26. Oktober 2017

Die Schönfärberei muss aufhören

Stochern im Nebel  – Weder die IQB-Bildungstrends noch PISA können eindeutige Ursachen für schlechte Ergebnisse liefern.
Nach jeder Vergleichsstudie – ob IGLU, PISA oder IQB Ländervergleiche – immer dasselbe Theater: mit dem Brustton der Überzeugung werden die Schuldigen für das schwache Abschneiden von Nordrhein-Westfalen, Bremen, Berlin und Hamburg lautstark verkündet. So als ob in den Hitparaden der Leistung Menüs aufpoppen: hier liegt es an fehlenden Gesamtschulen, dort an zu wenigen Lehrern, hier an den Eltern, den Flüchtlingen und dort selbstverständlich an der Digitalisierung. Keine dieser Deutungen muss richtig sein. Keine der Vergleichsuntersuchungen ist kausal belastbar, kann also Auskunft geben über die wahren Ursachen.
„Merkt eigentlich niemand, dass Heterogenität in einer Klasse kein Sparmodell, sondern eine ziemlich teure Angelegenheit ist?“ www.news4teachers.de, 20.10. Gastkommentar von Rainer Dollase


Aber wenn immer dieselben Länder hinten liegen, aus denen übrigens die lautesten Stimmen reformfreudiger Erziehungswissenschaft tönen, sollte auch all das, was landauf landab als Krönung pädagogischer Kunst gepriesen wird – wie gemeinsames Lernen, mehr Heterogenität, selbständiges und eigenverantwortliches lernen, Gruppenarbeit, innere Differenzierung, jahrgangsübergreifendes Lernen (JÜL) etc pp  –  auf den Prüfstand gestellt werden. Seit der ersten PISA Studie (2000) haben diese Länder Zeit gehabt, was zum Positiven zu ändern – sie haben sich zum Nachteil unserer Kinder und Jugendlichen krampfhaft an den pädagogischen Ideologien der Vergangenheit festgebissen. War das Lust am Untergang?

Nichts war wirklich erfolgreich: weder der Pflicht-Ganztag noch die Gesamtschule bezogen auf Bildungsgerechtigkeit, weder G8 noch Einschulung mit 5 Jahren bezogen auf Leistung, weder selbständiges Lernen noch JÜL, weder Klippert noch Norman Green  – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Bestenfalls ließen sich keine Unterschiede zu herkömmlichen Maßnahmen feststellen  – gesucht aber werden Möglichkeiten der eindeutigen Verbesserung zur Erreichung pädagogischer Ziele.

Was also sollen wir tun? Alles gehört auf den Prüfstand – nicht nur die üblichen Verdächtigen. Die Bildungspolitik kann den grassierenden Kausal-Unsinn diverser Interessengruppen nicht einfach so stehen lassen  – die Eröffnung eines vorurteilsfreien Diskurses  über Ursachen, Fakten und Fakes, alternative Fakten und populistische Vereinfachungen (auch durch Zahlen) ist ihre vorrangige Aufgabe.

Beispiele gefällig? Die können  nur die Form von Fragen haben: Die Vergleichsstudien liefern nur Mittelwerte – an den einzelnen Schulen herrschen manchmal Verhältnisse, die im lauwarmen Durchschnittsgesäusel völlig untergehen. Kann man zum Beispiel einer Grundschule mit rund 250 SchülerInnen, davon 53 Inklusionskindern, 175 „Bildung und Teilhabe“ Berechtigten, 68 bekannten Fällen von Gewalt und Missbrauch in der Familie, 12 schwer traumatisierten Kindern (natürlich ist der Migrationsanteil ungefähr bei 85%) dieselben Unterrichtsmethoden wie der Grundschule in einem Villenviertel empfehlen (mit 1 Migrationskind)? Wohl kaum.

Darf man überhaupt von einer deutschen Grundschule erwarten, dass sie dasselbe leistet wie eine finnische, der beim Sprachunterricht in jedem Unterricht immer ein/e Logopäd/in und fast immer eine Assistenzlehrkraft zur Seite steht?

Merkt eigentlich niemand, dass Heterogenität in einer Klasse kein Sparmodell, sondern eine ziemlich teure Angelegenheit ist, weil für die zu bewältigenden Aufgaben  mehr Personal benötigt wird? Dass Heterogenität Lehrkräften und Schülern eine Menge an Anstrengung, Stress und Frust abverlangt?

Denkverbote darf es jetzt nicht mehr geben. Der im Gefolge zu großer Heterogenität  entstehende „Arbeitsblattunterricht“ vermindert übrigens massiv den sprachlichen Input der Lehrpersonen, der gerade bei Heterogenität und dem hohen Migrationsanteil für die Sprachentwicklung bitter notwendig wäre. Stattdessen lesen die Kinder auf den Arbeitsblättern rudimentäre Imperative wie „Denke nach!“ und  „Kreuze an!“. Der durch Arbeitsblätter gesteuerte Unterricht in zu heterogenen Klassen ist eine Notlösung der praktisch undurchdachten Idee des „gemeinsamen Lernens“. Und die sprachlich begabten deutschen Kinder, die als Hilfslehrkräfte für den korrekten sprachlichen Austausch zumindest in Uni Seminaren als Patentlösungen herhalten müssen  –  die gibt es in NRW, Bremen, Hamburg und Berlin nur selten. Defizitäre Sprachentwicklung wird durch Mangel an sprachlicher Interaktion mit einem erwachsenen Sprachvorbild erzeugt  –  und fehlende Motivation und Interesse am Schulstoff ebenso.

Die Schönfärberei und Erfolgsheuchelei in den Schulen und der Bildungsadministration der IQB-Schlusslichter muss aufhören – alle Konzepte der Vergangenheit müssen auf den Prüfstand.


Der Psychologie-Professor Rainer Dollase gehört zu den renommiertesten Bildungswissenschaftlern in Deutschland.

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