31. Oktober 2015

Pulver attackiert Liessmann, Herzog und Pichard

Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver verteidigt das Frühfranzösisch und greift die Pädagogen Liessmann und Herzog an. Ausserdem erklärt er, wieso das Volk nicht über den Lehrplan 21 abstimmen sollte.













Pulver ist nicht überrascht von der Kritik, Bild: Adrian Moser
"Es gibt Lehrer, die vom Neuen aus Prinzip nichts wissen wollen", Bund, 31.10. von Adrian Moser


Herr Pulver, die ersten Frühfranzösisch-Schüler sind jetzt in der Oberstufe. Ein Teil der Oberstufenlehrer übt bereits massive Kritik. Was denken Sie darüber?
Die Kritik überrascht mich nicht, weil das neue Lehrmittel einen neuen Ansatz verfolgt. Ich bekomme aber ebenso viele positive Rückmeldungen.

Sind die negativen Reaktionen einfach grundsätzliche Ablehnung dem Neuen gegenüber?
Nicht nur. Es ist normal, dass etwas Neues Fragen aufwirft. Da braucht es Zeit, um sich darauf einzulassen.

Ich habe recht viel Zeit aufgewendet, um einen Oberstufenlehrer zu finden, der die Situation positiv beurteilt. Es ist mir nicht gelungen.
Ich kenne auch begeisterte Lehrkräfte. Die Schulinspektoren meldeten mir letzte Woche, es gebe einige Probleme, aber kaum grundsätzliche Ablehnung. Die Schüler sind erst seit ein paar Wochen in der Oberstufe. Es erstaunt mich, wie viele Leute sich bereits in der Lage sehen, ein abschliessendes Urteil zu fällen.

Die Oberstufenlehrer sind die ersten, die einen Vergleich ziehen können. Die Lehrer der 3. und 4. Klasse unterrichteten zuvor kein Französisch, jene der 5. und 6. unterrichteten Kinder, die vorher kein Französisch hatten.
Das ist sicher so. Die Oberstufenlehrer sehen jetzt vor allem, dass die Schüler nicht mehr das Gleiche können. Zu erkennen, wo das neue Können der Schüler ist und wie man darauf aufbaut, braucht Zeit. Gerade viele Lehrerinnen und Lehrer der Mittelstufe sehen es sehr positiv.

Reden wir über die neue Didaktik. Hat man vorher falsch unterrichtet?
Nein, man hat auch zuvor gut unterrichtet. Aber die Didaktik hat sich weiterentwickelt. Es geht nun weniger darum, korrekte Texte zu schreiben und jede grammatikalische Form zu beherrschen. Denn Hand aufs Herz: Wer von uns muss in seinem Alltag französische Texte schreiben? Viel wichtiger ist es, dass die Jugendlichen, wenn sie aus der Schule kommen, den Mut haben, zu sprechen, und in der Lage sind, Texte zu verstehen.

Den Kindern fehle die Struktur in der Sprache, sagen die Kritiker.
Ich staune, dass jetzt plötzlich früher alles so viel besser gewesen sein soll. Ich habe nicht den Eindruck, dass früher alle Schulabgänger so perfekt Französisch gesprochen haben, wie nun der Eindruck vermittelt wird. Es ist aber zum Teil sicher so, wie die Kritiker sagen. Die Grammatik kommt nun erst in der Oberstufe.

Die Oberstufenlehrer bekommen also eine neue Aufgabe. Sie sollen nun das vermitteln, was vorher in der 5. und 6. Klasse vermittelt wurde: Grammatik und Verbformen.
Ja. Die Kinder haben in den ersten vier Jahren viel gelernt. In der Oberstufe gilt es nun, dem eine Struktur zu geben.

Ist es sinnvoll, einem Kind erst nach mehr als vier Jahren zu sagen, wie man ein Wort korrekt ausspricht?
Das ist sicher nicht die Idee. Aber ich plädiere für etwas mehr Gelassenheit. Die Lehrer sind Profis. Auch mit dem neuen Lehrmittel wird Grammatik vermittelt, und es ist selbstverständlich nicht verboten, Wörtlitests zu machen.

