23. Oktober 2017

Umstrittene Basler Beurteilungspraxis

Basel-Stadt hat ein System geschaffen, das immer mehr Leistungsdruck auf Schülerinnen und Schüler ausübt. Dabei hätten Pädagogen ganz anderes vor.
Kinder unter Dauerdruck - der Leistungswahn an Basler Schulen, Tageswoche, 23.10. von Jeremias Schulthess


Manchmal ist Kerstin* alles zu viel. Dann weint sie und sagt: «Wie soll ich das alles nur schaffen?» Die Neunjährige steht in der Schule unter Druck. Immer wieder müssen ihr die Eltern bei den Hausaufgaben helfen. An einem Wochenende habe Kerstin fünf Stunden gearbeitet, um eine Aufgabe zu erledigen, erzählt die Mutter. «Am Sonntag um 17 Uhr habe ich zu ihr gesagt: Komm wir gehen noch eine Stunde raus – bei dem schönen Wetter!» So war der Sonntag aus Kindersicht immerhin nicht ganz verloren.

Am Elternabend erklärten die Lehrpersonen, es wäre gut, wenn die Eltern ihren Kindern beim Lernen von Vokabeln helfen könnten. Gute Fremdsprachenkenntnisse seien wichtig, um in das beliebte P-Niveau an der Sekundarschule und später ans Gymnasium zu wechseln.

Die Mutter sagt: «Meine Tochter will es gut machen, die Erwartungen erfüllen – wie es wahrscheinlich alle Kinder möchten.» Durch die Schule sei Kerstin «wahnsinnig beschäftigt», das führe zu Stress.

Es ist eine Extremsituation, die diese Mutter beschreibt. Andere Eltern, die die TagesWoche anfragte, gaben an, dass ihre Kinder vielleicht eine halbe Stunde Hausaufgaben pro Tag erledigten – wieder andere hatten gar keine. Doch in einem Punkt sind sich fast alle Eltern, Lehrpersonen und Experten, die mit der TagesWoche sprachen, einig: Der Leistungsdruck an Basler Primarschulen nimmt zu. Manche finden: moderat. Andere sagen: gewaltig.
Wie kommt es, dass die Schulen wieder mehr auf Auswendiglernen und Leistung setzen, wo Pädagogen seit Jahrzehnten die Schule vom Stress befreien wollen?

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Denn die Institution Schule ist so vielfältig, wie die Menschen, die in den Klassenzimmern stehen und unterrichten. Was eine Lehrperson macht, geht bei einer anderen gar nicht. Was sich aber im System zeigt: Schülerinnen und Schüler werden immer früher bewertet, standardisierte Tests nehmen zu. Anders gesagt: Die Anreize für Lehrpersonen Leistungsdruck aufzubauen, sind da.

So gibt es in Basel-Stadt seit 2013 Bewertungsbögen und Selbsteinschätzungen für Kinder im ersten Kindergartenjahr. Die Lehrpersonen müssen einen siebenseitigen Bewertungsbogen für die Vierjährigen ausfüllen, die Fachbereiche wie Sprache, Mathematik und Natur-Mensch-Gesellschaft beinhalten. Zum Beispiel steht dort: «- verfügt über einen differenzierten Wortschatz». Oder: «- kann kulturelle und religiöse Grunderfahrungen erleben, reflektieren und mit gestalten». Die Lehrperson muss dann ankreuzen: einen, zwei, drei oder vier Sterne.

Auf der letzten Seite werden Ziele formuliert, die das vierjährige Kind erreichen soll – inklusive offenen Felder für «Verantwortlichkeit» und «Terminüberprüfung», die im Verlauf der Kindergartenjahre ausgefüllt werden sollen.

Bei der Selbsteinschätzung muss das Kind gemeinsam mit der Lehrperson Kreuzchen machen bei Kategorien wie «Ich kann singen» oder «Ich verstehe, was andere sagen».
Eine Mutter, die ebenfalls anonym bleiben will, hat die Bewertung und Selbsteinschätzung bei ihrer Tochter im ersten Kindergartenjahr erlebt. «Wir hatten Glück: Die Lehrperson unserer Tochter hat kein grosses Tamtam daraus gemacht. Trotzdem finde ich die Bewertungen nicht gut.» Wenn das Häkchen bei einem oder zwei Sternen stehe, frage man sich als Eltern natürlich schon: «Warum ist das so? Und wie kriegen wir das Häkchen im nächsten Jahr ein Feld weiter nach links?»

Dabei bräuchten diese Kinder einfach Zeit für andere Dinge als Lernen, sagt die Mutter. Die Lernberichte seien hinderlich, weil sie den Fokus auf das Falsche richteten. «Etwas mehr Gelassenheit täte auf dieser Stufe sicher gut.»

