Was geht verloren,
wenn Kinder nicht mehr lernen, mit der Hand zu schreiben? Oder es nur noch in
Druckbuchstaben können? Einiges, sagt der Graphologe Helmut Ploog.
Hat die Schreibschrift in der Schule bald ausgedient? Bild: dpa
Schlecht für den Intellekt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.8. von Sara Kreuter
|
Früher
war die Schönschrift ein Zeichen guter Erziehung - heute schreiben wir nur noch
in Ausnahmefällen per Hand. Trauern Sie den alten Zeiten nach?
Ein wenig schon, ja. Eine schöne Handschrift gehörte früher einfach
dazu, war sogar Voraussetzung, um einen guten Job zu bekommen. Das ist
verlorengegangen durch die größeren Freiheiten, die Kindern und Jugendlichen in
der Erziehung eingeräumt wurden. Das zeigt schon ein Vergleich mit der
ehemaligen DDR. Dort war die Erziehung noch strenger, dementsprechend haben
ältere Leute aus dem Osten heute eine schönere Handschrift.
Ist
es legitim, aus reiner Sentimentalität am handschriftlichen Schreiben
festzuhalten?
Es ist nicht nur die Nostalgie, die den Wert der Handschrift ausmacht.
Das Schreiben ist zentraler Teil unserer Kommunikation . . .
. .
. die sich weiterentwickelt. So wie die Schreibmaschine den Federkiel ersetzt
hat, ersetzt nun die Tastatur den Füller. Hat die Handschrift in Zeiten des
digitalen Fortschritts irgendwann schlichtweg ausgedient?
Das Schreiben ist eine Kulturtechnik, die wir mühsam erlernt haben, die
unser gesamtes Denken prägt. Das Tippen am PC stellt in gewisser Weise einen
Bruch mit unserer Geschichte dar, keine Weiterentwicklung. Sowohl die Erfindung
der Schrift vor 6000 Jahren als auch die Entwicklung des Buchdrucks im 15.
Jahrhundert haben dazu geführt, dass Menschen kommunizieren, sich besser
ausdrücken können, sich bilden und ein anderes Selbstwertgefühl entwickeln. Das
alles droht sich nun durch technische Erneuerungen aufzulösen. Der PC hat
unserem Sprachgefühl und -verständnis nicht nur gutgetan.
Dennoch
sind dank Rechtschreibprogrammen und der Backspace- Taste digital verfasste
Texte häufig sprachlich hochwertiger und weit weniger fehlerhaft als
vergleichbare handschriftlich verfasste Texte.
Grundsätzlich ist das richtig und ein echter Vorteil des Computers. Aber
letztlich ist gutes Schreiben eine Frage der Sorgfalt. Mit dem PC muss man
nicht mehr so gründlich sein, nicht mehr nachdenken, bevor man tippt. Das kann
auch ein Nachteil sein.
Ist
für Sie eine Gesellschaft denkbar, in der wir durch Erfindungen wie die
Spracherkennungselektronik völlig ohne Schreiben auskommen können?
Spracherkennung von Geräten erlebe ich selbst am iPad, da kann
man seine Mails und Texte reindiktieren, dann schreibt das Ding diese Worte
nieder, in sehr hoher Qualität. Im Französischen setzt es die Akzente sogar
richtig, besser, als ich es kann. Also verstehen Sie mich nicht falsch, das ist
eine grandiose Erfindung. Aber trotzdem muss man als Autor dieser Nachricht in
der Lage sein, jeden Satz zu lesen und zu korrigieren. Und die Kernfrage ist,
und darüber streiten sich Experten, ob man nur das Lesen lernen kann, ohne des
Schreibens mächtig zu sein. Ich denke, das ist auf keinen Fall möglich. Ich
halte es für ein nicht vertretbares Risiko, das Schreiben so leichtfertig aufs
Spiel zu setzen, wie wir es momentan tun. Mir ist dabei wichtig: Ich will den
digitalen Fortschritt nicht verteufeln, sondern auf das enorme Potential und
die Wichtigkeit der Handschrift hinweisen.
Was
geht also verloren, wenn Kinder nicht mehr lernen, per Hand zu schreiben?
Einiges, vieles. Langfristig besteht natürlich die Gefahr, dass wir zu
einer Gesellschaft der Analphabeten werden, wenn wir nämlich das Schreiben -
und damit auch das Lesen - verlernen.
Ein
echtes Problem ist auch der Bruch zwischen den Generationen. Wenn Kinder die
Notizen ihrer Eltern nicht mehr lesen können oder gar später mal ihre
Tagebucheinträge und ihre Briefe, dann geht viel verloren, was die Beziehung
zwischen Eltern und Kindern ausmacht.
Es macht aber auch einen Unterschied für den Intellekt, ob ich einen
Buchstaben zu Papier bringe oder ihn in einen Computer eintippe. Gewisse
Bewegungsabläufe beim Schreiben helfen uns, das Notierte besser zu behalten.
