15. Januar 2016

Breite öffentliche Diskussion gefordert

Übrigens ...


… forderten kürzlich Lehrer im Oberwallis vom Erziehungsdirektor die sofortige Inkraftsetzung des neuen Lehrplans 21 (LP 21). Im Diskurs wurde kaum beachtet, dass gegen LP 21 in 13 der deutschschweizerischen Kantone Initiativen laufen oder in Vorbereitung sind, nämlich in AG, AI, BE, BL, GR, LU, SG, SO, SZ, TG, ZG, ZH. Die Gründe für diese Opposition gegen das nach Bologna und Harmos nun dritte am grünen Tisch von Bildungstechnokraten entworfene Reformprojekt LP 21 sind schwerwiegend. 
Übrigens, Kolumne Walliser Bote, 15.1. von Alois Grichting

Sie wurden kürzlich von Alain Pichard aus Biel und Beat Kissling aus Zürich in einer 34-seitigen Broschüre «Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21» zusammengefasst (Beziehbar bei A. Pichard: arkadi@bluemail.ch). Wenn man darin die Überlegungen der verschiedenen Autoren (Pädagogik-Professoren, Politiker, Schriftsteller, Lehrer, Schulleiter usw.) liest, frägt man, ob sich die erwähnten Oberwalliser Lehrenden überhaupt bewusst sind, was ihnen LP 21 zumutet, bzw. bringen wird. Offenbar sind sie froh darüber, dass ihnen LP 21 nicht nur sagt, was sie genau unterrichten müssen, sondern auch noch, wie man es tun müsse. LP 21 ist deshalb ein massiver Steuerungsversuch des Unterrichts und kommt einem völligen Paradigmenwechsel der Schule gleich. Nachstehend möchte ich deshalb aus der erwähnten Schrift mit Angabe von Seitenzahlen einige Argumente gegen LP 21 zitieren.

- Entstehung des Lehrplans. «Der Lehrplan wurde in einem hermetisch abgeschlossenen Gremium ausgeheckt. Die Leute mussten eine Schweigeerklärung unterschreiben» (28). Es fand also keine Anhörung oder gar öffentliche Debatte statt. Eine Schulleiterin meinte dazu: «Wir dürfen zuhören, wir dürfen applaudieren» (32). Der baselstädtische Erziehungsdirektor Eymann antwortete auf die Frage der Zeitung «ZEIT», ob er den LP 21 nicht durch einen Volksentscheid absegnen lassen müsse: «Zum Glück nicht, muss ich ehrlicherweise sagen» (30). Nennt man so was Demokratie? «Die demokratische Kontrolle über die Entwicklung unseres Schulwesens ist zurückzugewinnen» (7).

- «Kompetenz» und OECD. Die 557 Seiten starke und 4753 vom Schüler zu erwerbende «Kompetenzen» aufzählende Urfassung des Lehrplans 21 wurde zwar aufgrund heftiger Proteste etwas vereinfacht, in den wesentlichen Zügen aber nicht verändert: Es gibt heute noch 363 Kompetenzen, aber 2304 Kompetenzstufen. Der in LP 21 sehr nebulöse Begriff «Kompetenz» orientiert sich aus der OECD (Organisation für europäische Zusammenarbeit und Entwicklung). Verschiedene Autoren sprechen deshalb von «Vermarktlichung des Bildungswesens» (6), von «Industrialisierung des Wissens» (22). Kritisches Beispiel: «Eine kataloghafte Auflistung von über zehn Kompetenzen im Bereich der Literatur im Deutschunterricht z. B. ist Beweis dafür, dass wir im Grunde genommen vergessen haben, was Literatur ist und welche wunderbare Bedeutung sie für Schule, Unterricht, ja für die Bildung eines jungen Menschen im humanistischen Sinne hat» (30). Ferner daselbst: Es gehe LP 21 vor allem darum, «Menschen zu für den Markt kompetenten Wesen heranzubilden, die sich darin optimal bewegen können». Ganzheitliche humanistische (menschliche) Bildung ist für die «LP 21-Bildungsexperten» offenbar Mumpitz.

- Kritik von links. Keineswegs wird LP 21 diesmal nur von «Ultrakonservativen», sondern auch von links in den Boden kritisiert. Die Basler Ständerätin Anita Fetz (SP) tut dies in einem Beitrag mit dem Titel «Der Lehrplan 21 ist gescheitert» (10). Der ehemalige Basler SP-Parteipräsident Roland Stark äussert sich sehr kritisch in seinem Text «Der Elfenbeinturm beginnt zu bröckeln»(17), Walter Herzog in «Auswuchs einer masslosen Bildungspolitik» (19).

- Gewaltige Kosten. Anita Fetz meint zur Einführung des LP 21 in Basel-Stadt: «Die ganze Übung ist teuer. Sehr teuer. Und das Geld fliesst in Beton, nicht in Bildung. In Basel verschlingen die Schulhausumbauten mehrere Hundert Millionen Franken» (10). Die Einführung von LP 21-Lehrmitteln bringt ebenfalls gewaltige Kosten. Auf Millionen freut sich die Lehrmittelindustrie. Wissen das die LP 21 - Bildungsverwalter nicht?

- Lehrer = «Lerncoach»; Kontrolle. Der Lehrer wird durch LP 21 zu einer Art «Lerncoach» für Kompetenzen degradiert. Er ist eine «jedes weiteren Nachdenkens entbundene und am Gängelband der Unterrichtsmittel hängende Lehrperson… die Schülerinnen und Schüler für den nächsten Test fit macht» und Handlangerin «für die mit der Schulbürokratie verfilzte Expertokratie» (4). Wollen unsere Lehrer dies wirklich? Wollen sie das Ende freien Lehrens und Lernens, d.h. sich sozusagen selbst abschaffen? Totale Kontrolle?


Als ehemaligem Lehrer erscheint mir die von reinem Ökonomismus geprägte Reformitis von LP 21 vollkommen verfehlt. Unser Erziehungsdirektor täte gut daran, den grundsätzlichen Steuerungsversuch LP 21 einer breiten öffentlichen Diskussion zu stellen und ihn nicht auf die Schnelle durchzuziehen… 

Alois Grichting ist Ingenieur, Volkswirtschafter, Lehrer i. R., Publizist 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen