Die
CDU-Politikerin Eisenmann, 52, ist seit 2016 Kultusministerin in
Baden-Württemberg und war zuvor Bürgermeisterin für Kultur, Schule und Sport in
Stuttgart. Sie ist auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Im Interview erklärt sie, was die Schulen und die Eltern für den Schulerfolg tun können.
"Das Niveau ist gesunken", Spiegel; 4. 11.
SPIEGEL:
Frau Eisenmann, die Viertklässler in Deutschland können weniger als vor fünf
Jahren, das hat der Leistungsvergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung
im Bildungswesen ergeben. Sind die deutschen Schulen zu schlecht?
Eisenmann:
Der Trend jedenfalls geht fast in ganz Deutschland nach unten, das Niveau für
Deutsch und Mathematik ist gesunken.
SPIEGEL:
Wie erklären Sie sich diese Verschlechterung?
Eisenmann:
Die Schülerschaft ist zunehmend heterogen, aber die Schulen gehen damit nicht
optimal um – mit Zugewanderten, mit Förderschülern oder mit Kindern aus
schwierigen Verhältnissen. Der Bildungserfolg eines Kindes hängt sehr von der
Stellung seiner Eltern ab, von seiner sozialen Herkunft. Die Bildungspolitik
muss die Schulen so unterstützen, dass sie dem entgegenwirken können.
SPIEGEL:
Der Leistungsvergleich erfasst noch keine Kinder, die seit 2015 als Flüchtlinge
hierherkamen. Werden die Tests künftig noch schlechter ausfallen?
Eisenmann:
Die Gefahr besteht, ja.
SPIEGEL:
Baden-Württemberg hat sehr schlecht abgeschnitten. Was machen Bayern oder
Hamburg besser?
Eisenmann:
Erfolgreichere Bundesländer überprüfen engmaschig, welche Fördermaßnahmen
wirken und welche nicht. Zum Beispiel, ob ein Kind mit einer anderen Muttersprache
Deutsch besser allein oder in der Gruppe lernt. Dazu muss ich die Lernstände
verlässlich erheben, etwa durch zentrale Klassenarbeiten. Das machen wir in
Baden-Württemberg zu wenig.
SPIEGEL:
Warum nicht? Dass zentrale Tests helfen, weiß Deutschland spätestens seit dem
Pisa-Schock 2001.
Eisenmann:
Baden-Württemberg hat das ein Stück weit verschlafen. Das Bundesland lag
jahrelang in der Spitzengruppe. Darauf haben wir uns zu sehr ausgeruht und
dabei vergessen, dass man sich auch an der Spitze entwickeln muss. Nun müssen
wir von den Erfahrungen der anderen Bundesländer lernen.
SPIEGEL:
Was haben Sie vor?
Eisenmann:
Wir gründen zwei neue Institute, die Anfang 2019 ihre Arbeit aufnehmen sollen:
ein Institut für Bildungsanalysen, das Daten erheben und bewerten soll, und ein
Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung, das die Schulen unterstützt und
die Aus- und Fortbildung der Lehrer koordiniert. Bisher haben wir ein
Durcheinander von Zuständigkeiten. Wir bauen also die Schulverwaltung um und
schaffen klare Strukturen und Anforderungen.
SPIEGEL:
Wissen die Lehrerinnen und Lehrer nicht, was sie unterrichten sollen?
Eisenmann:
Viele Lehrkräfte sagen mir, dass sie durchaus dankbar wären, wenn man ihnen
einmal sagte, was man genau von ihnen erwartet.
SPIEGEL:
Gibt es dafür nicht die Lehrpläne, die jedes Bundesland aufwendig erstellt?
Eisenmann:
Die Bildungspläne haben zuletzt sehr stark auf Kompetenzen abgehoben und den
Begriff des Lernens weit gefasst. Das wird gerade zurückgedreht. Denn
insbesondere heterogene Gruppen benötigen konzentrierten Unterricht.
SPIEGEL:
Sie meinen Frontalunterricht?
Eisenmann:
Ein bisschen weniger Open Space und Gruppenpuzzle wäre gut. Dafür mehr
Unterricht, der zur Ruhe beiträgt und Wissen vermittelt. Die Fachleute sagen:
je größer die Leistungsunterschiede in einer Gruppe, desto wichtiger diese Art
des Unterrichts. In einigen ersten Klassen gibt es Kinder, die schon lesen
können, und andere, denen man beibringen muss, wie sie einen Stift halten.
SPIEGEL:
Viele Politiker sagen: Der Lehrer muss das einzelne Kind auf dessen
Leistungsstand abholen, dann kann Unterricht auch in einer gemischten Gruppe
klappen.
Eisenmann:
Wir sollten da ehrlich miteinander sein: Alle Kinder in eine Schule zu stecken
und zu hoffen, es werde schon irgendwie werden – das funktioniert nicht.
SPIEGEL:
Die Schülerschaft ist vielerorts auch durch Kinder mit Behinderungen bunter
geworden. Ist das falsch?
Eisenmann:
Ich glaube, wir haben eine kluge Entscheidung getroffen, indem wir die
Förderschulen erhalten. Das haben wir jetzt auch in einem Inklusionsbericht
aufgearbeitet. In Baden-Württemberg wählen drei Viertel der Eltern von Kindern
mit Behinderungen weiterhin den geschützten Bereich der Förderschulen. Ein
Viertel entscheidet sich für Inklusionsbeschulung.
SPIEGEL:
Aber das Ziel der Inklusion lautet doch, dass alle Kinder eine Regelschule
besuchen können.
