Wir müssen Abschied
nehmen. Von etwas, das bislang Allgemeingut war oder zumindest die vergangenen
vier, fünf Generationen verbunden hat. Durch Mühen. Durch Frust. Durch Freude,
wenn es endlich klappte, und man endlich in der Schule bei den Grossen war. Durch
Witze, die man über jene machen konnte, die es einfach nicht auf die Reihe
brachten. Die Rede ist von der Schnürchenschrift oder Schnürlischrift, wie sie
in der Deutschschweiz genannt wird. Auch bekannt unter verbunden oder
zusammengehängt schreiben. Diese Form des Schreibens ist ab Sommer
Vergangenheit und wird durch eine Basisschrift ersetzt. Die Schnürlischrift
muss in die Abteilung Kunst wechseln, wo sie dann vermutlich bald so verstaubt
und einsam vor sich hin modern wird wie das Schreiben mit dem Gänsekiel, das
Versiegeln von Briefen mit einem Stempel oder das Fahren auf dem Hochrad.
In Basel wird ab Schuljahr 2016/17 die Basisschrift eingeführt, Bild: Florian Bärtschiger
Goodbye, geliebt-gehasste Schnürlischrift, Basler Zeitung, 15.1. von Mischa Hauswirth
Doch zunächst ein
Geständnis: Die mit Abstand schlechteste Note in meiner Schulkarriere musste
ich im Fach «Schönschreiben» hinnehmen. 1–2 stand im Zeugnis und brannte sich
in mein Gedächtnis ein, ebenso wie das Gewitter zu Hause, als mich meine Mutter
ausschalt und eindringlich forderte, ich solle aufhören zu «chafle» und mir
endlich mehr Mühe geben.
Damals, im Schulmief des
noch miefigeren Städtchens Olten, in einer Schule am Ende der Welt, es war so
1979 oder 1980, war das Beherrschen der Schnürlischrift mindestens so angesehen
wie das Abliefern eines fehlerlosen Diktates.
Ivan, Godfather of the
Sauklaue
Wenn ich gewusst hätte,
was die Hirnforschung heute weiss, nämlich dass Buben viel mehr Mühe haben mit
der Feinmotorik als Mädchen und deshalb schon allein physisch benachteiligt
sind, hätte ich das zu meiner Verteidigung vorgehalten. «Ich bin ein Knabe, die
können nicht so schön schreiben wie Mädchen, so wie Mädchen nicht so schnell
die Kletterstange hochkommen!»
Heute würde mich bestimmt
eine Armada von Sonderschullehrerinnen und Superpädagoginnen verteidigen und
therapieren wollen. Aber damals war so etwas nicht üblich. Die Forschung hatte
diese geschlechterspezifische Ungerechtigkeit noch nicht aufgedeckt.
Zum Glück gab es da Ivan.
Er war mein Banknachbar und meine einzige Rettung. Ich tröstete mich an ihm,
weil er noch unfähiger schien als ich. Er hatte etwa die gleich schlechte Note
in dieser bubenfeindlichen Schuldisziplin und war deshalb so etwas wie mein
Weggefährte in der aussichtslosen Schlacht gegen das Gekringel und Geschlängel
auf einem Quadratzentimeter. Gemeinsam stürzten wir uns ins Schönschreibgetümmel,
im sicheren Wissen um den nahenden Untergang.
Ivan war für mich der
Godfather of the Sauklaue. Meine Schrift konnte sich nie entscheiden, ob sie
aufrecht, nach hinten oder nach vorn gebeugt sein wollte, mal waren Buchstaben
zu gross, mal musste ich den Anfang reinflicken, doch es war so etwas wie eine
Schrift, auch wenn sie in den Augen des Lehrers mehr einer kreativen Verwüstung
des Blattes gleichkam. Ivans Blätter hingegen sahen aus, als hätte er versucht,
eine Zeichnung vom Fell der Dalmatiner zu machen und die Punkte dann mit
Gekringel zu verbinden. Alles voller Tintenflecken. Der Lehrer schüttelte
jeweils nur gequält den Kopf und sagte schon gar nichts mehr. Unsere Bank war
für ihn in Sachen Schnürlischrift die Insel der Verdammten.
Doch es muss festgehalten
werden: Ivan wäre gar nicht so schlecht gewesen mit dem geschwungenen grossen S
oder dem noch geschwungeneren grossen X, den kleinen A und O, den dickbauchigen
B oder D – sein echtes Problem war der Fülli (Schweizerdeutsch für Füllfederhalter).
Dieser leckte wie die kaputte Ölwanne bei einem alten VW-Käfer. Woran Ivan
nicht ganz unschuldig war. Denn er hatte auf dem Schulweg versucht, mit dem
Fülli Schrauben aus einem Briefkasten herauszudrehen, und dabei die grazile
Feder so arg verbogen, dass er sie mit dem Schuh wieder zurückbiegen musste.
