Zuletzt fand ein alter Trend neue Beachtung:
Seit Mitte der Neunzigerjahre tut sich eine Schere bei der Maturaquote auf.
Mädchen haben die Buben abgehängt. Über die Ursachen debattieren Lehrer,
Politiker und Bildungsforscher seit Jahren. Doch ein Aspekt ging bislang in der
Diskussion unter – dabei trifft er besonders in der Schweiz zu.
Die Angst, als Streber zu gelten, kann die
Leistung beeinträchtigen. Von dieser Furcht betroffen sind allerdings
hauptsächlich Buben. Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm schreibt in einer
Kolumne, die in der Zeitung «Nordwestschweiz» erschienen ist, es gebe einen
deutlichen Zusammenhang zwischen guten Noten, Unbeliebtheit und dem Geschlecht.
«Im Gegensatz zu den Mädchen ist das Wort ‘Streber’ bei vielen Knaben negativ besetzt»,
sagt Stamm. Es sei deshalb nicht erstaunlich, dass sich viele schulisch sehr
gute Buben dem Druck zum Mittelmass beugen – und ihre Noten sinken. Die Kinder
würden dabei einem «heimlichen Lehrplan» folgen, sagt Stamm, einem versteckten
Code, der vorgibt, was cool ist und was nicht.
Die Angst der Buben, Südostschweiz, 5.12. von Yannick Nock
Mittelmass oder Einzelgänger?
Das Phänomen wurde in der Forschung bisher
kaum berücksichtigt. Eine der wenigen Studien kam vor knapp zehn Jahren zum
Schluss, dass Kinder im deutschsprachigen Raum grösseren Gruppendruck verspüren
als in den USA, Israel oder Kanada. Stamm hat ein ähnliches Phänomen in einer
eigenen Studie beobachtet. Demnach würden vor allem Buben den Schulerfolg im
Schnitt für weniger wichtig halten als Mädchen. Knaben und junge Männer hätten
in den letzten Jahren ihr Interesse mehr auf die ausserschulische Zeit
verschoben, sagt Stamm: auf Freunde, Sport, Vereine oder auf ihre sonstigen
Freizeitbeschäftigungen. Sportliche Leistungen würden in der Schule hoch
angesehen, schulische nicht.
Oft werden gute Schüler wegen ihrer Leistung
zum Aussenseiter, dabei wünschen sie sich nur, dazuzugehören. Das führt zu
einem Dilemma, das ihre späteren Karrierechancen beeinflusst. Sie müssen sich
entscheiden: Dem eigenen Ehrgeiz treu bleiben und ein Dasein als Einzelgänger fristen
oder bewusst schlechte Noten in Kauf nehmen, um Teil der Klasse zu werden. Das
Ergebnis ist ernüchternd: «Jeder Dritte wählt den Weg ins Mittelmass», sagt
Stamm.
Die neuen Bildungsverlierer
Waren in den Siebzigerjahren Frauen die
Bildungsverlierer, weil sie viel weniger gefördert wurden, haben sich die
Vorzeichen nun umgekehrt. «Viele Mädchen haben Gas gegeben und die bestmögliche
Ausbildung gemacht», sagt Stamm. Gleichzeitig hätten sich die Schulen stärker
auf die Bedürfnisse der Schülerinnen ausgerichtet, was sich bei der neuen Matur
mit Schwerpunkt auf Sprachen widerspiegelt. Dort sind Mädchen gemäss
Pisa-Studie oft besser.
Allerdings geht der Wandel tiefer. «Der
Wettbewerb ist zunehmend aus der Schule verschwunden», sagt Stamm. Dabei würden
sich die Knaben gerne messen. Die neuen schulischen Methoden zielten auf
Gleichbehandlung. Das sei ein Fehler. «Buben werden als die Abweichung zur Norm
gesehen», sagt Stamm, dabei sei ihr Verhalten nichts Schlimmes, sondern nur ein
anderes als bei den Mädchen. Dieser Aspekt und die Angst, als Streber zu
gelten, gingen in der Debatte über die «neuen Bildungsverlierer» unter.
Urs Moser, Bildungsforscher an der
Universität Zürich, sieht die Mädchen am Gymnasium ebenfalls im Vorteil. Das
liege allerdings auch daran, dass sie in der Regel reifer seien, mehr Wert auf
die schulische Leistung legten und eher bereit seien, für die Aufnahmeprüfung
zu büffeln. Doch für die Buben sieht nicht alles düster aus. Sie werden in
einer anderen Sparte bevorzugt: «Die Berufsbildung ist stärker auf die Männer
ausgerichtet», sagt Moser. Das Angebot decke mehr Interessen der Buben ab.
Zudem möchten junge Männer schneller über ein eigenes Einkommen verfügen und
beginnen deshalb oft lieber eine Lehre als die Matur.
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