Die Lernberichte und Selbsteinschätzungen im Kindergarten und in der Primarschule gibt es erst, sei der Regierungsrat 2012 die Schullaufbahnverordnung anpasste. Seither gibt es auch Noten ab der 5. Klasse; früher geschah das ab der 8. Klasse. Die Politik entschied sich damals für ein leistungsorientiertes Modell – was paradox ist, weil Bildungsreformen wie Lehrplan 21 genau in die gegenteilige Richtung tendieren.

Der neue Lehrplan, der in Basel-Stadt seit 2015 in Kraft ist, arbeitet mit Kompetenzen, also hauptsächlich mit nicht abfragbarem Wissen. Die Kompetenzen sind auf mehrjährige Zyklen ausgelegt, also haben ein Schüler oder eine Schülerin mehrere Schuljahre Zeit, eine bestimmte Kompetenz zu erlernen. So müssen sie zum Beispiel in Deutsch irgendwann zwischen der 3. und 6. Klasse lernen, die Struktur von Sachtexten zu erkennen und Informationen herauszulesen.

Gaby Hintermann von der Kantonalen Schulkonferenz, der Vertretung der Basler Lehrer, sagt: «Lehrpersonen sollen immer mehr auf Individualisierung des Unterrichts achten, da ist es schon ein wenig absurd, immer mehr und immer früher alle über einen Kamm zu scheren und Leistungen zu bewerten.» Schülerinnen und Schüler brauchten auch einfach ein bisschen Zeit, etwas richtig lernen zu dürfen, ohne gleich bewertet zu werden, findet Hintermann.

Sie kritisiert eine «ungewollte Wirkung der Lernberichte» in den ersten Primarstufen und im Kindergarten: «Durch die Lernberichte sehen viele Eltern leider nicht, was das Kind kann, sondern nur, was es nicht kann.» Für Eltern mit Migrationshintergrund sei das Problem noch gravierender, weil in diesen Familien der Druck, ans Gymnasium zu kommen, noch grösser sei, als bei Eltern, die das hiesige Bildungssystem gut kennen. «Diese Eltern wissen häufig nicht, dass ihr Kind auch mit einer Lehre und Berufsmatur später noch studieren kann. Sie haben den Eindruck, nur auf dem direkten Weg ins Gymnasium können es ihre Kinder schaffen.» Für manche beginne so der Druck bereits, wenn die Kinder ihre ersten Lernberichte und Zeugnisse nach Hause bringen. Hier brauche es noch «viel Umdenken», so Hintermann.

Gegen die Lernberichte und Selbsteinschätzungen wächst Widerstand. Die kantonale Schulkonferenz führte diesen Sommer eine Befragung bei Primarlehrpersonen durch. Die Antwort darauf war vernichtend: 86 Prozent gaben an, dass die neuen Vorgaben der Laufbahnverordnung nicht den Lernprozess der Kinder förderten. 75 Prozent der Befragten fanden auch, dass sie die Beurteilung nach Prädikaten – zum Beispiel «hohe Anforderungen erreicht» oder «Grundanforderungen nicht erreicht» – in der 1. und 2. Klasse als «nicht stufengerecht» empfinden.

Die Primarlehrerin, Mirjam Madöry, kennt den Umgang mit den Lernberichten und Prädikaten aus der täglichen Praxis. «Gerade für lernschwache Kinder ist es sehr problematisch, wenn sie laufend mit schlechten Beurteilungen konfrontiert werden.» Sie habe schon oft erlebt, dass ein Kind schwer daran zu kauen hatte. «Ich muss die Kinder nach einer schlecht ausgegangenen Lernkontrolle dann aufpäppeln, sagen, du hast nicht versagt, du hast noch Zeit, das zu lernen.»

Nach jedem Schuljahr macht Madöry im Zeugnis pro Fach bei einem der vier möglichen Prädikate ein Kreuzchen. Die Beurteilungen müssen rekursfähig sein. Das heisst: Madöry muss mindestens drei Lernkontrollen pro Frach durchführen; der Durchschnitt davon ergibt dann den Eintrag im Zeugnis. Drei Lernkontrollen pro Fach: Das ergibt mindestens 18 Tests pro Schuljahr.

So könne es zur absurden Situation kommen, dass ein Kind in Handarbeiten ein Ton-Töpfchen gestaltet und dieses an Ostern zusammen mit einem Prädikat nach Hause bringt: Schau Mama: Dafür habe ich «mittlere Anforderungen erreicht» erhalten. Im Fach Gestalten würden deshalb einige Lehrpersonen davon absehen, jede Zeichnung und jedes Töpfchen zu beurteilen.

