Die Tagesschule hat
in der Schweiz keine Tradition. Aber sie hat das Potenzial, mit den heute
absehbaren Anforderungen an die Volksschule klarzukommen.
Staatsschule oder Volksschule der Zukunft? NZZ, 5.12. von Walter Bernet
Wo in
der Bildungspolitik mit Studien gestritten wird, geht es oft um die
Verhinderung von Innovation. Neues hat in der Regel untersuchungstechnisch
einen entscheidenden Nachteil: Es ist noch unausgereift. So geht es zurzeit dem
Modell der Tagesschule, das in der Schweiz keine Tradition hat. Trotzdem kann
es auf Anhänger zählen. «Man wird in hundert Jahren noch von diesem Tag
erzählen», sagte der Zürcher Stadtrat Gerold Lauber im vorletzten Sommer, als
er eine Pionierschule des städtischen Projekts Tagesschule 2025 eröffnete. Und
als Bildungsdirektorin Silvia Steiner diesen Frühling ihre Vorstellung einer
gesetzlichen Verankerung der Tagesschule vorstellte, bezeichnete sie ihren
Gemütszustand als «euphorisch». Für beide und für viele andere steht fest: Die
Tagesschule ist die Antwort der Volksschule auf die derzeitigen
gesellschaftlichen Veränderungen und die Herausforderungen der Zukunft.
Die
Stadt Zürich macht deshalb vorwärts. Bald sollen 30 von 100 Schulen nach dem
neuen Modell funktionieren; nächstes Jahr können die Stadtzürcher sich dazu an
der Urne äussern. Und irgendwann, ein paar Jahre nach dem optimistisch zum
Namensbestandteil des Projekts gemachten Jahr 2025, sollen alle Zürcher Schulen
Tagesschulen sein. Das ist immer noch ein ehrgeiziger Fahrplan, zieht man in
Betracht, dass es heute im Kanton Zürich kaum mehr als ein halbes Hundert
Tagesschulen gibt, von denen nur etwa die Hälfte über eine reine Addition von
Unterricht und Betreuung hinausgehen.
Sand im Getriebe
Nun hat
zu Beginn des Schuljahres eine vom Nationalfonds unterstützte Studie der
Universität Bern etwas Sand ins Getriebe gestreut. Erst- und Zweitklässler, die
eine Tagesschule besuchen, erbringen laut ihr keine besseren Leistungen und
weisen kein reiferes soziales und emotionales Verhalten auf als ihre Kameraden
ohne Tagesbetreuung. Nur in Mathematik zeigte sich bei Kindern aus ärmeren und
bildungsferneren Familien ein positiver Effekt. Fazit der Studie: Die
untersuchten Schulen aus der ganzen Deutschschweiz sind eher auf Betreuung als
auf Bildung ausgerichtet. Die gezielte Förderung im Sozialverhalten oder in der
Sprache, wie sie etwa in den USA praktiziert wird, findet kaum statt.
Hat
Stadtrat Lauber mit «hohlen Versprechungen und geschönten Zahlen» operiert, um
eine «Staatsschule à la DDR» durchzudrücken, wie die städtische SVP aus der
Studie schloss? Es stellen sich zwei Fragen. Die erste lautet: Welche
Erwartungen hat man an die Tagesschulen? Und die zweite heisst: Wie muss die
Schule ausgestaltet sein, um diese Erwartungen erfüllen zu können?
Im
Zürcher Volksschulgesetz von 2005 kommt der Begriff Tagesschule nicht einmal
vor. Seine Karriere ist in der ganzen Schweiz noch jung. Die erste Tagesschule
der Schweiz, jene an der Feldblumenstrasse in Zürich Altstetten, wurde 1980
eröffnet. Ursprünglich ein Postulat der Linken und der Frauenorganisationen,
traten seit den 1990er Jahren auch Wirtschafts- und Arbeitgeberorganisationen
sowie bürgerliche Parteien mit der Forderung nach familien- und
schulergänzenden Betreuungsangeboten in Tagesschulen auf. Während in
Deutschland und Österreich die schlechten Pisa-Resultate und das Anliegen der
Chancengleichheit den Ausbau des Angebots an Ganztagesschulen antrieben, wurde
in der Schweiz die Nachfrage nach ganztägiger Betreuung zum Motor der
Entwicklung.
Pädagogischer Mehrwert
Pädagogische
Überlegungen standen in den politischen Debatten nie im Vordergrund. Deshalb
blieb es lange beim Nebeneinander von traditioneller Schule und Tagesstruktur
mit Betreuung über Mittag und in den Randstunden, selbst wenn das Angebot unter
dem Namen Tagesschule daherkam. Kritik daran entzündete sich an den zu langen
Mittagszeiten, den dadurch verteuerten Betreuungskosten, den unterschiedlichen
Regimen in Hort und Schule und dem ständigen Wechsel der Beziehungspersonen.
Mütter wollen unbelasteten Gewissens zur Arbeit gehen. Dafür müssen sie ihre
Kinder in guten Händen wissen. Betreuung aus einer Hand, heisst das Stichwort
dafür.
