10. Dezember 2017

Falsche Dogmen und Steuerungsphantasien

Werden Lehrer irgendwann überflüssig sein? Verliert die Berufslehre an Stellenwert? Wird Bildung privatisiert? Drei grosse Entwicklungen prägen die Zukunft der Bildung. Doch nicht alle sind begrüssenswert, schreibt Claudia Wirz.
Schöne neue Bildungswelt, NZZaS, 26.11. von Claudia Wirz

Wenn sich das computergestützte, selbstorganisierte Lernen durchsetzt, könnten die Lehrkräfte unter Druck kommen. Doch ist das schlecht? Schüler arbeiten mit dem Tablet.
Der gläserne Student, nennen wir ihn Huxley, hat sein Gehirn mit einer Maschine verlinkt. Diese speichert in riesigen Datenbanken das Wissen, das er für eine reibungslose Berufslaufbahn und als nützlicher Bürger braucht. Durch Gedankenübertragung kann er diesen Wissensschatz anzapfen. Ein computergestütztes Trainingsprogramm leitet ihn durch schwierige Gespräche und trifft für ihn die richtigen Entscheidungen. Der Computer behebt alle Defizite des Mängelwesens Mensch. Huxley ist die Vision von Heiko von der Gracht, Zukunftsforscher, Betriebswirtschafter, Universitätsdozent und Manager beim Beratungsunternehmen KPMG.

Huxley muss nichts mehr verstehen, keine Vokabeln, keine Formeln, keine Literatur. Er soll sich auf das Anwenden von Wissen konzentrieren. Nur nützliches Wissen ist gefragt, Wissen, das die Wirtschaft und die Staaten brauchen. Alles andere ist Zeitverschwendung. Schule ist dem Gesetz der Effizienz unterworfen. Das ist man dem Steuerzahler schuldig.
Die Maschine verfolgt Huxleys Lernkarriere auf Schritt und Tritt – wie eine elektronische Fussfessel. Wenn er schwächelt, korrigiert sie ihn sanft und serviert ihm Aufgaben, die er lösen kann, um ihm Erfolgserlebnisse zu verschaffen. Die Maschine merkt, wenn er keine Lust mehr aufs Lernen hat, und reagiert mit mundgerechten Angeboten. «Adaptive Lernsysteme» nennt man das. Huxleys verifizierte Unzufriedenheit wird überdies seiner Schule oder der Personalabteilung gemeldet, damit diese Mass­nahmen ergreifen können.
Noch besser ist es, wenn es bei Huxley gar nicht erst zu einem solchen Effizienzverlust kommt. Deshalb kann die Maschine Verstimmungen anhand von personalisierten Datenanalysen voraussagen, bevor sie auftreten. Die Maschine und damit seine Schule und sein Arbeitgeber wissen mehr über Huxleys Gemütslage als er selbst.

1. Ökonomisierung der Bildung

Was klingt wie die Überwachungsphantasie eines monströsen Zukunftsstaates, ist zumindest zum Teil schon Realität, wenn man Heiko von der Gracht glaubt. Die American Public University, eine Pionierin des Online-Lernens, identifiziere mit solchen Programmen schon heute potenzielle Studienabbrecher und habe die Abbruchquote dadurch massiv senken können, schreibt er. Und was der Schule recht ist, ist dem Personalmanagement billig. «Unternehmen werden in Zukunft schon vor der Einstellung wissen, wer am besten zu ihnen passt», sagt van der Gracht. Die Vermessung der Hirne und die Auslese der Talente beginnen schon in der Primarschule.

Das Szenario zeigt, was passiert, wenn globalisierte Unternehmen und internationale Wirtschaftsorganisationen wie die OECD die Bildungspolitik übernehmen. Fast ohne Widerstand greifen sie schon heute in dieses Hoheitsgebiet der einzelnen Staaten ein. Diese Ökonomisierung der Bildung ist problematisch, weil sie aus Schulen Fabriken für standardisiertes Humankapital macht.

Das Ziel einer harten Ökonomisierung von Bildung ist nicht die mündige, gereifte Persönlichkeit, die für das Funktionieren der Demokratie wichtig ist, sondern der mit Kompetenzen ausgestattete, effiziente Anwender von Wissen. Ein solches System erzeugt Menschen, die äusserlich reibungslos funktionieren, innerlich aber wenig Bezug zum Inhalt ihrer Arbeit haben. In einem solchen System ist Bildung nur Mittel zum Zweck; einen übergeordneten Selbstzweck hat sie nicht, weshalb «unnütze Bildung» wie Latein oder Geschichte entfällt.