Madöry, die den erweiterten Konferenzvorstand der Primarschulen Basel leitet, sagt: «Man kann nicht eine integrative Schule aufbauen und gleichzeitig die Schwachen ständig damit konfrontieren, dass das, was sie leisten, nicht genügt.» Sie findet die permanente Überprüfungs-Kultur unnötig, weil sie Schülerinnen und Schüler sowie Eltern verunsichert und für Lehrpersonen keinen Mehrwert bringt.

Die Primarlehrerinnen und -lehrer am Gotthelf-Schulhaus sahen das ähnlich. In Absprache mit den Eltern entschieden sie vor Kurzem, keine Lernberichte und Zeugnisse in der 1. Klasse auszustellen. Als das Erziehungsdepartement (ED) davon erfuhr, wurden die Lehrpersonen sogleich angewiesen, das Experiment zu beenden. Die Berichte und Zeugnisse sind in der Laufbahnverordnung gesetzlich festgeschrieben.

Das ED will die Verordnung nun unter dem Druck der Lehrerschaft anpassen und hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die neue Vorschläge vorbereitet. Der Leiter der Basler Volksschulen, Dieter Baur, verwahrt sich aber gegen grundsätzliche Kritik an den Lernberichten und Zeugnissen in der Primarschule. «Die Lernberichte können durchaus auch im Sinne eines Feedbacks verstanden werden», sagt Baur.

Der Leistungsdruck steige nicht, bloss weil die Lehrperson Beurteilungen mache. Neben dem formalisierten Bericht gebe es auch ein Gespräch mit den Eltern. Dort könnten etwaige Ängste oder Stress aufgefangen werden, sagt Baur: «Es kommt darauf an, ob die Lehrperson konstruktiv damit umgeht. Ist das der Fall, so bin ich überzeugt, dass die Lernberichte Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung fördern.»

Leistungsdruck sei auch nicht grundsätzlich als etwas Negatives zu verstehen, erklärt Baur weiter: «Fragen Sie mal einen Sportler. Dort ist Leistungsdruck fördernd, um ein Maximum aus sich rauszuholen.» Diesen Charakter könne der Druck auch in der Schule erhalten. «Wenn Sie einem Kind keine Herausforderungen stellen, kann es auch nicht daran wachsen. Eine adäquate Förderung, verbunden mit altersgerechtem Leistungsdruck kann durchaus auch als sinnvoll und fördernd für die Schulkinder sein.»

Was den Druck bis auf die unteren Stufen weiter erhöht, ist das neue Schulsystem, das seit 2015 in Kraft ist. Neu werden die Schülerinnen und Schüler nach der 6. Klasse in drei Leistungsniveaus A, E und P eingeteilt. Früher kam die Selektionierung in Weiterbildungs-Schule oder Gymnasium erst nach der 7. Klasse.

Die Kinder sind also ein Jahr jünger, wenn sie mit der Wahl Gymnasium oder Lehre konfrontiert werden. Manche sind sogar zwei Jahre jünger, weil das ED ab 2013 auch den Stichtag für die Einschulung um drei Monate nach hinten verschob.

Der Druck, in die guten Niveaus E und P zu kommen, sei bei Eltern und Schülerschaft enorm, sagt eine Primarlehrerin aus Basel-Stadt, die anonym bleiben will. Im A-Zug landeten auch einige Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensproblemen. Die Eltern, die ein lernschwaches Kind haben, wollten um jeden Preis verhindern, dass ihr Kind im A bei den schwierigen Fällen landet. Lehrpersonen und Eltern sprechen bereits von «A wie Abfallkübel».

Diese Selektionierung fördere den Konkurrenzdruck bei Eltern zusätzlich – und damit auch bei den Kindern, sagt die Lehrerin, die seit 30 Jahren unterrichtet. «Letzten Endes ist es der Druck aus der Wirtschaft, der via Erziehungsdepartement an die Lehrerinnen und Lehrer und schliesslich an die Schülerschaft weitergegeben wird.»

Dass der Leistungsdruck in der Gesellschaft wächst, das sei schon in den 1960er-Jahren so gewesen, sagt der ehemalige Leiter der Basler Volksschulen, Pierre Felder. «Damals gab es in der chemischen Industrie noch viele Hilfsarbeiter, die ohne Studium oder Berufsausbildung dort arbeiteten. Diese Jobs sind fast alle verschwunden. Die Bedeutung des Bildungsabschlusses ist heute viel grösser.»

Felder ortet den Druck, der auf Schülerinnen und Schülern lastet, deshalb in erster Linie bei den Eltern, die hohe Erwartungen an ihre Kinder haben. Ausserdem würden Wirtschaftsverbände, Hochschule und Politiker laufend Anstösse geben, damit sich die Schule verändert.