Studien zeigen, dass Studenten, die in der Vorlesung ein handschriftliches
Skript verfassen, den Inhalt der Veranstaltung besser behalten als diejenigen,
die mit ihrem PC arbeiten.
Wer
handschriftlich schreibt, ist also schlauer?
Ja, so könnte man das sagen. Aber nicht nur deshalb ist die Handschrift
wichtig. Sie hat auch mehr Gewicht als ihr digitales Pendant.
Warum?
Das sehen wir beispielsweise daran, dass die handschriftliche
Unterschrift als Mittel zur Bekräftigung immer noch sehr weit verbreitet ist.
Aber abgesehen davon ist die Handschrift auch persönlicher, wärmer und lebendiger.
Weil es das Gegenüber mehr Aufwand gekostet hat, die Notiz zu verfassen, ist
sie dem Empfänger oft wertvoller als der gedruckte Brief. Außerdem: Jeder
entwickelt seine Identität in der Handschrift, sie ist also Ausdruck der
eigenen Persönlichkeit - klar, dass eine handschriftliche Notiz für Sender und
Empfänger dadurch mehr Bedeutung hat.
Was
verrät eine Handschrift denn?
Die Handschrift gibt, wenn sie ausgeschrieben ist, einen Überblick über
die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen, also Intellekt, Leistungsvermögen,
soziale Kompetenz und Stärken und Schwächen. Kindheitsprobleme beispielsweise
schlagen sich in der Schrift nieder. Auch verschiedene Charaktermerkmale, zum
Beispiel das Maß an Selbstkontrolle, das jemand besitzt. Als Graphologe gucke ich
mir an, wie genau jemand schreibt. Wer auch bei einer schnellen Schrift keine
i-Punkte oder t-Striche auslässt, ist wohl auch sonst sehr diszipliniert. Hermann Hesse hat
beispielsweise als Jugendlicher an allen Buchstaben mit Oberlängen, also bei d
und b und h, eine Schleife angefügt. Er war zu der Zeit wohl ein sehr
kontrollierter Mensch.
Die
Autorin Cornelia Funke ist
eine Verfechterin der Schreibschrift. Diese bringe "die Gedanken zum
Fliegen". Was ist da dran?
Cornelia Funke bringt es auf den Punkt. Ich bin nicht nur Verfechter von
handschriftlichem Schreiben, sondern wie viele meiner Kollegen der Meinung,
dass wir großen Wert auf die Schreibschrift, also die verbundene Handschrift,
legen müssen. Diese ist vor allem schneller, außerdem ist durch die verbundene
Schrift eine stärkere Individualisierung der eigenen Handschrift möglich. Zudem
zeigen Studien, dass wir Zusammenhänge schneller begreifen, wenn wir beim
Schreiben die Buchstaben miteinander verbinden.
Gegner
behaupten, das Erlernen der Schreibschrift nehme Schulzeit in Anspruch, die für
anderen Stoff benötigt werde.
Klar nimmt das Erlernen einer neuen Schrift Zeit in Anspruch. Aber man
wird ja schneller und spart langfristig gesehen im Vergleich zu den Druckbuchstaben
sogar Zeit. Außerdem, überlegen Sie mal: Die Chinesen verbringen so viele
Unterrichtsstunden damit, ihre wirklich schwierigen Zeichen zu lernen - und
haben trotzdem noch Zeit für Mathe. Ich denke mir immer, wenn die Chinesen
diese Masse an Zeichen bewältigen, dann bekommen wir doch wohl eine verbundene
Handschrift auf die Reihe.
Als
Kompromiss zwischen Druckschrift und Handschrift soll die sogenannte
Grundschrift herhalten. Was halten Sie davon?
Das ist so eine Erfindung des Deutschen Grundschulverbands. Gemeint ist
eine besondere Druckschrift, Kinder können die einzelnen Buchstaben dann so
verbinden, wie sie wollen. Ich bin ja froh, wenn Schüler handschriftlich
schreiben lernen - besser als gar nichts ist das auf jeden Fall. Trotzdem ist
die Grundschrift keine verbundene Handschrift - alle Vorteile der
Schreibschrift gehen dadurch also verloren.
Es
gibt bereits die Möglichkeit, per Hand auf Computerbildschirme zu schreiben.
Ist das ein zukunftsträchtiges Modell?
Das ist eine sehr nette technische Erfindung, sie bringt die großen
Bereiche Digitalisierung und Handschrift schön zusammen. Mal sehen, wie weit
das noch entwickelt wird. Momentan sind solche Programme nicht sehr
zufriedenstellend, das kennen Sie sicher selbst, wenn Sie ein Paket von der Post
entgegennehmen und unterschreiben müssen. Das ist eben Glas und nicht Papier,
auf dem geschrieben wird, es fühlt sich also anders an und sieht auch anders
aus. Trotzdem: Ich bin sicher, dass viele Erfindungen im Bereich Kommunikation
und Sprache großes Potential haben, aber die Handschrift - ich würde sogar
sagen: die verbundene Handschrift - dürfen wir um keinen Preis aufgeben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen