Der Musiker und Autor André Stern
erklärt, warum der Mensch nur spielerisch lernt und warum er seine Kinder nicht
zur Schule schickt.
Warum schicken Sie Ihre Kinder nicht in die Schule, Herr Stern? Tageswoche, 3.12. von Jeremias Schulthess
André
Stern ging nie in eine Schule und spricht fünf Sprachen fliessend. Wie geht
das? Ganz einfach, sagt der Sohn des Malort-Gründers Arno Stern: mit Spielen.
Im Spiel lerne der Mensch alles, was
er fürs Leben braucht, und erst noch ohne Anstrengung, so das Credo des
Bestseller-Autors. Ein Kind kenne den Unterschied nicht zwischen Lernen und
Spielen, schreibt Stern in seinem neuesten Buch. Deshalb mache es auch
keinen Sinn, wenn man dem Kind sage: «Nach dem Spielen machst du dich aber ans
Lernen, ja?»
Was der 46-Jährige sagt, klingt
eigentlich banal, er sagt es aber mit einer Konsequenz, die aufhorchen
lässt. Zum Beispiel sagt Stern, ein Kind vom Spielen zu unterbrechen sei
«Gewalt». Und wer das Spiel des Kindes nicht ernst nehme, nehme das Kind nicht
ernst.
Mit solch zugespitzten Thesen verkauft
Stern seine Bücher und füllt Vortragssäle – kürzlich den Ackermannshof in
Basel. In Zeiten, in denen der Leistungsdruck an Primarschulen für
Diskussionen sorgt, schien die Erwartung der Gäste klar: eine Alternative zur
aktuellen Schulpolitik. Stern sprach in seinen 90 Minuten aber nicht darüber,
was in der Schule schiefläuft. Er formulierte nur seine sehr persönliche,
radikale Einstellung zum Lernen, die keine allgemeingültige Antwort zum Thema
Bildung gebe.
Stern
sagt, mit seiner Haltung und seinen Ideen wolle er nicht das System
kritisieren. Und doch steht seine Haltung diametral dem entgegen, was an
Schulen praktiziert wird.
Herr
Stern, als ich klein war, musste ich jeden Tag Cello üben. Manchmal stellten meine
Eltern einen Küchenwecker auf den Tisch neben mir. Dann musste ich üben, bis
der Wecker klingelte.
So stirbt die Musik in einem. So
stirbt der Elan zur Musik, den wir eigentlich alle in uns haben…
…ich
habe das Cellospielen später aufgegeben.
Es ist eigenartig, dass Sie mir das
erzählen. Ich habe heute im Zug für mein neues Buch darüber geschrieben.
Was
denn?
Musik ist ein Impuls von jedem
Menschen. Stellen Sie ein kleines Kind vor einen Lautsprecher mit Musik: Das
Kind beginnt zu tanzen – mit einem so sicheren Rhythmusgefühl, da muss man gar
nichts entwickeln. Musik darf auf keinen Fall zu etwas werden, das wir müssen.
Ab dem Moment, ab dem Musizieren zur Arbeit wird, ist die Musik tot. Die Musik
stirbt auf diese Weise in so vielen Menschen, in so vielen Kindern. Niemand
muss üben! Sobald man übt, heisst das, man geht es nicht mehr spielerisch an.
Und sobald man es nicht mehr spielerisch angeht, kann man das Instrument nicht
mehr spielen. Es macht mich als Musiker ziemlich rasend, zu sehen, wie die Musik
vernichtet wird – eigentlich aus Goodwill. Ihre Eltern wollten Ihnen die Musik
nicht für immer verderben.
Sie
wollten, dass ich Cellospielen lerne.
Ja, sie wollten, dass Sie Fortschritte
machen. Das Problem ist, dass man so keine Fortschritte machen kann. Denn Musik
passiert jetzt und nicht weiter fort!
Nennen Sie
einige Beispiele, die zeigen, wie Kinder im Spiel lernen. Gibt es auch Dinge,
die Kinder nicht mit Spielen lernen können?
