29. November 2017

Lernen durch Scheitern

Die meisten Schulen bereiteten ihre Schüler zu wenig auf die Zukunft vor, sagt ETH-Lernforscher Manu Kapur. Er fordert einen Kulturwandel im Unterricht. 
«Ich bin skeptisch, was Pisa überhaupt messen kann», NZZaS, 26.11. von Katharina Bracher 


Bevor Sie Lernforscher wurden, haben Sie als Mathematiklehrer am Gymnasium gearbeitet. Sind die Unterrichtsmethoden von damals noch empfehlenswert?
Manu Kapur: Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man sich klarmacht, welche Ziele man überhaupt erreichen will. Geht es um grundsätzliche Fähigkeiten und Wissen, die heute überlebenswichtig sind? Oder soll es darum gehen, Schüler für die Zukunft zu rüsten? Dann müssen zwingend Fähigkeiten wie Kreativität, kritisches Denken, geistige Flexibilität und Erfindergeist im Fokus der Schule stehen. Der traditionelle Frontalunterricht, bei dem Lehrer sprechen und Schüler zuhören, bereitet schlecht auf die Zukunft vor. Man sollte die Unterrichtsmethoden konsequent der aktuellen Lernforschung anpassen.

Frontalunterricht funktioniert durchaus, das ist wissenschaftlich belegt.
Ja, aber nur, wenn es um den Aufbau von elementaren Fähigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen geht. Das Problem ist, dass Schulabgänger vielleicht basale Kompetenzen haben, aber schlecht vorbereitet sind auf die Wissensgesellschaft von heute und morgen. Die Frage ist also: Wie fördern wir bei unseren Kindern Grundkompetenzen und die Fähigkeiten, die nötig sind, um im 21. Jahrhundert zu überleben? Beides ist wichtig und muss zusammengeführt werden.

Und trotzdem wird heute an vielen Schulen hauptsächlich auf diese Weise unterrichtet.
Das hat damit zu tun, dass wir in unserer Gesellschaft einen so grossen Wert auf Tests und Assessments legen. Frontalunterricht kann natürlich helfen, Tests zu bestehen und gut abzuschliessen. Dass wir schon im frühsten Kindesalter damit beginnen zu evaluieren und zu testen, ist ein relativ neues Phänomen. Die Zeit, in der Kinder einfach nur Kinder sein können, ohne dass ihre Leistung bereits vermessen und beurteilt wird, wird immer kleiner.

Sind Tests und Evaluationen nicht einfach eine Notwendigkeit? Wie sonst könnten wir Bildungserfolg messen?
Ich bin nicht generell gegen Tests, wenn sie richtig interpretiert werden. Doch leider sind Bildungssysteme weltweit über die vergangenen Jahrzehnte immer testgetriebener geworden. Die meisten dieser Tests haben eine sehr enge Definition von Lernerfolg. In manchen Ländern, vor allem in Asien, bestimmen Tests über dein Leben. Früher gab es diese breiten Überprüfungen von Lernerfolg frühestens auf vor-universitärer Stufe. Heute werden bereits die Leistungen von Kindergärtnern wissenschaftlich vermessen.

Sie haben die Schulleistungsstudie Pisa wissenschaftlich beraten. Wie stehen sie zum internationalen Schulranking?
Ich bin sehr skeptisch, was diese Studien überhaupt messen. Stellen Sie sich vor: Kinder lösen allein und ohne verfügbare Ressourcen wie Nachschlagewerke in einer völlig künstlichen Situation und noch dazu unter Zeitdruck Aufgaben. Das Resultat gibt ein äusserst eingeschränktes Bild davon, was das Kind überhaupt leisten kann. Die unbeabsichtigten Effekte dieser Vergleichsstudien sind sehr problematisch.

Welche unbeabsichtigten Effekte?
Zum Beispiel, wenn ein Land seine Bildungspolitik anpasst, um in internationalen Vergleichsstudien gut dazustehen. Zu Pisa passt eine Analogie: Es ist wie mit dem Betrunkenen, der seine Schlüssel im Schein einer Strassenlampe sucht. Er sucht nur dort, wo es hell ist. Dabei könnten seine Schlüssel aber irgendwo auf der dunklen Strasse liegen. Indem wir nur dort suchen, wo es hell ist, übersehen wir viele Dinge oder noch schlimmer: Wir suchen nicht einmal nach ihnen. Bei einem internationalen Test zu brillieren, sollte nie das Ziel eines Bildungssystems sein. Das Ziel muss sein, Schüler für die Zukunft vorzubereiten.

Und wie erreicht man dieses Ziel?
Heute finden Sie Berufe, die vor zehn Jahren noch nicht existierten. Andererseits existieren heute Berufe, die in zehn Jahren verschwunden sein werden. Die Frage muss also sein: Wie bereiten wir unsere Kinder auf eine Zukunft vor, in der nicht sicher ist, welche Berufe gefragt sein werden? Heute werden meistens Prognosemodelle erstellt, um genau diese Frage zu klären. Man versucht, eine Art Bedarfsplanung für Berufe zu erstellen. Leider funktioniert das nicht.

