirne und die Auslese der Talente beginnen schon in
der Primarschule.
Das
Szenario zeigt, was passiert, wenn globalisierte Unternehmen und internationale
Wirtschaftsorganisationen wie die OECD die Bildungspolitik übernehmen. Fast
ohne Widerstand greifen sie schon heute in dieses Hoheitsgebiet der einzelnen
Staaten ein. Diese Ökonomisierung der Bildung ist problematisch, weil sie aus
Schulen Fabriken für standardisiertes Humankapital macht.
Das
Ziel einer harten Ökonomisierung von Bildung ist nicht die mündige, gereifte
Persönlichkeit, die für das Funktionieren der Demokratie wichtig ist, sondern
der mit Kompetenzen ausgestattete, effiziente Anwender von Wissen. Ein solches
System erzeugt Menschen, die äusserlich reibungslos funktionieren, innerlich
aber wenig Bezug zum Inhalt ihrer Arbeit haben. In einem solchen System ist
Bildung nur Mittel zum Zweck; einen übergeordneten Selbstzweck hat sie nicht,
weshalb «unnütze Bildung» wie Latein oder Geschichte entfällt.
2. Digitalisierung der Bildung
Vielleicht
ist dieses Bild zu düster gemalt. Dass Schulen und Universitäten zur
ökonomischen Verwertungskette gehören, ist weder neu noch schlecht.
Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Hochschulen und die Gesellschaft als Ganzes haben
ein legitimes Interesse daran, dass sich Bildung rentiert. Problematisch ist,
wenn alle weitergehenden Ansprüche an die Bildung erlöschen. Damit würde Schule
zur Vorstufe der Industrie, und die Allgemeinbildung als Kulturfundament wäre
verloren. Bildung bedeutet mehr, als die Aneignung von Fähigkeiten. In den
demokratischen Staaten ist es eine Frage des politischen Willens, ob sich der
auf Kompetenzen reduzierte Bildungsbegriff durchsetzen wird.
Mit
der Ökonomisierung eng verbunden ist die Digitalisierung der Bildung. Wenn das
«adaptive Lernsystem» die Führung übernimmt und die Lerninhalte bestimmt und
wenn sich das computergestützte, vorgeblich «selbstorganisierte Lernen»
durchsetzt, dann kommt der Lehrer in Bedrängnis. Wird er verschwinden wie die
nette Frauenstimme bei der Telefonauskunft oder die Ansagerin im Fernsehen?
Schule
müsse ganz neu gedacht werden, prophezeite der Philosoph und Publizist Richard
David Precht im Jahr 2013. Die Google-Brille werde kommen, auf jede Nase und
schon bald, und jeden Lehrer überfordern, weil seine Schüler besser und
schneller googeln als er selber und damit über mehr Wissen verfügten. Precht
irrte sich. Die Google-Brille kam nicht, und die Lehrer gibt es immer noch.
Bildung ist eben mehr als ein Sammelsurium von zufällig gegoogelten
Wissensfetzen.
Digitale
Technologien vom Lernen fernzuhalten, wäre genauso illusorisch wie töricht. Sie
demokratisieren den Zugang zu Wissen, das Lernen wird örtlich und zeitlich
flexibler, die Kritik- und Debattenkultur erhält völlig neue Kanäle.
Menschliche Erfahrung und Interaktion wird aber nicht hinfällig, im Gegenteil.
Sie erst erlaubt es, Verbindungen zwischen einzelnen Wissensinseln herzustellen
und so das Wissen in einem Lernprozess zu verstehen und zu vermehren. Bildung
ist auch im 21.Jahrhundert immer noch ein Beziehungsgeschehen zwischen
Menschen.
3. Akademisierung der Bildung
Seit
zwei, drei Jahren gibt es in Deutschland mehr Studenten als Lehrlinge. Der
Abstieg der Berufslehre sei unaufhaltsam, befand die Bertelsmann-Stiftung schon
vor zwei Jahren. Dass die Schüler gleichzeitig nachweislich schlechter rechnen
und schreiben als früher, ist nur vordergründig ein Widerspruch.
In
der Schweiz, wo das duale Bildungssystem als Erfolgsmodell gelobt wird, steigt
die Maturaquote und damit die Zahl der Hochschulabsolventen mit jedem Jahrgang
an. Berufsmatura und Passerelle haben den Weg zu einer akademischen Karriere
auch für ehemalige Berufslehrlinge geebnet.
Die
Akademisierung wird systematisch als höchstes Ziel einer Lernkarriere und als
Zaubermittel für mehr Wohlstand propagiert. Bessere Löhne gebe es für
Akademiker, international seien sie mobiler, und die Finanzierung durch die öffentliche
Hand mache ein Studium auch fürs eigene Portemonnaie attraktiv. Allein, die
hohe Quote arbeitsloser Universitätsabgänger in Südeuropa und selbst im
Bildungswunderland Finnland spricht eine andere Sprache. Schon denkt man in
Finnland darüber nach, die Situation mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu
entschärfen – und das ausgerechnet im Land der Hochqualifizierten.
Die
politisch angetriebene durchgängige Akademisierung der jungen Leute schafft
strukturelle Probleme. Die Berufslehre gehört deshalb nicht zuletzt angesichts
des Fachkräftemangels verteidigt und aufgewertet, und vor allem darf die
Deutungshoheit darüber, was Bildung ist, nicht allein internationalen
Organisationen und ihren verbeamteten Experten überlassen werden.
Der
freie Zugang zu Bildung für alle ist eine der grössten Errungenschaften der
liberalen Gesellschaftsordnung. Doch wenn man heute das Mantra vom Segen der
Akademisierung mit einem absoluten Anspruch auf soziale Gerechtigkeit im Sinne
einer Ergebnisgleichheit verknüpft, schafft das nicht gleiche Chancen, sondern
eine Bildungsblase. Mehr akademische Abschlüsse bei sinkendem Niveau haben
nichts mit sozialer Gerechtigkeit, sondern viel mit falscher Politik zu tun.
Die
Bildungspolitik muss sich von falschen Dogmen und obrigkeitlichen Steuerungsphantasien
befreien. Der freie, selbstdenkende und sich lebenslang bildende Mensch bringt
immer noch die beste Rendite für die Gesellschaft.
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