Nein. Es
geht nur mit Spielen. Wir als Gesellschaft vermischen alles. Zum Beispiel
vermischen wir «spielen» mit «sich amüsieren» und «lernen» mit
«auswendiglernen» – das ist aber nicht dasselbe. Auswendiglernen, das ist ein
Akt, den man durch Willen tun kann. Lernen nicht. Wirkliches Lernen ist, was
übrig bleibt, wenn Sie fertig gespielt haben. Neurobiologen wie Gerald Hüther
sagen: Eine Information, die uns nicht berührt, geht hier rein und da wieder
raus (zeigt auf sein linkes und rechtes Ohr). Darum vergessen
wir 80 Prozent von dem, was wir haben lernen müssen – und finden das normal. Du
kannst in einer Runde gerne sagen: Oh ja, das habe ich gewusst, aber inzwischen
habe ich es vergessen. Niemand nimmt dir das übel. Sagst du: Ich habe das nie
gelernt – was eigentlich das gleiche ist –, dann heisst es: Das ist aber eine
Lücke. Es gibt nichts, woran man sich erinnern wird, das nicht mit einer Emotion
oder einer spielerischen Haltung verbunden ist.
Ist es
nicht sinnvoll als Erwachsener, das Kind an etwas heranzuführen, damit es damit
spielt?
Das Kind
hat die Veranlagung, in die weite Welt hinauszugehen, es will neuen Gesichtern,
neuen Landschaften entgegentreten. Das Kind hat noch keine schlechten
Erfahrungen mit Neuem gemacht. Es geht nicht darum, dass man das Kind an etwas
heranzieht. Es geht darum, dem Kind keine Steine in den Weg zu legen.
Nach
Ihrer Philosophie sollten sich Eltern und Erwachsene gar nicht einmischen in
das, was das Kind tut?
Das
bedeutet aber nicht, dass man keinen Einfluss ausübt. Sonst landet man beim
Laissez-faire, einer Methode, die insbesondere in den 1970er-Jahren praktiziert
wurde als Antwort auf die schwarze Pädagogik. In beiden Fällen haben wir es mit
einer Manipulation des Kindes zu tun, die vom Erwachsenen ausgeht. Man
beeinflusst sich ja gegenseitig, wenn man zusammen lebt.
Wie
meinen Sie das?
Genauso,
wie wenn Sie in einer Partnerschaft leben. Dann verändert sich Ihre Art und
Weise zu leben. Dasselbe passiert, wenn Sie ein Kind kriegen. Es geht darum,
dass man auf einer Augenhöhe zusammenlebt. Ich begegne dir nicht mit der Idee,
dass ich weiss, was für dich gut ist (steht auf, stellt sich neben mich und
blickt auf mich hinab). Es geht beim Kind oft von oben herab. Ist das
angenehm so (lacht und setzt sich wieder hin)? Auf Augenhöhe
sind wir Partner, dann ist es nicht so, dass du mich in Ruhe lässt. Nein, du
nimmst mich ernst. Und du denkst, dass das, was ich tue und wie ich bin,
relevant ist. Das Kind leidet darunter, dass es sehr schnell die Erfahrung
macht: Man liebt mich mehr, wenn ich mehr dem entspreche, was man von mir
erwartet. Anders gesagt: Ich gebe meine Kindheit auf, zugunsten von dem, was
der Erwachsene unter Kindheit versteht. So hat man keine Kindheit mehr.
Was
machen Sie, wenn das Kind beim Essenstisch mit dem Wasser spielt und vielleicht
das Glas auskippt? Aus eigener Erfahrung weiss ich: Das tun Kinder sehr gerne.
Unterbrechen Sie das Kind dann im Spiel?
Kinder
sind kleine Forscher, Entdecker und Gestalter. Das Kind hat kein Problem damit,
sich an Regeln zu halten, solange die Neins nicht überwiegen – und das tun sie
in unserer Gesellschaft leider sehr oft. Wenn es nur noch Neins gibt, ertrinkt
das Kind im Nein. Mein jüngster Sohn ist anderthalb Jahre alt und er kippt auch
gerne das Wasserglas aus. Er sieht, wie wir am Tisch essen, aber natürlich hat
er seine eigene Interpretation davon. Wenn er gerne mit Wasser spielt, kann man
das auch sehr gut in der Badewanne organisieren. Am Tisch vielleicht nicht,
hier isst man.
Es gibt
also Grenzen des Spielens?
Ich würde
nicht sagen Grenzen, aber Orientierungen. Eine Grenze ist Machtausübung, eine
Orientierung kann ein Anhaltspunkt fürs Zusammenleben sein. Das ist eine andere
Haltung. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, wenn man mit einem Kind anders
umgeht und kommuniziert, als mit dem eigenen Partner – zum Beispiel, wenn es
nicht sauber isst. Sie sagen Ihrer Partnerin auch nicht: Iss sauber, sonst
gehst du auf dein Zimmer! Wenn Sie es Ihrer Partnerin nicht sagen, gibt es
keinen Grund, dass Sie es Ihrem Kind sagen sollten.