Eisenmann:
Es geht nicht um Quantität, sondern um Qualität. Deshalb ist es kein Erfolg für
sich, wenn 100 Prozent der Kinder inklusiv beschult werden. Das einzelne Kind
muss leistungsmäßig und sozial mitkommen, sonst ist es frustriert. Wir werden
auch künftig Förderschulen brauchen. Das sehen auch die meisten Eltern so –
weil an diesen Schulen individuelle Förderung besonders gut gelingt.
SPIEGEL:
Was können die Eltern tun?
Eisenmann:
Die Eltern sind nicht nur erziehungsberechtigt, sondern auch
erziehungsverpflichtet. Wir stellen aber fest, dass es eine zunehmende Zahl
gibt, die wenig Unterstützung leisten können oder wollen. Das zeigt sich in der
Entwicklung der Kinder. Viele können nicht schwimmen oder Rad fahren. Schule
kann aber nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft sein. Sie muss auch auf die achten,
die leistungswillig sind – weil sonst noch mehr Eltern solcher Kinder das
öffentliche Schulsystem in Richtung Privatschule verlassen.
SPIEGEL:
Solche Eltern überbehüten ihre Kinder zuweilen.
Eisenmann:
Auch das schadet. Wenn das Kind zu sehr im Zentrum steht und ein deutlicher
Erziehungsansatz fehlt, dann besteht die Gefahr, dass es ein Ichling wird, so
nennen das die Fachleute gern. Dieses Kind gerät dann in der Schule mit Lehrern
aneinander, die ihm Grenzen aufzeigen. Und dann sagen manche Eltern: Ein klares
Nein verträgt mein Kind nicht. Mein Kind muss sich frei entwickeln können.
SPIEGEL:
Wie also finden Eltern die Mitte zwischen zu wenig und zu viel?
Eisenmann:
Es ist gut, wenn Eltern signalisieren: Schule hat Bedeutung, Schule ist
wichtig. Und der Lehrer hat als Institution eine Bedeutung für dich. Wenn eine
Mutter oder ein Vater alles, was vom Lehrer kommt, erst einmal hinterfragt, am
schlimmsten noch mit dem Anwalt, dann erweckt das beim Kind den Eindruck: Ich
muss mich nur richtig wehren. Schule funktioniert nur mit gegenseitiger
Wertschätzung – der Schule den Eltern gegenüber, der Eltern der Schule
gegenüber, innerhalb der Familien.
SPIEGEL:
In Städten wie Freiburg, Heidelberg oder Tübingen besuchen rund 60 Prozent
eines Jahrgangs ein Gymnasium. Sind das zu viele?
Eisenmann:
Ja. Nicht alle Kinder sind fürs Gymnasium geeignet – und es müssen auch nicht
alle sein. Kognitive und handwerkliche Begabung sind gleich viel wert,
akademische und berufliche Ausbildung sind gleich viel wert. Es gibt
Realschüler, die sind beruflich und finanziell sehr erfolgreich. Und es gibt
promovierte Geisteswissenschaftler, die auf dem Arbeitsmarkt weniger gefragt
sind. Deshalb ist es falsch zu sagen, nur mit Abitur geht's weiter im Leben.
SPIEGEL:
Dennoch machen Sie das Abitur gerade leichter, mit drei Leistungskursen statt
fünf.
Eisenmann:
Nein, es wird anspruchsvoller. Die Reform folgt den Vorgaben der
Kultusministerkonferenz und stärkt die Kernfächer: Ohne Deutsch und Mathematik
wird es künftig im Abitur in Baden-Württemberg nicht gehen. Lesen, Schreiben
und Rechnen sind Kernkompetenzen. Die müssen wir stärken, durch die ganze
Schullaufbahn. In Baden-Württemberg hat jeder fünfte Viertklässler nicht den
Mindeststandard in der Rechtschreibung erreicht. Das ist alamierend.
SPIEGEL:
Haben Sie deshalb auch das Schreiben nach Gehör abgeschafft?
Eisenmann:
Ich habe das bereits im vergangenen Jahr per Erlass beendet. Weil es viele
wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, wonach man Rechtschreibung von Anfang an
richtig lernen sollte – und nicht zwei Jahre lang schreiben darf, wie man will,
und erst ab dem dritten Schuljahr korrigiert wird. Wir werden in einigen
Monaten ein Rechtschreibcurriculum für alle Schularten vorlegen. Dort steht
unter anderem, dass Rechtschreibfehler immer korrigiert werden, ab Klasse eins
bis zum Ende der Schullaufbahn.
SPIEGEL:
Wie schnell kann sich so etwas auswirken?
Eisenmann:
Es dauert, bis solche Maßnahmen greifen. Hamburg stand vor zehn, zwölf Jahren
noch weit unten. Dann haben die Bildungspolitiker dort systematisch umgestellt,
überprüft, Fördermaßnahmen eingeführt. Jetzt ist Hamburg stabil auf dem Weg
nach oben. Das muss ich neidlos anerkennen.
SPIEGEL:
Warum wird der Bildungsföderalismus nicht abgeschafft, und ein Schulministerium
in Berlin setzt um, was sich als wirksam erwiesen hat?
Eisenmann:
Was besser werden sollte, wenn eine Person in Berlin für mehr als 40 000
Schulen zuständig ist, das leuchtet mir wahrlich nicht ein.
SPIEGEL:
Warum?
Eisenmann:
Wir in Baden-Württemberg mit rund 4000 öffentlichen Schulen müssen sehen, wie
wir Schritt für Schritt Qualität und Leistung wieder definieren. Das ist schon
eine große Aufgabe, denn es geht ja nicht nur um Sanierungen oder um die
digitale Ausstattung. Qualität hängt mit Inhalten zusammen. Die sind nicht
zentral aus Berlin steuerbar. Ich halte den Föderalismus für inspirierend: weil
er uns anspornt, wieder nach oben zu kommen.
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