28. August 2017

Gesundheit: Prohibition bringt nichts

Nach den Sommerferien bekommen Kinder und Eltern wieder die «gesunde Schule» zu spüren. Diese schreibt ihnen vor, was gutes Essen ist: Äpfel ja, Chips nein. Gehört das zu den Aufgaben der Volksschule?
Gurken-Lollipop und Gänseblümchenbrot, NZZ, 27.8. von Urs Hafner

Bald schon, wenn die überhitzte Wissenschaftsblase geplatzt sein wird und die Simpelstatistiken, die sich «Forschung» nennen, keinen Eindruck mehr machen, wird man den Kopf schütteln. Man wird sich fragen: Hatten die Leute denn nichts Gescheiteres zu tun, was haben sie sich dabei gedacht?

Heute legen Sozialwissenschafterinnen zum Beispiel 10 000 zufällig ausgewählten Schulkindern einen Fragebogen vor, der selbstverständlich durch eine Ethikkommission geprüft und gutgeheissen worden ist, damit die Wissenschafter wissen, dass sie wissenschaftlich korrekt vorgehen und kein Kind unethisch behelligen. Die Forschenden möchten herausfinden, wie sich das «Gesundheitsverhalten» der Schulkinder entwickelt und wie es zu verbessern ist. Natürlich ist die Teilnahme an der Untersuchung «freiwillig». Allerdings wird kaum ein Kind es wagen, die Autorität der Wissenschaft anzuzweifeln und das Ausfüllen des Fragebogens zu verweigern.

Die 250 Seiten starke Schweizer Studie «Health Behaviour in School-aged Children», die alle vier Jahre unter der Schirmherrschaft der WHO und des Bundesamts für Gesundheit (BAG) durchgeführt wird, kommt zum Schluss, dass täglich ein Frühstück, zwei Portionen Früchte und drei Portionen Gemüse zu konsumieren wären, was rund die Hälfte der befragten Kinder nicht mache. Welche Überraschung! Und die Studie identifiziert die Problemgruppe, die sich falsch verhält: die Schülerinnen und Schüler nämlich, die sich «ungesund» ernähren, wenig bewegen, zu lange vor dem Bildschirm hocken und zu schwer sind. Sie kommen aus «nichttraditionellen» Familien, deren Lebensstandard unterdurchschnittlich sei.

Aufsicht bei Znüni und Zvieri
Diese Meinungsumfrage macht verdeckt Politik. Sie hält die Kinder unter dem Mahnfinger einer moralischen Instanz an, die Ess- und Lebensgewohnheiten ihrer Familien zu deklarieren. Dabei wird suggeriert, dass die ökologisch sensibilisierten, bildungsaffinen und wohlhabenden Mittelschichtsangehörigen bessere Menschen sind als der Rest. Und die Studie liefert – wie viele andere Untersuchungen – der Volksschule die Legitimation für ihre übergriffige «Gesundheitspolitik». Diese wird von unzähligen kantonalen, nationalen und internationalen Ämtern und Fachstellen forciert. Die Ernährung ist nicht das einzige, aber das bevorzugte Aktionsfeld; im Fokus stehen ferner Bewegung, Gewalt, Sucht und Psyche.
An vorderster Front agiert seit zwanzig Jahren das Schulnetz 21, das schweizerische Netzwerk gesundheitsfördernder und nachhaltiger Schulen. Das vom BAG und von der Gesundheitsförderung Schweiz finanzierte Schulnetz, das mit Radix kooperiert, dem nationalen Kompetenzzentrum für die Entwicklung und Umsetzung von Massnahmen der öffentlichen Gesundheit, zählt über 1800 Volksschulen zu seinen Mitgliedern. Sie alle verpflichten sich, eine «gesunde Schule» zu sein. Das heisst beispielsweise, dass die Lehrerinnen und Lehrer ein genaues Auge darauf haben, was die Kinder zum Znüni und zum Zvieri verzehren, also zu den zwei heiligen helvetischen Zwischenmahlzeiten, und welcher Art die Köstlichkeiten sind, die sie an ihrem Geburtstag für ihre Gspänli mitbringen.
In den «gesunden Schulen» zirkulieren Ampel-Merkblätter, die Lebensmittel mit roten, gelben und grünen Punkten markieren. Sie machen den Kindern und Eltern unmissverständlich klar, dass Zucker und Fett unerwünscht sind. Manche Schulen setzten sogar Bananen auf den Index, weil sie viel Fruchtzucker enthielten. Bringt ein Kind wiederholt Chips und Süssgetränke für die Pause mit, sucht die Lehrerin das Gespräch mit den Eltern. Sie hat sich bei den Schulgesundheitsdiensten und der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung informiert, die Ideen liefern für «gesunde Geburtstagsznünis» und «Rezepte fürs ganze Jahr»: Früchte und Rosinenbrötchen, Gurken-Lollipop und Zucchetti-Rüebli-Toast, Gänseblümchenbrot und Polenta-Tiere.

Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung ist die Schöpferin der «Schweizer Lebensmittelpyramide», die in jedem «Tiptopf»-Kochbuch abgedruckt ist, das zur Grundausstattung jedes Schweizer Haushalts gehört. Die nicht unumstrittene Kategorisierung, die auf die vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium Anfang der 1990er Jahre entworfene Urpyramide zurückgeht, ist in den letzten Jahren leicht modifiziert worden. Seine Position verbessert hat, wohl zur Freude der einheimischen Landwirtschaft, das Rapsöl, aber auch der Tofu. Die Lebensmittelpyramide gilt als massgebend für «gesunde» Ernährung. Vegetarierinnen, Kohlehydratfeinde, Veganer, Allergikerinnen, Wurstfreunde, Schokolade-Aficionadas und Angehörige anderer Esskulturen jedoch dürften daran wenig Freude haben.

Sicher ist es nicht «gut», wenn Kinder sich nur von Fast Food ernähren, Zigaretten rauchen und sich verprügeln; niemand wird das bestreiten. Und alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder «gesund» sind. Was aber ist «Gesundheit» überhaupt? «Die meisten Lehrerinnen und Lehrer, die sich für eine gesunde Schule engagieren, haben einen diffusen Gesundheitsbegriff, wie wir alle», sagt Simone Suter, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern. Sie hat eine soziologische Dissertation mit dem Titel «Im Namen der Gesundheit. Gesundheitsförderung an Schulen zwischen Disziplinierung und Ermächtigung» geschrieben und dafür mit knapp dreissig systematisch ausgesuchten Berner Lehrkräften qualitative Interviews geführt.

Die Mehrheit der von ihr Befragten, sagt Simone Suter, sehe Gesundheit als Resultat einer persönlichen Leistung: «Für viele Lehrkräfte bedeutet Gesundheitsförderung, dass die Kinder durch permanente Arbeit an sich ihre Leistungen steigern.» Eine gute Gesundheit sei gemäss dieser Auffassung vergleichbar mit guten Prüfungsnoten oder herausragenden Sportleistungen: «Es geht um optimierte Lebensführung.»

Dagegen komme die Beschäftigung mit den politischen und sozialen Seiten des «Gesundheitsdiskurses» zu kurz. Die Auswirkungen etwa der Lebensmittelindustrie, der Umweltbedingungen oder auch der Schule selbst auf die Gesundheit der Kinder würden zu wenig thematisiert: «Die Schule setzt sich zu wenig damit auseinander, dass Gesundheit für unterschiedliche Schichten und Kulturen nicht das Gleiche bedeutet.»

Bedenklich findet Suter, dass die schulische Gesundheitspolitik ungewollt zur Diskriminierung jener Schulkinder führe, die ohnehin benachteiligt seien: «In der Regel sind es die Unterschichten und Familien mit Migrationshintergrund, die sich in den Augen des Lehrers ‹falsch› ernähren. Eltern zu sagen, sie müssten ihre Kinder besser ernähren, ist ein massiver Eingriff in die Privatsphäre und gefährdet das gegenseitige Vertrauen.» Das Essen sei ein hochsensibler Bereich: Da gehe es immer um familiäre Identität und elterliche Zuneigung, aber auch um zeitliche und finanzielle Ressourcen.

Die Volksschule überlegt sich nicht viel, wenn sie eine «gesunde Schule» sein will. Dass die Kinder, wenn schon, eine eigene Haltung zu ihrer «Gesundheit» entwickeln und selber merken müssten, was ihnen guttut und was nicht, dass die jugendliche Entwicklung ihre eigenen Wege nimmt, die halt um die Erwachsenenwelt herumführen, dass der Gesundheitswahn mancher Pädagogen nicht das Mass aller Dinge ist – all das ist kein Thema.

Und was ist mit «Fitnesswahn»?
Die schulische Gesundheitshysterie wird von einem gewichtigen Motor angetrieben. Die WHO und andere Organisationen führen schon länger alarmistische Kampagnen gegen die physische Degeneration der Jugend in Europa; die Rede ist gar von einer Adipositas-Epidemie. Doch was ist mit Fitnessfixiertheit und «Magersucht»?

Man darf die These wagen: Die Organisationen des wachsenden Public-Health-Sektors werden von Sozialwissenschaftern, von Soziologinnen, Sozialmedizinern und Psychologen geführt, die sich ihr «praxisrelevantes» Betätigungsfeld geschaffen haben, in dem sie ihren «Wissenstransfer» betreiben. Sie sind angetreten, ein Problem zu bekämpfen, das es ohne sie so nicht gäbe. Man gewinnt den Eindruck, dass sie ihre Mitmenschen mit ihren eigenen Obsessionen behelligen.

Dass der Westen von bedrohlichen «Zivilisationskrankheiten» wie Herzinfarkten, Diabetes, Krebs und Essstörungen heimgesucht wird, ist nicht zu bestreiten. Eine moralisierende Verbotspolitik im Namen der Gesundheit wird diese Krankheiten aber nicht eindämmen. Prohibition bringt nichts, ausser dass sie den Reiz des Untersagten erhöht.


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