Ein Mantra, das Politiker und Verbände seit Jahren wiederholen, lautet: Basler Schülerinnen und Schüler sind schlecht, sie müssen mehr wissen, gerade in den MINT-Fächern. Mehr Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – das geht oft zulasten von musischen Fächern, denn die Stundentafeln lassen sich nicht beliebig erweitern.
Dass Lehrpersonen mehr abfragbares Wissen in den Unterricht bringen, hat laut dem Oberstufen-Lehrer Georg Geiger noch weitere Gründe: Basler Schülerinnen und Schüler müssen in der 3., 6., 8. und 9. Klasse standardisierte Leistungstests machen, die dann als Vergleich zu den umliegenden Kantonen Baselland, Aargau und Solothurn herangezogen werden.

Diese Leistungstests sind umstritten. Geiger stellte im Januar an der Gesamt-Schulkonferenz den Antrag, diese Checks abzuschaffen. Die grosse Mehrheit der 2000 Fach- und Lehrpersonen stand hinter ihm. Doch der frisch ins Amt gewählte Erziehungsdirektor Conradin Cramer ist der Ansicht, die Checks könnten nicht ohne Weiteres abgeschafft werden, weil Verträge mit den anderen Kantonen und dem Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich bestehen würden, das die Tests entwickelt hat und auswertet. So steht es in Cramers Antwort auf den Antrag der Schulkonferenz.
Die Checks sind für das Zürcher Forschungsinstitut ein Millionengeschäft. Die vier Kantone zahlten seit 2012 bis heute 11,5 Millionen Franken für den Aufbau und Betrieb der Datenbank. Basel-Stadt steuerte 1,6 Millionen bei. Jedes weitere Jahr kostet den Kanton 290’000 Franken.

Der Vertrag mit dem Institut läuft aktuell noch bis 2019; und Basel-Stadt kommt nicht so einfach aus dem Vertrag raus. Denn die anderen Kantone müssten im Falle eines Ausscheidens den Kostenanteil von Basel-Stadt übernehmen – dazu wären sie wohl nicht bereit.

Statt die Checks abzuschaffen, wie es die Lehrpersonen wollten, wurde die standardisierte Befragung in den letzten Jahren weiter ausgebaut. Neu wird bei den Tests auch der Hintergrund der Eltern erfasst, um besser evaluieren zu können, warum ein Schüler oder eine Schülerin vielleicht ganz schlecht oder besonders gut abschnitt.

Für Geiger sind die Checks «hochproblematisch, weil sie eine bestimmte Art von Fragestellung fördern» – eine, die auf abfragbares Wissen gerichtet sei. Er befürchtet, dass es in 15 bis 20 Jahren statt der Zeugnisse nur noch solche Checks gebe. Dabei würden die Checks für die Lehrpersonen überhaupt keinen Mehrwert bringen – «diese wissen ganz genau, wie die Tests herauskommen, weil sie die Schülerinnen und Schüler tagtäglich begleiten und deshalb sehr gut kennen».

Was Geiger im normalen Unterricht beobachtet, ist eine gegenläufige Tendenz: «Einerseits gibt es die Forderung nach selbstorganisiertem und kompetenzorientiertem Lernen. Andererseits unterrichten Lehrpersonen vermehrt wieder nach alter Schule: mit Auswendiglernen und verschärftem Konkurrenzdruck.»

Die neue Härte im Unterricht rühre daher, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerschaft auf die Härte des späteren Lebens vorbereiten wollten, meint Geiger: «Niemand weiss, welche Jobs es für die heutigen Schülerinnen und Schüler noch geben wird. Bei vielen Lehrpersonen löst das eine grosse Verunsicherung aus.» Und manche reagierten darauf, indem sie «Unterricht wie früher» machen würden.

Die Mutter von Kerstin, die diese Art Unterricht zu spüren kriegt, sagt nach dem Treffen mit der TagesWoche, sie wolle nun doch nicht, dass über ihre Tochter geschrieben werde. Zu gross ist die Angst, dass Kerstin in der Schule noch mehr leiden muss, wenn rauskommt, dass die Mutter mit einem Journalisten sprach.

Also nehmen wir Details aus dem Artikel, die auf Kerstin zurückfallen könnten. Danach akzeptiert die Mutter die Erwähnung ihrer Tochter. Per E-Mail schreibt sie: «Ich finde es wichtig und gut, dass über dieses Thema geschrieben wird. Das Schweigen ist schon so gross, ich bin immer wieder überrascht, wie viel von Eltern einfach hingenommen wird.»


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