28. August 2017

Verlust der Handschrift

Was geht verloren, wenn Kinder nicht mehr lernen, mit der Hand zu schreiben? Oder es nur noch in Druckbuchstaben können? Einiges, sagt der Graphologe Helmut Ploog.
Hat die Schreibschrift in der Schule bald ausgedient? Bild: dpa
Schlecht für den Intellekt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.8. von Sara Kreuter

Früher war die Schönschrift ein Zeichen guter Erziehung - heute schreiben wir nur noch in Ausnahmefällen per Hand. Trauern Sie den alten Zeiten nach?
Ein wenig schon, ja. Eine schöne Handschrift gehörte früher einfach dazu, war sogar Voraussetzung, um einen guten Job zu bekommen. Das ist verlorengegangen durch die größeren Freiheiten, die Kindern und Jugendlichen in der Erziehung eingeräumt wurden. Das zeigt schon ein Vergleich mit der ehemaligen DDR. Dort war die Erziehung noch strenger, dementsprechend haben ältere Leute aus dem Osten heute eine schönere Handschrift.

Ist es legitim, aus reiner Sentimentalität am handschriftlichen Schreiben festzuhalten?
Es ist nicht nur die Nostalgie, die den Wert der Handschrift ausmacht. Das Schreiben ist zentraler Teil unserer Kommunikation . . .

. . . die sich weiterentwickelt. So wie die Schreibmaschine den Federkiel ersetzt hat, ersetzt nun die Tastatur den Füller. Hat die Handschrift in Zeiten des digitalen Fortschritts irgendwann schlichtweg ausgedient?
Das Schreiben ist eine Kulturtechnik, die wir mühsam erlernt haben, die unser gesamtes Denken prägt. Das Tippen am PC stellt in gewisser Weise einen Bruch mit unserer Geschichte dar, keine Weiterentwicklung. Sowohl die Erfindung der Schrift vor 6000 Jahren als auch die Entwicklung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert haben dazu geführt, dass Menschen kommunizieren, sich besser ausdrücken können, sich bilden und ein anderes Selbstwertgefühl entwickeln. Das alles droht sich nun durch technische Erneuerungen aufzulösen. Der PC hat unserem Sprachgefühl und -verständnis nicht nur gutgetan.

Dennoch sind dank Rechtschreibprogrammen und der Backspace- Taste digital verfasste Texte häufig sprachlich hochwertiger und weit weniger fehlerhaft als vergleichbare handschriftlich verfasste Texte.
Grundsätzlich ist das richtig und ein echter Vorteil des Computers. Aber letztlich ist gutes Schreiben eine Frage der Sorgfalt. Mit dem PC muss man nicht mehr so gründlich sein, nicht mehr nachdenken, bevor man tippt. Das kann auch ein Nachteil sein.

Ist für Sie eine Gesellschaft denkbar, in der wir durch Erfindungen wie die Spracherkennungselektronik völlig ohne Schreiben auskommen können?
Spracherkennung von Geräten erlebe ich selbst am iPad, da kann man seine Mails und Texte reindiktieren, dann schreibt das Ding diese Worte nieder, in sehr hoher Qualität. Im Französischen setzt es die Akzente sogar richtig, besser, als ich es kann. Also verstehen Sie mich nicht falsch, das ist eine grandiose Erfindung. Aber trotzdem muss man als Autor dieser Nachricht in der Lage sein, jeden Satz zu lesen und zu korrigieren. Und die Kernfrage ist, und darüber streiten sich Experten, ob man nur das Lesen lernen kann, ohne des Schreibens mächtig zu sein. Ich denke, das ist auf keinen Fall möglich. Ich halte es für ein nicht vertretbares Risiko, das Schreiben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen, wie wir es momentan tun. Mir ist dabei wichtig: Ich will den digitalen Fortschritt nicht verteufeln, sondern auf das enorme Potential und die Wichtigkeit der Handschrift hinweisen.

Was geht also verloren, wenn Kinder nicht mehr lernen, per Hand zu schreiben?
Einiges, vieles. Langfristig besteht natürlich die Gefahr, dass wir zu einer Gesellschaft der Analphabeten werden, wenn wir nämlich das Schreiben - und damit auch das Lesen - verlernen.

Ein echtes Problem ist auch der Bruch zwischen den Generationen. Wenn Kinder die Notizen ihrer Eltern nicht mehr lesen können oder gar später mal ihre Tagebucheinträge und ihre Briefe, dann geht viel verloren, was die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ausmacht.
Es macht aber auch einen Unterschied für den Intellekt, ob ich einen Buchstaben zu Papier bringe oder ihn in einen Computer eintippe. Gewisse Bewegungsabläufe beim Schreiben helfen uns, das Notierte besser zu behalten. Studien zeigen, dass Studenten, die in der Vorlesung ein handschriftliches Skript verfassen, den Inhalt der Veranstaltung besser behalten als diejenigen, die mit ihrem PC arbeiten.

