Die Stimmberechtigten kamen in so grossen Scharen, dass an eine
geordnete Gemeindeversammlung nicht zu denken war. 450 Personen drängten sich
selbst an den Wänden der Mehrzweckhalle von Büren an der Aare (BE). Der
Gemeinderat verschob die Versammlung: zu grosser Andrang. Was auf den ersten Blick als Comeback der Gemeindepolitik gedeutet
werden könnte, ist ein absoluter Ausnahmefall. Zwar war die Stimmbeteiligung
auch bei den Wahlen von Aarau (46,4 Prozent), Baden (47,5) und Brugg (48,6)
verhältnismässig gut, weil es keine nationale Vorlage gab. Die spannende
Ausgangslage für die Wahlen um Stadtpräsidium und Stadtammann-Ämter sorgte
dafür.
Es braucht Gemeindepolitik in der Schule, Aargauer Zeitung, 29.11. von Othmar von Matt
Spektakulärer Absturz
Doch im Grundsatz haben die Gemeinden einen spektakulären Absturz als Identitätsanker in
der Schweiz hinter sich. Das zeigt der erste Europa-Barometer,
den das Forschungsinstitut GfS Bern mit dem Europa Forum Luzern publiziert hat.
Er beruht auf Daten des Credit-Suisse-Sorgenbarometers 2017. Fühlten sich
zwischen 2004 und 2011 bis zu 56 Prozent der Bevölkerung als Erstes ihrer
Wohngemeinde zugehörig, sackte dieser Wert ab 2011 auf heute 25 Prozent ab. Ein
historischer Tiefstwert. Die Wohngemeinde liegt nur noch an vierter Stelle, was
das Gefühl der Zugehörigkeit betrifft. Das Land Schweiz, die Sprachregion und
der Kanton liegen vorne.
Das Europa-Barometer macht eine Verschiebung klar, die schon seit
Längerem als Problem erkannt worden ist, ohne die Analyse so klar zu kennen:
Die Gemeinden tun sich zunehmend schwer, Identität zu stiften. Der Abwärtstrend
zeigt sich auf mehreren Ebenen. Ungeschickte Gemeindefusionen lassen das
Zugehörigkeitsgefühl der Bürger sinken. Die Beteiligung der Bürger an
Gemeindewahlen und Gemeindeversammlungen geht kontinuierlich zurück, wie eine
Erhebung des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) im Kanton Zürich gezeigt hat:
Im Schnitt nehmen nur fünf Prozent der Stimmberechtigten an Gemeindeversammlungen
teil.
Bereitschaft der Bürger lässt nach
Die Bürger sind aber auch immer weniger bereit, sich für einen der rund
15'000 Sitze in den Exekutiven von gut 2300 Gemeinden zur Verfügung zu stellen.
Dazu müssen gemäss Daniel Kübler vom ZDA 25'000 Ämter in Schulpflegen,
Sozialbehörden und obligatorischen Kommissionen besetzt werden. In kaum einem
anderen Land gibt es auf Gemeindeebene so viele Exekutivämter wie in der
Schweiz. Vor allem kleinere Gemeinden sind stark gefordert: Bei 100 Einwohnern
müssen zehn Prozent der Stimmberechtigten rund zehn Ämter besetzen. Eine
Untersuchung des ZDA im Kanton Aargau kam zum Schluss, dass bei 75 Prozent
aller Gemeinden nur ein Gemeinderats-Kandidat zur Auswahl steht. In ländlichen
Gemeinden sogar in 90 Prozent aller Fälle.
Verschiedene Gemeinden versuchen, mit Zückerchen gegen diese Malaise
vorzugehen. Aargauer Gemeinden schenken Teilnehmern von Gemeindeversammlungen
Abfallsackrollen, verlosen Einkaufsgutscheine oder laden zum Essen ein. Diese
Geschenk-Politik verfängt aber nicht, wie eine Befragung des ZDA zeigte.
Es braucht Massnahmen
In ernsthaften Umbruchzeiten wie heute mit der Digitalisierung ist auch
politische Ernsthaftigkeit gefragt. Damit Gemeinden die Rolle eines
Identitätsankers wieder verstärkt spielen können, braucht es mittelfristige
Massnahmen. Erstens sollte die politische Bildungsarbeit an den Schulen
verstärkt werden. Die Gemeindepolitik könnte als Anschauungsbeispiel direkt in
den Unterricht eingebaut werden. Auf diese Art würden auch die Eltern besser
eingebunden. Interesse an lokaler Politik, Verständnis für deren Zusammenhänge
und Identifikation mit dem Wohnort erhöhten sich so. Es käme zu einer
Re-Politisierung der lokalen Politik.
Eine Re-Politisierung ist dringend nötig. Sie sollte durch Reformen bei
den Milizämtern verstärkt werden. Vor allem drängt sich eine Reduktion der
Ämter auf. 25'000 alleine in Schulpflege, Sozialbehörden und Kommissionen sind
des Guten zu viel. Das würde die Milizämter aufwerten. Gleichzeitig müsste
geprüft werden, wie die Ämter im Berufsleben gewinnen könnten. Dass sich auf
lokalpolitischer Ebene etwas bewegt, ist wichtig. Sonst gilt plötzlich nicht
mehr, was der französische Politiker und Publizist Alexis de Tocqueville schon
im 19. Jahrhundert sagte: Gemeinden seien «Schulen der Freiheit», die
Bürgersinn hervorbrächten.
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