Sie sind nie zur
Schule gegangen. Ihre Kinder gehen ebenfalls nicht zur Schule. Wie unterstützen
Sie Ihre Kinder dabei, dass Sie lesen, schreiben und rechnen lernen?
Die grossen drei
Klassiker… Niemand hat mich je gefragt, wie meine Kinder kochen, tanzen und
singen lernen.
Lesen, schreiben und
rechnen lernt man normalerweise in der Schule und Ihre Kinder gehen nicht zur
Schule – deshalb frage ich.
Diese drei Dinge hat
man auf einen Altar gesetzt. Es sind die Könige der Fächer. Aber das ist völlig
willkürlich und entspricht niemandem.
Sie sind nicht der
Meinung, dass jeder Mensch lesen und schreiben lernen sollte?
Ich bin der
Überzeugung, dass jeder Mensch lesen und schreiben nicht nicht lernen kann. So
wie man die Muttersprache nicht nicht lernen kann.
Man lernt es
automatisch?
Ihre Muttersprache
wurde Ihnen nicht unterrichtet. Sie durften Ihre Muttersprache in einem eigenen
Rhythmus, zum eigenen Zeitpunkt und mit Ihrer eigenen Methodik lernen. Alleine
hätten Sie Ihre Muttersprache aber nicht gelernt. Sie haben Sie nur gelernt,
weil die ganzen Menschen um Sie herum so gesprochen haben. Sehen Sie sich
unsere Welt an: Ist es nicht auffällig, dass die Buchstaben überall da sind?
Ist es nicht auffällig, dass wir die ganze Zeit Zahlen nennen und Kalkulationen
machen? Es gibt unzählige Kinder, die lesen und schreiben lernen, bevor sie zur
Schule gehen. Ich konnte es mit acht Jahren – spät würde man vielleicht sagen.
Mein Sohn konnte es schon mit zweieinhalb Jahren – und zwar ganz gut.
Noch ein persönliches
Beispiel: Ich hatte in der Schule schlechte Noten in Chemie. Also musste ich
Formeln und chemische Zusammenhänge lernen, um nicht vom Gymnasium zu fliegen.
So lernte ich die Chemie erst richtig kennen, was doch ein positiver Effekt
ist, oder nicht?
Und jetzt: Welche
Relevanz hat Chemie in Ihrem Alltag?
Keine.
Wozu dann das Ganze?
Wir hinterfragen das nicht. Wenn es morgen für Sie eine Relevanz hätte und Sie
hätten es in der Schule nicht gelernt, was meinen Sie, wie lange bräuchten Sie,
um das zu lernen, was Sie im Chemieunterricht lernen mussten?
Ein, zwei Tage
vielleicht.
Oder vielleicht paar
Stunden! Ich bin nicht da, um ein System zu kritisieren, oder eine Methode
anzupreisen. Aber es muss mir jemand erklären, was der Sinn der Sache ist, dass
man sich zwingt, das und das zu lernen und damit die Erfahrung macht, dass
Lernen eigentlich scheisse ist. Das ist eine schmerzhafte Erfahrung. Es ist
schade und eigentlich eine Schande, dass man der Chemie das antut. Die Chemie
verdient, umarmt zu werden von Menschen, die sie wollen und die nicht genug davon
bekommen! Solche, die zuviel davon bekommen – wie Sie in diesem Fall – und sich
einige Jahre später nicht mehr daran erinnern und überhaupt nichts damit
anzufangen wissen, die hätte man damit eigentlich in Ruhe lassen können. Denn
die Chemie braucht Sie nicht – bis zum Tag, an dem Sie sie brauchen. Und dann
braucht sie Sie wieder. So ist es bei ganz vielem.
Sie haben ein sehr
starkes Vertrauen in den Menschen, dass er das lernt, was er fürs Leben
braucht.
Ja. Der Mensch merkt
nicht einmal, dass er gerade damit beschäftigt ist, etwas zu lernen. Eines
Morgens wacht er auf und merkt: Eigentlich weiss ich so viel über ein
bestimmtes Thema, das mir unter die Haut ging. Alles, was wir einmal lernen
mussten und wieder vergessen haben, ist verlorene Zeit und verlorene Energie.
Meistens geht das nach dem Prinzip: Wo ist eine Wissenslücke, ein Loch? Das
müssen wir stopfen. Wo bist du schwach? Da musst du üben. Es sollte vielmehr
darum gehen: Wo bist du gut? Das ist dein Element.