Wobei ja einige Jobs immer gefragt sein werden, und der künftige Bedarf kann anhand von demografischen Daten etwa abgeschätzt werden: Ärzte, Anwälte und Lehrer zum Beispiel.
Stimmt. Aber es gibt auch eine grosse Zahl Berufe, von denen wir heute noch nichts wissen können. Und trotzdem herrscht weiterhin die Geisteshaltung, wonach wir uns auf einen spezifischen Berufszweig fokussieren müssen in der Ausbildung. Das ist meiner Ansicht nach falsch. Der Fokus müsste darauf gerichtet sein, Menschen zu kritisch denkenden, erfinderischen, geistig hochflexiblen und sozialkompetenten Wesen auszubilden. Wie sagt man doch: Der beste Weg, einen Job zu finden, ist, einen zu erfinden. Dieses Denken wird in Zukunft noch wichtiger.

Sie wollen, dass Schulen damit aufhören, Wissen zu vermitteln? Das klingt realitätsfremd.
Ich sage ja nicht, dass grundlegende Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben nicht notwendig sind. Sie sind es absolut. Doch wenn unsere Bildungsziele höher liegen, als bloss Wissen anzuhäufen, dann muss man neue Methoden anwenden. Man muss die Lehrerausbildung und die Schulpraxis an den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen darüber, wie wir lernen, ausrichten. Nur so können unsere Kinder Fähigkeiten ausbilden, die im 21. Jahrhundert gefragt sind.

Ein Weg, um höhere Bildungsziele zu erreichen, ist ihre Lernmethode, die sich «produktives Scheitern» nennt. Was steckt dahinter?
Die Idee ist einfach: Dass wir beim Scheitern lernen, ist eigentlich jedem bekannt. Warum setzen wir die Idee nicht um und gestalten den Unterricht so, dass Scheitern gewollt und möglich ist? Mit Frontalunterricht kann man vielleicht gut Wissen vermitteln, die Problemlösungskompetenz, Kreativität und die Fähigkeit, Gelerntes in neuen Problemstellungen anzuwenden, fördern Sie damit nicht. Darum geht es beim produktiven Scheitern darum, den Schülern nicht sogleich zu sagen, worum es geht. Man konfrontiert sie mit einer speziell gestalteten Aufgabenstellung, die sie nicht vollständig selbst lösen können. Die Erfahrung des Scheiterns zeigt den Schülern ihre Lücken auf, aber auch, was sie schon können. Wenn sie dann das Expertenwissen des Lehrers einfüllen, ist der Lerneffekt höher als bei herkömmlichen Unterrichtsmethoden. Das konnten wir wissenschaftlich nachweisen, und inzwischen ist die Wirksamkeit des Prinzips in zahlreichen Studien rund um die Welt belegt worden.

Scheitern kann auch eine frustrierende Erfahrung sein. Könnte das die Schüler nicht demotivieren?
Es müssen Aufgaben sein, die nicht zu schwer sind, um Lernende nicht zu demotivieren. Andererseits unterfordern zu einfache Aufgaben, und man lernt nichts. Es braucht das richtige Mass an Überforderung. Anders gesagt: Wenn wir Kinder beim Lernen nicht auch frustrieren, dann haben wir sie zu wenig auf die Zukunft vorbereitet. Scheitern zu können und Frustration auszuhalten, ist eine der wichtigsten Kompetenzen überhaupt. Die Schule muss eine sichere Umgebung bieten, in der diese Fähigkeiten trainiert werden können.

Andererseits ist dieses «Lernen durch Scheitern» sicher viel zeitaufwendiger.
Das stimmt. Aber wenn wir die Ziele höher stecken, müssen wir uns die Zeit nehmen. Wir konnten übrigens in Experimenten zeigen, dass mit der Methode des produktiven Scheiterns in derselben Zeit bessere Lernerfolge erzielt werden können als mit herkömmlichen Unterrichtsmethoden.

Sie haben die Methode vor allem im naturwissenschaftlichen Unterricht getestet. Funktioniert das Prinzip auch in anderen Fächern?
Noch fehlen die Belege dafür. Doch beim Fremdsprachenlernen spielt Scheitern eine Rolle. In der Regel tendieren wir dazu, Gelerntes zu generalisieren. Dann sagen wir Dinge auf Englisch wie «he goed there», statt «he went there», weil wir gelernt haben, dass mit der Endung «ed» die Vergangenheit angezeigt werden kann. Werden wir dann von jemandem korrigiert, kann man bereits von einem produktiven Scheitern sprechen.Newsletter
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Manu Kapur
Der 43-Jährige ist seit Anfang 2017 Professor für Lernwissenschaften an der ETH Zürich. Zuvor hat er in Hongkong und in Singapur geforscht und gelehrt. Er ist weltweit bekannt für seine Arbeiten zum Thema «Lernen durch Scheitern» und hat erfolgreiche Mathematik-Lernprogramme entwickelt. Kapur stammt aus Indien, ist ursprünglich Maschineningenieur und hat als Mathematik-Lehrer am Gymnasium unterrichtet.


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