Alain Pichard, der Frühfranzösisch- und Lehrplan-21-Kritiker, erzählt gerne die Geschichte vom Brief, den er seine Siebtklässler an ihre Partnerklasse im Welschland schreiben lässt. Das gehe mit den Frühfranzösisch-Schülern nicht mehr.
Sehen Sie, Alain Pichard ist ein guter Lehrer und mag ein guter Politiker sein. Aber er war von Anfang an gegen das Frühfranzösisch. Dass er nun findet, die Schüler könnten weniger, überrascht nicht.

Was sagen Sie zur Brief-Geschichte?
Ich finde es problematisch, wie nun wegen einzelner Ereignisse bereits ein Gesamturteil über die neue Didaktik gefällt wird. Aber es ist durchaus möglich, dass die Siebtklässler weniger gut schreiben als früher. Dafür wagen sie sich nun, hinzustehen und etwas zu präsentieren.

Herr Pichard liess sie den Brief dann auf Deutsch schreiben. Ein Fehler?
Das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht muss er in Zukunft eine andere Form wählen. In einem Schüleraustausch, den ich gesehen habe, kommunizieren die Jugendlichen mittels Skype und Videos.

Ist es möglich, dass man den Oberstufenlehrern die neuen Ziele nicht gut genug und vielleicht auch zu extrem vermittelt hat?
Das kann sein. Nach den Weiterbildungen habe ich von einigen Lehrern die Rückmeldung erhalten, man habe zu viel Zeit darauf verwendet, über fachdidaktische Konzepte zu sprechen. Ich denke aber, dass es richtig war, dem viel Gewicht zu geben. Man muss die Didaktik verstehen, bevor man sie anwenden kann. Ob das gut vermittelt wurde, ist eine andere Frage. Ich habe Reaktionen von Lehrern bekommen, die begeistert waren...

...und andere sind davongelaufen.
Die haben es eine Zumutung gefunden. Ja, vielleicht wurde das teilweise zu wenig sexy rübergebracht. Aber es gibt auch Lehrer, die vom Neuen aus Prinzip nichts wissen wollen.

Einige der Kritiker fordern bereits Anpassungen am Lehrmittel.
Ich weiss nicht, was sie von mir erwarten. Was soll man denn jetzt schon ändern? Wir werden den zweiten Jahrgang, der mit dem Lehrmittel unterrichtet wird, evaluieren. Dann sehen wir, ob die Ziele erreicht werden. Falls nötig, werden wir dann das Lehrmittel anpassen.

Das alte Lehrmittel hat mit vereinfachten Texten gearbeitet. Das neue arbeitet mit originalen. Ein Lehrer hat mir gesagt, selbst er verstehe 30 Prozent der Wörter nicht. Kann es sein, dass das neue Lehrmittel einige Lehrer an ihre Grenze bringt?
Ja. Die Idee ist, dass die Kinder ein Sprachbad nehmen. Das stellt hohe Anforderungen an die Sprachkompetenz der Lehrer. Wenn sie nicht so gut Französisch können, wird das Unterrichten mit dem neuen Lehrmittel schwieriger. Es geht aber gerade darum, Texte, in denen man viele Wörter nicht kennt, trotzdem zu verstehen. Das ist die Situation, die wir im Alltag antreffen.

Beim neuen Fremdsprachenunterricht sehe man, was mit dem Lehrplan 21 dann noch alles auf die Schule zukomme, sagen Kritiker. Ein zulässiger Schluss?
Nein. Beim Frühfranzösisch und Früh­englisch haben wir neue Lehrmittel mit einer neuen Didaktik. In Deutsch und Mathematik zum Beispiel wird es das nicht geben. Der Lehrplan 21 bringt nicht per se eine neue Didaktik mit sich. Vor allem geht es darum, die Inhalte unter den Kantonen zu vereinheitlichen.

Zusätzlich wird die sogenannte Kompetenzorientierung eingeführt.
Ja. Man hat die bestehenden Lehrpläne als Ausgangspunkt genommen und deren Inhalte in Kompetenzen umformuliert. Das ist die Art und Weise, wie man heute einen Lehrplan aufbaut.

