5. Dezember 2017

Buben wollen keine Streber sein

Zuletzt fand ein alter Trend neue Beachtung: Seit Mitte der Neunzigerjahre tut sich eine Schere bei der Maturaquote auf. Mädchen haben die Buben abgehängt. Über die Ursachen debattieren Lehrer, Politiker und Bildungsforscher seit Jahren. Doch ein Aspekt ging bislang in der Diskussion unter – dabei trifft er besonders in der Schweiz zu.
Die Angst, als Streber zu gelten, kann die Leistung beeinträchtigen. Von dieser Furcht betroffen sind allerdings hauptsächlich Buben. Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm schreibt in einer Kolumne, die in der Zeitung «Nordwestschweiz» erschienen ist, es gebe einen deutlichen Zusammenhang zwischen guten Noten, Unbeliebtheit und dem Geschlecht. «Im Gegensatz zu den Mädchen ist das Wort ‘Streber’ bei vielen Knaben negativ besetzt», sagt Stamm. Es sei deshalb nicht erstaunlich, dass sich viele schulisch sehr gute Buben dem Druck zum Mittelmass beugen – und ihre Noten sinken. Die Kinder würden dabei einem «heimlichen Lehrplan» folgen, sagt Stamm, einem versteckten Code, der vorgibt, was cool ist und was nicht.
Die Angst der Buben, Südostschweiz, 5.12. von Yannick Nock


Mittelmass oder Einzelgänger?
Das Phänomen wurde in der Forschung bisher kaum berücksichtigt. Eine der wenigen Studien kam vor knapp zehn Jahren zum Schluss, dass Kinder im deutschsprachigen Raum grösseren Gruppendruck verspüren als in den USA, Israel oder Kanada. Stamm hat ein ähnliches Phänomen in einer eigenen Studie beobachtet. Demnach würden vor allem Buben den Schulerfolg im Schnitt für weniger wichtig halten als Mädchen. Knaben und junge Männer hätten in den letzten Jahren ihr Interesse mehr auf die ausserschulische Zeit verschoben, sagt Stamm: auf Freunde, Sport, Vereine oder auf ihre sonstigen Freizeitbeschäftigungen. Sportliche Leistungen würden in der Schule hoch angesehen, schulische nicht.

Oft werden gute Schüler wegen ihrer Leistung zum Aussenseiter, dabei wünschen sie sich nur, dazuzugehören. Das führt zu einem Dilemma, das ihre späteren Karrierechancen beeinflusst. Sie müssen sich entscheiden: Dem eigenen Ehrgeiz treu bleiben und ein Dasein als Einzelgänger fristen oder bewusst schlechte Noten in Kauf nehmen, um Teil der Klasse zu werden. Das Ergebnis ist ernüchternd: «Jeder Dritte wählt den Weg ins Mittelmass», sagt Stamm.

Die neuen Bildungsverlierer
Waren in den Siebzigerjahren Frauen die Bildungsverlierer, weil sie viel weniger gefördert wurden, haben sich die Vorzeichen nun umgekehrt. «Viele Mädchen haben Gas gegeben und die bestmögliche Ausbildung gemacht», sagt Stamm. Gleichzeitig hätten sich die Schulen stärker auf die Bedürfnisse der Schülerinnen ausgerichtet, was sich bei der neuen Matur mit Schwerpunkt auf Sprachen widerspiegelt. Dort sind Mädchen gemäss Pisa-Studie oft besser.

Allerdings geht der Wandel tiefer. «Der Wettbewerb ist zunehmend aus der Schule verschwunden», sagt Stamm. Dabei würden sich die Knaben gerne messen. Die neuen schulischen Methoden zielten auf Gleichbehandlung. Das sei ein Fehler. «Buben werden als die Abweichung zur Norm gesehen», sagt Stamm, dabei sei ihr Verhalten nichts Schlimmes, sondern nur ein anderes als bei den Mädchen. Dieser Aspekt und die Angst, als Streber zu gelten, gingen in der Debatte über die «neuen Bildungsverlierer» unter.

Urs Moser, Bildungsforscher an der Universität Zürich, sieht die Mädchen am Gymnasium ebenfalls im Vorteil. Das liege allerdings auch daran, dass sie in der Regel reifer seien, mehr Wert auf die schulische Leistung legten und eher bereit seien, für die Aufnahmeprüfung zu büffeln. Doch für die Buben sieht nicht alles düster aus. Sie werden in einer anderen Sparte bevorzugt: «Die Berufsbildung ist stärker auf die Männer ausgerichtet», sagt Moser. Das Angebot decke mehr Interessen der Buben ab. Zudem möchten junge Männer schneller über ein eigenes Einkommen verfügen und beginnen deshalb oft lieber eine Lehre als die Matur.


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