In unsere
Gesellschaft hört man häufig den Ruf nach mehr naturwissenschaftlichen Fächern
und Informatik, genannt MINT, weil das sind die Fächer, die die Jobs von morgen
erfordern.
In 30 Jahren braucht
man keine Qualifikationen. Die Menschen wollen nur noch Kompetenzen und zwar
solche, für die es keine Fächer oder Diplome gibt.
Für Kreativberufe
meinen Sie?
Kreativität ist zum
Beispiel eine angeborene Eigenschaft des Menschen, die verschwindet, wenn man
nur noch organisiert funktioniert.
Schule ist auch ein
sozialer Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichen Schichten mit
unterschiedlichen Hintergründen aufeinander treffen. Ist das etwas, das Ihren
Kindern fehlt?
Es ist immer lustig,
dass man sich wegen meinen Kindern Sorgen macht, in der Zeit, in der ich mir um
andere Kinder Sorgen mache.
Ich mache mir keine
Sorgen um Ihre Kinder.
Das Kind kommt auf
die Welt, öffnet die Augen und merkt, es gibt einen Ozean an Unterschieden. Da
gibt es alle Hautfarben, alle Religionen, alle Berufe, alle Geschlechter. Das
Kind hat keinen Grund zu denken, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Es könnte
meinen, es gibt genauso viele Geschlechter, wie es Menschen gibt. Das Kind hat
überhaupt keinen Grund dafür, sich mit einer Gruppe zu identifizieren, weil es
die Gruppen gar nicht sieht. Dem Kind sind auch Rassismus und Sexismus fremd.
Toleranz brauchen Kinder nicht zu lernen, denn sie kennen ja gar keine
Intoleranz. Sie kennen auch keine Hierarchien zwischen Fächern und Berufen. Für
ein Kind ist Stricken und Mathematik gleich. Das Kind begeistert sich genauso
sehr für den Fensterputzer wie für den Astronauten. Lebewesen sind soziale
Maschinen per se. Sie gehen auf andere Kinder zu, verbinden sich wahrhaftig,
weil sie nicht denken, du bist gross, stark und ich bin klein, schwach.
Verschiedenartige Kinder, meinten Sie? Die sind in der gleichen Klasse immer
gleich alt. Verschiedenartige Menschen jeden Alters – das ist die Realität.
Später sind sie auch nicht ausschliesslich unter Gleichaltrigen.
In Basel erhalten
Kinder bereits im Kindergarten Lernberichte und füllen mit den Lehrpersonen
Selbsteinschätzungen aus. Das ist genau das Gegenteil von der Haltung, die Sie
preisen.
Wenn wir nicht von
uns und unseren Erfahrungen, Konzepten, Methoden ausgehen, sondern vom Kind,
dann würden wir sehen, dass das Kind nicht so funktioniert. Das Kind möchte
keine Bewertungen.
Wie erklären Sie
sich, dass Schulen zunehmend auf Leistung setzen?
Ich habe keine
Antwort darauf, weil ich nicht darüber nachdenke. Das Kritisieren vom Alten
bringt uns nicht weiter. Die Menschen sind nicht mehr gegen etwas, sie sind
mehr und mehr für etwas. Diese Ökologie der Kindheit, von der ich berichte, ist
eine neue Haltung des Vertrauens. Eine Haltung, die dem Kind sagt: Ich hab dich
lieb, weil du so bist, wie du bist. Das tut jedem gut.
Sie haben viele
Berufe. Sie sind Autor, Musiker, Vortragsredner. Wenn alle so leben würden, wie
Sie, wer würde den Müll wegbringen, wer würde Bäcker oder Beamter werden?
Ganz einfach: Mein
Sohn oder Ihre Tochter. Sie würden das tun, solange sie keine Hierarchien
zwischen den Berufen kennen. Das Tolle ist, wenn sich das Kind mit dem Müllmann
oder dem Bäcker verbindet, merkt dieser plötzlich: Ich jobbe nicht, ich mache
etwas Wunderbares, das dieses Kind bewundert. Wenn man etwas tut, das man
wirklich, wirklich will, gibt es keine Grenzen, das man das nicht erreichen
kann. Ich glaube, das würde gehen. Dann hätten wir begeisterte Beamte,
begeisterte Bäcker. Und alle hätten das Gefühl, dass sie die richtige Person am
richtigen Ort sind und dass das, was sie tun, wichtig ist für die anderen und für die
Welt.
Schon wieder ist uns ein neuer Prophet geboren.
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