Steigender Druck in der Schule und zu Hause macht Kinder krank.
Bei Ärzten melden sich immer mehr Schüler mit Beschwerden, für die es keine
medizinische Erklärung gibt. Sie leiden an Kopfweh, Schlafstörungen oder Depressionen.
Kranke Kinderseelen, NZZaS, 29.10. von Anja Burri
Julia
ist vierzehn Jahre alt, als sie nicht mehr kann. Die Schlaflosigkeit, die
Kopfschmerzen und die Schwindelgefühle fesseln sie ans Bett. Sie geht nicht
mehr zur Schule. Julia kommt in die Kinderabteilung eines Spitals in der
Deutschschweiz. Die Ärzte suchen lange. Doch sie finden keine medizinische
Ursache für ihre Beschwerden. Trotzdem ist klar, dass Julia krank ist: Im
Alter, in dem sich andere Teenager zum ersten Mal verlieben, hat sie eine
Erschöpfungsdepression. Das Mädchen ist in der Schule in einen Strudel aus
Ausgrenzung und Leistungsdruck geraten, aus dem es allein nicht mehr
herausfindet. Es folgen ein monatelanger Spitalaufenthalt, Psychopharmaka und
Therapiesitzungen.
Julia
heisst eigentlich anders. Geschichten wie ihre hören die Kinderärzte immer
wieder und vor allem: immer öfter. Es sind die Geschichten von Kindern, die
über ihren Körper signalisieren, dass mit ihnen etwas nicht stimmt, dass ihre
Seele krank ist. Kopfweh oder Bauchweh sind solche Signale, und sie heissen psychosomatische
Erkrankungen. Diese treffen zunehmend auch die Jüngsten unserer Gesellschaft.
Das berichten Psychologen, Lehrer, Kinderärzte und Sozialpädagogen
übereinstimmend. Christian Henkel ist leitender Arzt für Psychosomatik am
Ostschweizer Kinderspital in St.Gallen. «Es gibt immer mehr Kinder, die
aufgrund von Schmerzen nicht in die Schule gehen», sagt er. Besonders stark
zugenommen hätten Kopf- und Bauchschmerzen sowie Darm-Beschwerden. Betroffene
Kinder leiden auch an Übelkeit, Schwindel und Atemnot sowie an Schlaf- und
Essstörungen. Manche Patienten sind erst zehn Jahre alt.
Die
Entwicklung in der Schweiz entspricht einem globalen Trend. Internationale
Studien schätzen, dass weltweit zwischen 10 und 20 Prozent aller Kinder unter
psychischen Störungen leiden. Längst nicht alle Betroffenen kommen wie Julia
ins Spital, sondern viel häufiger zum Hausarzt. Die psychosomatischen
Erkrankungen beschäftigen zunehmend auch allgemeine Kinderärzte und Spezialisten
für Augen-, Ohren- oder Atemerkrankungen.
Zum
Beispiel Jürg Barben, Lungenspezialist für Kinder am Ostschweizer Kinderspital.
Er hat es regelmässig mit Kindern zu tun, deren Atembeschwerden er medizinisch
nicht erklären kann. Am Anfang stehe oft der Verdacht auf Asthma, sagt er. Doch
bei geschätzten 10 bis 15 Prozent der jugendlichen Patienten stelle sich
heraus, dass das Problem ganz woanders liege. «Diese Kinder kriegen aus Angst
oder Panik keine Luft mehr, sie beginnen zu hyperventilieren», sagt er. Oft
passiere dies abends, vor dem Ins-Bett-Gehen oder beim Erledigen der
Hausaufgaben. Der Abend ist für viele Kinder mit Ängsten und Sorgen die
schlimmste Zeit. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation zeigte vor drei
Jahren: 27 Prozent der Elfjährigen in der Schweiz leiden täglich oder mehrmals
pro Woche unter Schlafstörungen. Noch gibt es in der Schweiz kaum
wissenschaftliche Erkenntnisse zu psychosomatischen Erkrankungen von Kindern.
Die
Anzeichen, dass sich gerade etwas verändert, sind allerdings unübersehbar.
