Wer kennt sie
nicht, die zahllosen Schwierigkeiten, mit denen Eltern und Lehrkräfte in ihrer
Erziehungsarbeit zu kämpfen haben? Da sind Jugendliche, die mehr oder weniger
das Gegenteil von dem machen, was die Eltern möchten; dort Schülerinnen und
Schüler, die sich den Anordnungen der Lehrer lächelnd widersetzen. Ein fast
alltägliches Bild, gewiss; ein Bild, das uns schon längst nicht mehr zu
provozieren vermag. Oder doch? Für einmal sei hier die Frage gestattet, ob
unsere Erziehung nicht in eine unabdingbare Krise geraten sei.
Mut zur Erziehung, Thurgauer Zeitung, 26.10. von Mario Andreotti
Sie ist es,
wie mir scheint, und sie ist es in zweifacher Hinsicht: zum ersten durch eine
teils falsch verstandene Freiheit des Menschen und zum andern durch das daraus
resultierende Fazit, vom jungen Menschen kaum mehr eine Anstrengung zu
verlangen. Ich glaube, dass es heute kaum eine Wissenschaft gibt, die derart
durch Einseitigkeiten gekennzeichnet ist wie die Pädagogik. Baute die ältere
Pädagogik, etwa der Wilhelminischen Zeit, noch weitgehend darauf auf, dass die
Erziehung zu Gehorsam und Pflichterfüllung die Grundlage einer jeden
Gesellschaft sei, so wurde diese Auffassung bald einmal durch eine andere,
ebenso dogmatische abgelöst, die bis heute in Theorie und Praxis mehr oder
weniger Gültigkeit besitzt.
Diese
«moderne» Auffassung lässt sich mit dem einen Wort des «laissez-faire,
laissez-aller» treffend umschreiben. Sie geht davon aus, dass jedes Kind ein
naturgegebenes Recht auf «seine» Freiheit besitzt, weil es – hier folgt man
Ideen Rousseaus – in seinem innersten Kern stets gut sei. Dem Kind wird damit
eine Art Natur-Heiligkeit zugesprochen. Fällt es später doch negativ auf, so
ist man gewillt, diese negative Entwicklung einzig auf äussere Einflüsse
zurückzuführen, etwa auf die Manipulationen einer schlechten Gesellschaft oder
gar auf ein asoziales Schulsystem. Hier liegt der entscheidende Fehler der
«modernen» Erziehungslehre; in ihrer krassen Einseitigkeit verkennt sie das Wesen
des Menschen ebenso sehr wie der Drill zum Gehorsam früherer Zeiten.
Sicher: Der
einstige Gehorsamsdrill liess sich nur allzu leicht missbrauchen und in den
Dienst unmoralischer Ziele stellen. Dafür hat die Geschichte des letzten
Jahrhunderts genügend Beispiele aufzuweisen. Doch diese Einseitigkeit des
damaligen Obrigkeitsdenkens gibt uns neuzeitlichen Erziehern in keiner Weise
das Recht, in ebenso extremer Einseitigkeit jede Form von Unfreiheit und
Unterordnung abzulehnen. Eine Gehorsamserziehung, welche die Würde des Menschen
nicht achtete, schadete; aber ebenso schadet eine Erziehung des Rechtes auf
Freiheit, wenn die Ordnungen nicht mehr gesehen werden, in denen der Mensch
steht und denen er daher verpflichtet ist.
Das kindliche
Recht auf Freiheit muss in der Waage gehalten werden durch die Pflicht zur
Unfreiheit, die das gemeinsame Leben in Gemeinschaft und Staat erfordern kann.
Zu dieser fundamentalen Tatsache gehört auch der Mut der Erzieher, dem jungen
Menschen Werte zu zeigen und zu setzen und entsprechende Forderungen an ihn zu
stellen. Das bedingt allerdings, dass sie ihre Rolle als Erzieher wirklich
wahrnehmen und nicht durch billige Anbiederung an ihre Sprösslinge, durch
falschverstandene Kumpelei gleichsam aufgeben. Das Konzept elterlicher Führung,
das im Zuge der antiautoritären Bewegung nach 1968 in eine Identitätskrise
geraten ist, muss wiederaufleben. Gleiches gilt auch für die Erziehungsarbeit
der Lehrer. Eine Schule, die auf den Mut zur Erziehung als erste Präferenz
verzichtet und sich stattdessen mit einer auf Lehrplan und Prüfungen
abgestellten Wissensvermittlung zufrieden gibt, degradiert sich selbst zu einer
Rekrutierungsanstalt für eine eindimensionale Wissensgesellschaft. Ob der vom
Lehrplan 21 eingeforderte kompetenzorientierte Unterricht, dessen Inhalte auf
das exklusive Lernen mechanischer Verfahren und auf das «Pauken»
standardisierter Tests reduziert ist, den Erziehungsauftrag der Schule noch
wahrnehmen kann, wage ich allerdings zu bezweifeln.
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