2. Digitalisierung der Bildung

Vielleicht ist dieses Bild zu düster gemalt. Dass Schulen und Universitäten zur ökonomischen Verwertungskette gehören, ist weder neu noch schlecht. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Hochschulen und die Gesellschaft als Ganzes haben ein legitimes Interesse daran, dass sich Bildung rentiert. Problematisch ist, wenn alle weitergehenden Ansprüche an die Bildung erlöschen. Damit würde Schule zur Vorstufe der Industrie, und die Allgemeinbildung als Kulturfundament wäre verloren. Bildung bedeutet mehr, als die Aneignung von Fähigkeiten. In den demokratischen Staaten ist es eine Frage des politischen Willens, ob sich der auf Kompetenzen reduzierte Bildungsbegriff durchsetzen wird.

Mit der Ökonomisierung eng verbunden ist die Digitalisierung der Bildung. Wenn das «adaptive Lernsystem» die Führung übernimmt und die Lerninhalte bestimmt und wenn sich das computergestützte, vorgeblich «selbstorganisierte Lernen» durchsetzt, dann kommt der Lehrer in Bedrängnis. Wird er verschwinden wie die nette Frauenstimme bei der Telefonauskunft oder die Ansagerin im Fernsehen?

Schule müsse ganz neu gedacht werden, prophezeite der Philosoph und Publizist Richard David Precht im Jahr 2013. Die Google-Brille werde kommen, auf jede Nase und schon bald, und jeden Lehrer überfordern, weil seine Schüler besser und schneller googeln als er selber und damit über mehr Wissen verfügten. Precht irrte sich. Die Google-Brille kam nicht, und die Lehrer gibt es immer noch. Bildung ist eben mehr als ein Sammelsurium von zufällig gegoogelten Wissensfetzen.

Digitale Technologien vom Lernen fernzuhalten, wäre genauso illusorisch wie töricht. Sie demokratisieren den Zugang zu Wissen, das Lernen wird örtlich und zeitlich flexibler, die Kritik- und Debattenkultur erhält völlig neue Kanäle. Menschliche Erfahrung und Interaktion wird aber nicht hinfällig, im Gegenteil. Sie erst erlaubt es, Verbindungen zwischen einzelnen Wissensinseln herzustellen und so das Wissen in einem Lernprozess zu verstehen und zu vermehren. Bildung ist auch im 21.Jahrhundert immer noch ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen.

3. Akademisierung der Bildung

Seit zwei, drei Jahren gibt es in Deutschland mehr Studenten als Lehrlinge. Der Abstieg der Berufslehre sei unaufhaltsam, befand die Bertelsmann-Stiftung schon vor zwei Jahren. Dass die Schüler gleichzeitig nachweislich schlechter rechnen und schreiben als früher, ist nur vordergründig ein Widerspruch.

In der Schweiz, wo das duale Bildungssystem als Erfolgsmodell gelobt wird, steigt die Maturaquote und damit die Zahl der Hochschulabsolventen mit jedem Jahrgang an. Berufsmatura und Passerelle haben den Weg zu einer akademischen Karriere auch für ehemalige Berufslehrlinge geebnet.

Die Akademisierung wird systematisch als höchstes Ziel einer Lernkarriere und als Zaubermittel für mehr Wohlstand propagiert. Bessere Löhne gebe es für Akademiker, international seien sie mo­biler, und die Finanzierung durch die öf­fentliche Hand mache ein Studium auch fürs eigene Portemonnaie attraktiv. Al­lein, die hohe Quote arbeitsloser Universitätsabgänger in Südeuropa und selbst im Bildungswunderland Finnland spricht eine andere Sprache. Schon denkt man in Finnland darüber nach, die Situation mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu entschärfen – und das ausgerechnet im Land der Hochqualifizierten.

Die politisch angetriebene durchgän­gige Akademisierung der jungen Leute schafft strukturelle Probleme. Die Berufslehre gehört deshalb nicht zuletzt ­angesichts des Fachkräftemangels ver­teidigt und aufgewertet, und vor allem darf die Deutungshoheit darüber, was Bildung ist, nicht allein internationalen Organisationen und ihren verbeamteten Experten überlassen werden.

Der freie Zugang zu Bildung für alle ist eine der grössten Errungenschaften der liberalen Gesellschaftsordnung. Doch wenn man heute das Mantra vom Segen der Akademisierung mit einem absoluten Anspruch auf soziale Gerechtigkeit im Sinne einer Ergebnisgleichheit verknüpft, schafft das nicht gleiche Chancen, sondern eine Bildungsblase. Mehr akademische Abschlüsse bei sinkendem Niveau haben nichts mit so­zialer Gerechtigkeit, sondern viel mit falscher Politik zu tun.

Die Bildungspolitik muss sich von ­falschen Dogmen und obrigkeitlichen Steue­rungsphantasien befreien. Der freie, selbstdenkende und sich lebenslang bildende Mensch bringt immer noch die beste Rendite für die ­Gesellschaft.


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