Thomas Brunner ist eine Art Seismologe für die Erschütterungen der
Kinderseelen. Der Sozialpädagoge leitet das Sorgentelefon 147 der Pro Juventute
für Kinder. Er sitzt in einem hellen Altbau in der Stadt Bern. Pro Raum gibt es
zwei Arbeitsplätze mit Computer und Kopfhörer, in einer Ecke steht eine
zusammenfaltbare Matratze. Das Büro ist rund um die Uhr besetzt, Brunners
Mitarbeiter beraten jeden Tag 400 Kinder und Jugendliche aus der ganzen Schweiz
per Telefon, Chat, E-Mail oder Textnachrichten. Die meisten Anrufer sind
zwischen 13 und 17 Jahre alt, manche auch jünger. «Wir stellen eine
Verschiebung hin zu schwerwiegenden persönlichen Problemen der Jugendlichen
fest», sagt Brunner. Noch vor fünf Jahren war Sexualität das Thema Nummer1,
mehr als jede fünfte Anfrage drehte sich um Fragen nach dem ersten Mal oder der
Pille danach. Heute stehen ganz andere Sorgen an erster Stelle. In den ersten
sechs Monaten dieses Jahres berichteten 29,5 Prozent der Teenager über Angst,
Selbstzweifel, Stress, Überforderung, Leistungsdruck, aber auch über Sorgen um
Eltern oder Freundinnen. Selbstmord ist in mindestens zwei Beratungen pro Tag
das zentrale Thema. Das Sorgenbarometer der Kinder und Jugendlichen gleicht
sich also zunehmend demjenigen der Erwachsenen an. Da ist es nur logisch, dass
die Krankheiten der Erwachsenen – Burnout, Depression oder chronische Schmerzen
zum Beispiel – zunehmend auch Kinder betreffen. «Wir können nicht erwarten,
dass unsere Kinder in einer komplett anderen Welt leben als wir», sagt
Sozialpädagoge Brunner.
Überall Leistungsdruck
Wie
kommt es, dass die Welt schon unsere Kinder belastet und sogar krank macht? Es
gibt drei Faktoren, die Fachleute aufzählen: Stress in der Schule, familiäre
Belastungen und die Gesellschaft.
Der
St.Galler Kinderarzt Arnold Bächler, 72, öffnet seine Mappe und legt eine
Zeichnung auf den Tisch. Es ist der Turm der Bremer Stadtmusikanten, einfach in
umgekehrter Reihenfolge: Der schwere Esel sitzt zuoberst und drückt auf den
Hund, dieser zerquetscht den Kater und schliesslich ruht die ganze Last auf dem
Güggel. Für Bächler ist die Zeichnung eine Metapher für den Leistungsdruck in
der Schule. Zuoberst steht die Gesellschaft, dann kommen die Lehrer, die Eltern
und zuunterst die Kinder. «Der Leistungsdruck überträgt sich auf alle, eine
eindeutige Schuldzuweisung funktioniert nicht», sagt Bächler, der seit über 40
Jahren praktiziert.
Die
Schule krankt aus seiner Sicht jedoch an einem Grundproblem: Sie erwarte von
allen Kindern den gleichen Entwicklungsstand, die Lehrpläne orientierten sich
notorisch an den Leistungsstärksten. «Das führt dazu, dass ein hoher
Prozentsatz der Kinder als auffällig abgestempelt wird», sagt Bächler. Viele
von diesen Kindern kämen später zu ihm in die Praxis – oft in Schubbewegungen:
kurz vor den Sommerferien, wenn die Zeugnisse verteilt werden, und ein paar
Wochen nach den Sommerferien, wenn die ersten Prüfungen anstehen. Arnold
Bächler hat kürzlich einen Tag lang eine Strichliste geführt. Von den 24
Konsultationen drehten sich 6 – also jede vierte – um ein Schulproblem. Häufig
gehe es um Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme oder Leistungsschwächen,
sagt er. Diese seien oft nicht sofort sichtbar. «Hinter Bauchweh, Kopfweh oder
Müdigkeit versteckt sich oft Stress in der Schule.»
Ein
solcher Fall ist Michael, achteinhalb Jahre. Nach einem Sturz vom Velo
beobachten Eltern und Lehrerin bei dem Zweitklässler schwere, depressive
Stimmungsschwankungen. Weil Michael auch über heftige Schmerzen in Nacken und
Kopf klagt, vermuten die Eltern einen Zusammenhang mit dem Sturz. Sie lassen
den Buben auf der Notfallstation umfassend untersuchen – ohne Ergebnis. Im
Gespräch mit Kinderarzt Bächler erzählt Michael von seiner schulischen
Belastung, und dass seine Beschwerden vor allem abends vor dem Einschlafen
auftreten. Schliesslich stellt sich heraus, dass Michael motorische
Schwierigkeiten hat und deshalb in der Schule nicht überall mithalten kann. Der
Velosturz fiel zufällig mit der Einführung von Noten in der Schule zusammen.
