Schlummert in Hanna das Talent zur
erfolgreichen Managerin? Und hat Reto das Zeug zum begabten Informatiker? Noch
vor wenigen Jahrzehnten stand in der Schulpädagogik
die gezielte Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler, etwa mit
Hilfe spezieller Förderprogramme, zuoberst auf der Agenda. Inzwischen hat sich
das Blatt längst gewendet. Seit einigen Jahren steht nicht mehr die Förderung
schwachbegabter Schüler im Zentrum schulischer Pädagogik, sondern ganz im
Gegenteil die Talentförderung. Dass Lehrerinnen und Lehrer die Talente von
Schülern zu erkennen und zu fördern suchen, ist nicht mehr als recht, ja gehört
zu den berechtigten Erwartungen, die unsere Gesellschaft an sie hat.
Talentförderung: Firmen drängen in Schule, St. Galler Tagblatt, 28.11. von Mario Andreotti
Doch längst sind es nicht mehr die Lehrer,
denen das Erkennen und die Förderung der Talente von Schülern anvertraut werden soll, sondern speziell dafür ausgebildeten Fachleuten,
sogenannten Talentscouts. Die Lehrer vermitteln den Unterrichtsstoff, der Scout
schaut sich die Schüler auf mögliche, oftmals verborgene Talente an. So die
Meinung einiger Bildungspolitiker. Es gelte herauszufinden, ob ein Kind
besondere Begabungen aufweise, denn die Gesellschaft könne es sich nicht mehr
leisten, sich um die Entdeckung individueller Talente zu scheren. Bestens
ausgebildete Arbeitskräfte seien zunehmend wichtiger als Kapital.
Das klingt alles schön und gut. Doch hier
liegt das Problem. Zum einen sollten die Lehrkräfte
selber kompetent genug sein, um mögliche Talente von Schülern zu entdecken und
zu fördern. Dass sie dies noch gezielter als bisher tun könnten, verschweige
ich nicht. Und zum andern stellt sich die Frage, wer die Talentscouts
beschäftigt, in wessen Dienst sie stehen, wessen Brot sie essen. Und da bleibt
die Antwort marktorientierter Bildungspolitiker nicht aus. Ihnen schweben
Scouts aus der Praxis, das heisst konkret aus der Wirtschaft, vor. Niemand
wisse es besser, welche Talente gefragt seien als direkte Vertreter aus
Unternehmen. Das könnten Google, die UBS oder Roche sein. So Felix Müri,
Präsident der Bildungskommission. Damit ist eines klar: Talentförderung in den
Schulen soll vor allem der Wirtschaft, der Behauptung der Schweiz als Topwirtschaftsstandort
dienen. Sie wird so indirekt zur Wirtschaftsförderung.
Dagegen wäre im Grunde nichts einzuwenden,
ginge es dabei nicht um eine einseitige Talentförderung. Wo bleibt da die Förderung der geisteswissenschaftlichen oder der musischen Fähigkeiten
von Schülern, wenn Firmenvertreter als Talentscouts in die Schulen drängen? Zu
glauben, sie würden auch Talente im geisteswissenschaftlichen und im musischen
Bereich, etwa in Geschichte oder in bildender Kunst, aufspüren, grenzt ans
Absurde. Dabei hat die Schule den klaren Auftrag, ihre Schüler ganzheitlich zu
fördern. Dazu bedarf es auch der humanistischen Bildung gerade heute, wo der
Bildungsmarkt weltweit primär nach erwerbswirtschaftlichen Prinzipien
funktioniert.
Seit einigen Jahren zeichnet sich ein deutlicher
Trend zu marktorientierten Bildungsreformen – der
Lehrplan 21 mit dem neuen Fach «Informatik und Medien» zählt dazu – ab. Dieser
Trend wird durch das Talentscouting zweifellos noch verschärft. Firmen
eruieren, im Hinblick auf den eigenen Bedarf an Arbeitskräften, die Talente und
Fähigkeiten der Schüler, versorgen die Schulen mit günstigem
Online-Lernmaterial und steuern so deren Bildungsangebot wesentlich mit. Die
öffentliche Bildung droht damit, im Zuge des Neoliberalismus, von privaten
Interessen vereinnahmt zu werden, «ganz abgesehen von der Gefahr, dass die
Demokratie in Bildungsfragen längerfristig ausgehebelt wird», wie Anja Burri in
der «NZZ am Sonntag» zu Recht schreibt. Talentscouts brauchen unsere Schulen
nicht. Talentförderung muss Sache der Lehrkräfte bleiben. Allerdings sollten
sie der Gefahr entgehen, besonders begabte Schüler einseitig, nur auf bestimmte
Talente fokussiert, auszubilden. Soll die Talentförderung wirklich gelingen,
muss die Schule auch begabte Schüler ganzheitlich im Blick behalten.
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