Wer handschriftlich schreibt, ist also schlauer?
Ja, so könnte man das sagen. Aber nicht nur deshalb ist die Handschrift wichtig. Sie hat auch mehr Gewicht als ihr digitales Pendant.

Warum?
Das sehen wir beispielsweise daran, dass die handschriftliche Unterschrift als Mittel zur Bekräftigung immer noch sehr weit verbreitet ist. Aber abgesehen davon ist die Handschrift auch persönlicher, wärmer und lebendiger. Weil es das Gegenüber mehr Aufwand gekostet hat, die Notiz zu verfassen, ist sie dem Empfänger oft wertvoller als der gedruckte Brief. Außerdem: Jeder entwickelt seine Identität in der Handschrift, sie ist also Ausdruck der eigenen Persönlichkeit - klar, dass eine handschriftliche Notiz für Sender und Empfänger dadurch mehr Bedeutung hat.

Was verrät eine Handschrift denn?
Die Handschrift gibt, wenn sie ausgeschrieben ist, einen Überblick über die Gesamtpersönlichkeit eines Menschen, also Intellekt, Leistungsvermögen, soziale Kompetenz und Stärken und Schwächen. Kindheitsprobleme beispielsweise schlagen sich in der Schrift nieder. Auch verschiedene Charaktermerkmale, zum Beispiel das Maß an Selbstkontrolle, das jemand besitzt. Als Graphologe gucke ich mir an, wie genau jemand schreibt. Wer auch bei einer schnellen Schrift keine i-Punkte oder t-Striche auslässt, ist wohl auch sonst sehr diszipliniert. Hermann Hesse hat beispielsweise als Jugendlicher an allen Buchstaben mit Oberlängen, also bei d und b und h, eine Schleife angefügt. Er war zu der Zeit wohl ein sehr kontrollierter Mensch.

Die Autorin Cornelia Funke ist eine Verfechterin der Schreibschrift. Diese bringe "die Gedanken zum Fliegen". Was ist da dran?
Cornelia Funke bringt es auf den Punkt. Ich bin nicht nur Verfechter von handschriftlichem Schreiben, sondern wie viele meiner Kollegen der Meinung, dass wir großen Wert auf die Schreibschrift, also die verbundene Handschrift, legen müssen. Diese ist vor allem schneller, außerdem ist durch die verbundene Schrift eine stärkere Individualisierung der eigenen Handschrift möglich. Zudem zeigen Studien, dass wir Zusammenhänge schneller begreifen, wenn wir beim Schreiben die Buchstaben miteinander verbinden.

Gegner behaupten, das Erlernen der Schreibschrift nehme Schulzeit in Anspruch, die für anderen Stoff benötigt werde.
Klar nimmt das Erlernen einer neuen Schrift Zeit in Anspruch. Aber man wird ja schneller und spart langfristig gesehen im Vergleich zu den Druckbuchstaben sogar Zeit. Außerdem, überlegen Sie mal: Die Chinesen verbringen so viele Unterrichtsstunden damit, ihre wirklich schwierigen Zeichen zu lernen - und haben trotzdem noch Zeit für Mathe. Ich denke mir immer, wenn die Chinesen diese Masse an Zeichen bewältigen, dann bekommen wir doch wohl eine verbundene Handschrift auf die Reihe.

Als Kompromiss zwischen Druckschrift und Handschrift soll die sogenannte Grundschrift herhalten. Was halten Sie davon?
Das ist so eine Erfindung des Deutschen Grundschulverbands. Gemeint ist eine besondere Druckschrift, Kinder können die einzelnen Buchstaben dann so verbinden, wie sie wollen. Ich bin ja froh, wenn Schüler handschriftlich schreiben lernen - besser als gar nichts ist das auf jeden Fall. Trotzdem ist die Grundschrift keine verbundene Handschrift - alle Vorteile der Schreibschrift gehen dadurch also verloren.

Es gibt bereits die Möglichkeit, per Hand auf Computerbildschirme zu schreiben. Ist das ein zukunftsträchtiges Modell?
Das ist eine sehr nette technische Erfindung, sie bringt die großen Bereiche Digitalisierung und Handschrift schön zusammen. Mal sehen, wie weit das noch entwickelt wird. Momentan sind solche Programme nicht sehr zufriedenstellend, das kennen Sie sicher selbst, wenn Sie ein Paket von der Post entgegennehmen und unterschreiben müssen. Das ist eben Glas und nicht Papier, auf dem geschrieben wird, es fühlt sich also anders an und sieht auch anders aus. Trotzdem: Ich bin sicher, dass viele Erfindungen im Bereich Kommunikation und Sprache großes Potential haben, aber die Handschrift - ich würde sogar sagen: die verbundene Handschrift - dürfen wir um keinen Preis aufgeben.


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