Längst
nicht immer sind Schulprobleme schuld, wenn es Kindern schlechtgeht. Psychische
Krankheiten gehören zu den häufigsten Krankheiten in der Schweiz. Jede zweite
bis dritte Person ist im Verlauf ihres Lebens einmal psychisch krank. Etwa die
Hälfte der Betroffenen hat Kinder. Kurt Albermann ist Chefarzt des
Sozialpädiatrischen Zentrums am Kantonsspital Winterthur und ärztlicher Leiter
des Instituts Kinderseele Schweiz. «Vorsichtig geschätzt gibt es in der
Schweiz 300000 Kinder und Jugendliche mit einem psychisch erkrankten
Elternteil», sagt er. Diese Kinder hätten ein deutlich höheres Risiko, selber
krank zu werden. Psychisch belastete Eltern erhielten nicht immer die nötige
fachliche Betreuung oder Unterstützung in ihrem Umfeld. Das wirke sich auf die
Entwicklung der Kinder aus. «Sie übernehmen mitunter viel Verantwortung zu Hause,
ihre Bedürfnisse kommen zu kurz.» Auch die Qualität der Partnerschaft der
Eltern sei ein wichtiger Faktor. Albermann stützt sich auf die Forschung. Diese
zeigt zum Beispiel, dass zwei Drittel der Kinder, die schweren Konflikten
zwischen den Eltern ausgesetzt sind, Verhaltensprobleme entwickeln.
Drei Hobbys aufs Mal
Psychosomatische
Erkrankungen der Kinder funktionieren dabei auch als Blitzableiter. Es ist
einfacher für eine Familie, über das Bauchweh ihres Kindes zu sprechen als über
familiäre Probleme. Mit anderen Worten: Solange ein körperliches Symptom
präsentiert werden kann, ist das für die Familie weniger bedrohlich, als wenn
es um Angst oder Depression geht. «Viele Eltern sind deshalb fixiert auf die
medizinische Untersuchung ihres Kindes», sagt Cyril Lüdin. Der Kinderarzt aus
Baselland hat sich im Verlauf seiner dreissigjährigen Karriere auf die Bindung
zwischen Eltern und Kindern spezialisiert. Wenn er spricht, tönt der Mediziner
fast wie ein Soziologe. «Die Kinder halten uns den Spiegel vor», sagt er. Die
Gesellschaft entwickle sich rasant, es gebe immer mehr Möglichkeiten für alle,
dafür weniger verbindliche Regeln und Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen.
Diese Orientierungslosigkeit münde in einem unglaublichen Wettbewerb, der schon
die Kinder erfasse. Drei verschiedene Hobbys und zusätzliche Förderstunden
seien keine Seltenheit. Nicht immer ist klar, ob es die Kinder sind, die sich
nicht für eine Freizeitbeschäftigung entscheiden können, oder ehrgeizige
Eltern. Das Freizeitangebot für Kinder ist so attraktiv und gross geworden,
dass es alle Beteiligten unter Druck setzt. So muss man heute erklären, was man
nicht tut: Etwa, weshalb der Sohn oder die Tochter nur einmal pro Woche Sport
treibt und immer noch kein Instrument spielt.
Lüdin
erzählt von einem siebenjährigen Patienten, nennen wir ihn Sebastian. Seine
Mutter brachte ihn in die Praxis wegen häufiger Tobsuchtsanfälle. Im Gespräch
erfuhr der Kinderarzt, dass der Junge drei verschiedene Sportarten ausübt –
jede Woche. Seine Wutausbrüche waren eindeutige Stresssymptome. Die Mutter
interpretierte die Zornanfälle jedoch als Zeichen dafür, dass ihr Sohn noch
mehr Bewegung braucht. «Eigentlich fühlt sich Sebastian am wohlsten, wenn er in
seinem Zimmer lesen kann», sagt Lüdin. Die Eltern müssten lernen, auszuhalten,
dass ihr Kind auch einmal ruhig daheim sitze.
Julia,
das Mädchen mit der Erschöpfungsdepression, trieb sich nicht mit Sport, sondern
mit exzessivem Lernen bis zum Zusammenbruch. Auch für die Familie war es nicht
leicht, die Krankheit zu akzeptieren. Die Eltern und die beiden Geschwister
besuchten mit Julia eine Familientherapie. Sie durfte die Schule wechseln. Nach
einigen Monaten konnte sie, inzwischen 15 Jahre alt geworden, das Spital
verlassen: Es ging ihr deutlich besser.
Es
AntwortenLöschenEs ist an der Zeit das kranke Schulsystem zu boykottieren unsere Kinder sind erst in der 5ten und 3ten Klasse und haben einen Test nach dem anderen! Ich bin bald soweit das nicht mehr mitzumachen. Ich meine Kinder sollen keine Test mehr machen!
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