Dass
mit Tagesschulen auch ein pädagogischer Mehrwert erreichbar ist, blieb in der
Öffentlichkeit zwar lange wenig beachtet, spielte in den Fachdiskussionen aber
stets eine grosse Rolle: Bessere Schulleistungen namentlich der Schwächsten,
mehr Integration und Chancengerechtigkeit durch gezielte Förderung und durch
das Lernen voneinander waren die Erwartungen an die Verknüpfung von Unterricht
und Betreuung unter der Ägide der Schule.
Nicht
die Details des Angebots werden die Qualität und den Mehrwert der Schule
ausmachen, sondern die enge Verknüpfung und Verzahnung von Schule und
Betreuung.
Es sind
diese Diskussionen um Erwartungen und Angebot, die zurzeit in den Stadtzürcher
Pilotschulen, aber auch in Uster, Wallisellen und anderswo geführt werden.
Wichtig ist zunächst einmal, dass sie geführt werden, und zwar im Rahmen eines
gemeinsamen Gesamtkonzepts. Nicht die Details des Angebots werden die Qualität
und den Mehrwert der Schule ausmachen, sondern die enge Verknüpfung und
Verzahnung von Schule und Betreuung, die gemeinsame Haltung von Lehrern und
Betreuern. Das aber ist ein äusserst anforderungsreiches Programm.
Mit der
Formel «Staatsschule à la DDR» vertritt die Stadtzürcher SVP die traditionelle
Position, dass der Staat für die formale Bildung zuständig sei, für alles
andere aber die Eltern. Nicht überall, aber in vielen Städten und Gemeinden ist
diese Vorstellung von der gesellschaftlichen Realität überholt worden. Dass
beide Eltern berufstätig sind, ist eher zur Regel als zur Ausnahme geworden. In
der Stadt Zürich rechnet man damit, dass der Anteil der auf Betreuung
angewiesenen Kinder in kurzer Zeit von 50 auf 80 Prozent steigen wird. Zudem
gibt es ein gesellschaftliches Interesse daran, jene Kinder, deren Eltern wegen
ihrer Bildungsferne nicht die notwendige Unterstützung leisten können, auf Kurs
Richtung Arbeitswelt zu behalten.
Staatliche Erziehung?
Gegen
den obligatorischen Besuch der Schule haben sich Eltern vor bald 200 Jahren
gewendet, weil die Kinder arbeiten sollten. Jetzt wehrt sich die SVP gegen die
Verstaatlichung von Erziehungszeit. In der Tat stellt die Verzahnung von
formaler Bildung und informellem Lernen in diesen Schulen die traditionelle
Aufgabenverteilung zwischen Staat und Eltern bis zu einem gewissen Grad
infrage. Die nun in Erprobung befindlichen Modelle tragen den Bedenken aber
Rechnung: Es bleibt bei obligatorischen Kernzeiten, in die zum Teil die
Mittagsbetreuung eingebaut ist. Für die Randzeiten ist das Tagesschulangebot
fakultativ und separat kostenpflichtig, vielenorts zu sozial abgestuften
Tarifen. Von einer übergriffigen Staatsschule sind wir weit entfernt.
Es
gilt, das ganze Haus der Bildung in den Blick zu nehmen: Dieses muss
fertigwerden mit äusseren Bedingungen wie rasch zunehmenden Schülerzahlen,
grosser gesellschaftlicher Heterogenität, neuen Anforderungen der Arbeitswelt,
aber auch einem sich wohl verschärfenden Lehrermangel und den mit der
Digitalisierung verbundenen neuen Formen des Lehrens und Lernens. Wer die neuen
Tagesschulen besucht, wird das grosse Engagement und die organisatorische
Leistung der Lehrer- und Betreuerteams bewundern, aber auch etwas erschrecken
ob des engen Geflechts von Verhaltensregeln und der aufwendigen Aufsicht.
Sollen diese Schulen zum Fliegen kommen beziehungsweise die erreichte Flughöhe
halten oder noch steigern können, müssen sie darauf achten, sich nicht selber
zu überfordern.
Ein starker Rahmen
Man mag
die Euphorie einiger Politiker belächeln. Aber mit der hohen Präsenz und der
engen Kooperation von Lehrkräften und Betreuern hat die Tagesschule tatsächlich
das Potenzial, mit den heute absehbaren Anforderungen an die Volksschule
zurechtzukommen. Sie schafft einen starken Rahmen, der das flexible Eingehen
auf neue Bedürfnisse grundsätzlich zulässt – bis zu neuen Zeitstrukturen
jenseits des 45-Minuten-Rhythmus und der starren Klassen. Die Zürcher
Bildungspolitik tendiert zurzeit zur Stärkung der Lernbeziehungen in den
Klassen. Dieses Szenario könnte nur schon am Mangel an ausgebildeten
Lehrkräften scheitern. Im Rahmen der Tagesschulen wären andere, neuen
Lernformen vielleicht angemessenere Modelle durchaus denkbar, bis hin zum
Rückgriff auf mehr Hilfskräfte und Spezialisten. Voraussetzung wäre dann
allerdings ein Kernteam aus Betreuungs- und Lehrkräften mit hohen Pensen und
grossem Engagement. Wir sprechen hier vom Potenzial der Tagesschulen. Was davon
am Ende genutzt wird, bestimmen die künftigen Bedürfnisse – und die
Steuerzahler.
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