28. November 2017

Einseitiges Talentscouting

Schlummert in Hanna das Talent zur erfolgreichen Managerin? Und hat Reto das Zeug zum begabten Informatiker? Noch vor wenigen Jahrzehnten stand in der Schulpädagogik die gezielte Förderung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler, etwa mit Hilfe spezieller Förderprogramme, zuoberst auf der Agenda. Inzwischen hat sich das Blatt längst gewendet. Seit einigen Jahren steht nicht mehr die Förderung schwachbegabter Schüler im Zentrum schulischer Pädagogik, sondern ganz im Gegenteil die Talentförderung. Dass Lehrerinnen und Lehrer die Talente von Schülern zu erkennen und zu fördern suchen, ist nicht mehr als recht, ja gehört zu den berechtigten Erwartungen, die unsere Gesellschaft an sie hat.
Talentförderung: Firmen drängen in Schule, St. Galler Tagblatt, 28.11. von Mario Andreotti


Doch längst sind es nicht mehr die Lehrer, denen das Erkennen und die Förderung der Talente von Schülern anvertraut werden soll, sondern speziell dafür ausgebildeten Fachleuten, sogenannten Talentscouts. Die Lehrer vermitteln den Unterrichtsstoff, der Scout schaut sich die Schüler auf mögliche, oftmals verborgene Talente an. So die Meinung einiger Bildungspolitiker. Es gelte herauszufinden, ob ein Kind besondere Begabungen aufweise, denn die Gesellschaft könne es sich nicht mehr leisten, sich um die Entdeckung individueller Talente zu scheren. Bestens ausgebildete Arbeitskräfte seien zunehmend wichtiger als Kapital.

Das klingt alles schön und gut. Doch hier liegt das Problem. Zum einen sollten die Lehrkräfte selber kompetent genug sein, um mögliche Talente von Schülern zu entdecken und zu fördern. Dass sie dies noch gezielter als bisher tun könnten, verschweige ich nicht. Und zum andern stellt sich die Frage, wer die Talentscouts beschäftigt, in wessen Dienst sie stehen, wessen Brot sie essen. Und da bleibt die Antwort marktorientierter Bildungspolitiker nicht aus. Ihnen schweben Scouts aus der Praxis, das heisst konkret aus der Wirtschaft, vor. Niemand wisse es besser, welche Talente gefragt seien als direkte Vertreter aus Unternehmen. Das könnten Google, die UBS oder Roche sein. So Felix Müri, Präsident der Bildungskommission. Damit ist eines klar: Talentförderung in den Schulen soll vor allem der Wirtschaft, der Behauptung der Schweiz als Topwirtschaftsstandort dienen. Sie wird so indirekt zur Wirtschaftsförderung.

Dagegen wäre im Grunde nichts einzuwenden, ginge es dabei nicht um eine einseitige Talentförderung. Wo bleibt da die Förderung der geisteswissenschaftlichen oder der musischen Fähigkeiten von Schülern, wenn Firmenvertreter als Talentscouts in die Schulen drängen? Zu glauben, sie würden auch Talente im geisteswissenschaftlichen und im musischen Bereich, etwa in Geschichte oder in bildender Kunst, aufspüren, grenzt ans Absurde. Dabei hat die Schule den klaren Auftrag, ihre Schüler ganzheitlich zu fördern. Dazu bedarf es auch der humanistischen Bildung gerade heute, wo der Bildungsmarkt weltweit primär nach erwerbswirtschaftlichen Prinzipien funktioniert.

Seit einigen Jahren zeichnet sich ein deutlicher Trend zu marktorientierten Bildungsreformen – der Lehrplan 21 mit dem neuen Fach «Informatik und Medien» zählt dazu – ab. Dieser Trend wird durch das Talentscouting zweifellos noch verschärft. Firmen eruieren, im Hinblick auf den eigenen Bedarf an Arbeitskräften, die Talente und Fähigkeiten der Schüler, versorgen die Schulen mit günstigem Online-Lernmaterial und steuern so deren Bildungsangebot wesentlich mit. Die öffentliche Bildung droht damit, im Zuge des Neoliberalismus, von privaten Interessen vereinnahmt zu werden, «ganz abgesehen von der Gefahr, dass die Demokratie in Bildungsfragen längerfristig ausgehebelt wird», wie Anja Burri in der «NZZ am Sonntag» zu Recht schreibt. Talentscouts brauchen unsere Schulen nicht. Talentförderung muss Sache der Lehrkräfte bleiben. Allerdings sollten sie der Gefahr entgehen, besonders begabte Schüler einseitig, nur auf bestimmte Talente fokussiert, auszubilden. Soll die Talentförderung wirklich gelingen, muss die Schule auch begabte Schüler ganzheitlich im Blick behalten.


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