Das Problem bei dieser
leicht brachialen Intervention: Der Fülli glitt nicht mehr und hatte rein
technisch seine Fähigkeit eingebüsst, jene perfekten Schnörkeltänze zu
vollführen, wie die Füllis der Strebermädchen Leila und Monika dies taten.
Stattdessen kratzte Ivans Fülli Furchen auf das Blatt, als wäre er ein
Sackmesser und das Blatt die Rinde einer Eiche. Und eben die Flecken. Nach
jedem dritten Buchstaben leckte der Fülli und sonderte eine Lache ab, gerade so
gross, dass sie das halbe Wort vorher und oberhalb verdeckte.
Ivans Blatt sah bald aus,
als hätte es Tinte geregnet. Wenn er dann noch – es war wirklich keine
Absicht gewesen! – mit der Hand in einen solchen Tintensee rutschte, war
der Einser auf sicher. Zu seiner Verteidigung kann ich bezeugen: Ivan hat sich
wirklich alle Mühe gegeben und wollte die Schnürlischrift beherrschen.
Wären wir heute Kinder,
würden uns vermutlich die Vorschläge aus Finnland, die Handschrift aus dem
Unterricht zu verbannen, sicher gut gefallen. Kinder schreiben, wenn sie schon
schreiben müssen, lieber mit einer Tastatur, sagen einige finnische Pädagogen.
Künftig werde das perfekte Beherrschen des Zehnfingersystems wichtiger
sein – ob jemand Schnürlischrift kann, wird Nebensache. In einer digitalen
Welt mit Computer, WhatsApp, Chats, SMS und Autokorrekturprogrammen braucht es
sowieso kaum noch Papier und Tinte, um etwas zu schreiben.
Handschrift hilft beim
Lernen
Während die einen eine
Anpassung an die Moderne und ihre technische Entwicklung begrüssen, ist die
Abschaffung der Schnürlischrift für die anderen ein weiterer Beleg dafür, wie
sich der Mensch den Maschinen unterordnet und jede Individualität freiwillig
aufgibt. Computer entern das Persönliche. Mit dem Ende der Schnürlischrift
sehen einige bereits den Zerfall von Bildung voraus. Die Zahl jener, die
schlecht oder gar nicht mehr schreiben können, werde steigen, lautet die Sorge
eines Zürchers Hirnforschers.
Dass die Handschrift etwas
sehr Persönliches ist und ein von Hand geschriebener Brief in der Skala der
Aufmerksamkeit und der Sympathien eine andere Stufe belegt als ein
Computerbrief aus dem Drucker, auf diese Einschätzung können sich sicher viele
einigen. Dass von Hand Geschriebenes aber auch besser ist fürs Lernen, wird
wenig erwähnt. Die finnische Hirnforscherin Minna Huotilainen fand heraus, dass
Studenten, die sich handschriftliche Notizen machen, bessere Lernresultate
aufweisen als die anderen. «Unser Hirn speichert angesichts der Flut von
Informationen nur jene Informationen ab, mit denen man sich länger oder
intensiv beschäftigt hat.»
Auch wenn das Schreiben
mit der Tastatur schnell geht – beim Mitschreiben ist das Gehirn gezwungen,
mitzudenken und zusammenzufassen, was sich letztlich positiv auf das Verarbeiten
und Memorieren von Information auswirkt.
Hochschullehrer
beobachten, wie nicht nur die Handschrift verkümmert, sondern mit ihr auch die
sprachliche Virtuosität, die Grammatikkenntnis, das Gefühl für Sprache. Die
Schnürlischrift wird wohl künftig nur noch in Kunstkursen angeboten, wie
Kalligrafie oder meditatives Malen. Etwas Gutes allerdings hat diese
Entwicklung (wenn auch nur aus der Sicht eines ehemals Leidgeplagten): Sie
beendet das Diskriminieren von Kindern, nur weil sie nicht so schön schreiben
können.
Die Abschaffung der Schnüerlischrift ist nur ein weiteres Kapitel des gefährlichen Trends den Schülern vermeintlich das Lernen zu erleichtern. Man will dem Kind das Erlernen der Schnüerlischrift nicht mehr zumuten. Damit geht jedoch jedes Mal unausgesprochen die verheerende Botschaften mit, "Du kannst es nicht" oder "Ich traue es Dir nicht zu". Anstatt das die Schüler angespornt werden, "das kannst Du auch", auch wenn es Dir am Anfang Mühe bereitet, Generationen von Schülern vor Dir haben es auch gekonnt, warum solltest Du es nicht können? Das "Steine aus dem Wege räumen" bei den Kindern wirkt sich verheerend aus, es entmutig und schwächt sie und hilft das allgemeine Lernniveau zu senken, was man dann mit einfacheren Prüfungen zu kaschieren versucht. Wir sind auf dem besten Wege auf das Niveau des angelsächsischen Schulsystems mit der 20:80 Gesellschaft herunter zu fahren.
AntwortenLöschenGenau dasselbe spricht Markus Somm in seinem Kommentar "Schule des Larifari" vom 16.1. an.
AntwortenLöschen