Das Konzept der Kompetenzorientierung ist umstritten. Verschiebe man den Fokus auf das Können, gehe das Wissen verloren, heisst es.

Das ist Unsinn. Man kann nicht kompetent sein, ohne etwas zu wissen. Das Wissen hat den gleichen Stellenwert wie früher. Neu ist, dass die Lehrer nicht mehr einfach nur den Stoff durchnehmen und dann abfragen sollen. Die Schüler sollen den Stoff begreifen und anwenden können. In den meisten Schulen wird bereits heute so unterrichtet.

Über die Kompetenzorientierung ist eine grosse Debatte entstanden. Haben Sie das erwartet?
Ja, weil alles, was mit Schule zu tun hat, verpolitisiert wird. Was mich aber erstaunt: Es wird uns vorgeworfen, wir führten den neuen Lehrplan ohne öffentliche Diskussion ein. Dabei hat es mehrere Vernehmlassungen gegeben. Die Kompetenzorientierung war dabei nur sehr vereinzelt umstritten. Ausserdem habe ich an 20 bis 25 Veranstaltungen mehrere Tausend Lehrerinnen und Lehrer getroffen. Niemand hat gesagt, ich solle den Lehrplan nicht einführen.

Reicht es, wenn die Lehrer den neuen Lehrplan befürworten? Der Lehrplan ist der Auftrag der Gesellschaft an die Schule.
Wie gesagt, es hat diverse Vernehmlassungen gegeben, und auch der Grosse Rat hat darüber diskutiert.

Auch unter Wissenschaftlern ist das Werk umstritten. Der emeritierte Berner Pädagogikprofessor Walter Herzog und der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann üben massive Kritik.
Herr Liessmann hat sich mit der Kompetenzorientierung allgemein auseinandergesetzt. Vieles, was er über den Lehrplan 21 und die Situation in der Schweiz gesagt hat, stimmt nicht. Auch Herr Herzog arbeitet mit Unterstellungen. Mit dem Lehrplan 21 werden keine flächendeckenden Vergleichstests und keine verstärkte Integration von schwachen Schülern eingeführt. Zu beidem steht im Lehrplan nichts.

Trotz der Kritik hat es lange ausgesehen, als werde es im Kanton Bern keine Initiative gegen den Lehrplan 21 geben. Nun hat sich doch ein Komitee formiert. Enttäuscht?
Nein. Enttäuscht bin ich nur über die ­Argumente. Auch ich bin gegen «Output-Orientierung und Standardisierung», auch ich bin gegen eine «psychometrische Vermessung der Kinder», auch ich bin gegen die «Degradierung der Lehrkräfte zu Lerncoaches». Das steht aber alles nicht im Lehrplan 21. Dieser ist zu einer Projektionsfläche für jedwede Kritik an der Schule geworden.

Die Initianten wollen, dass der Grosse Rat und das Volk über den Lehrplan befinden können. Eine legitime Forderung in einer Demokratie.
Wenn eine Mehrheit das will, soll es so sein. Aber ich finde, dass ein Lehrplan zu detailliert ist und zu viel mit fachlichen Fragen zu tun hat, als dass das Parlament und das Volk darüber entscheiden sollten. Stellen Sie sich diese Debatte einmal vor. Von Sexualkunde bis Unterrichtssprache würde alles durchdiskutiert, mit vielen Schlagworten, aber mit wenig Fachwissen.

Ein anderes Thema: Die Lehrerverbände warnen, dass die Flüchtlingswelle auch in den Schulen Probleme verursachen werde.
Es ist klar, dass auch die Schulen von der Flüchtlingskrise betroffen sind. Der bernische Lehrerverband hat früh gewarnt, und da bin ich mit ihm einig: Wenn diese Kinder kommen, müssen wir bereit sein.

Haben Sie eine Übersicht darüber, wie sich die Zahl der Flüchtlingskinder in den Schulen entwickelt?
Die Tendenz ist leicht steigend. Der grosse Anstieg ist bisher ausgeblieben.

Wie unterstützen Sie die Schulen?
Es gibt bereits diverse Angebote, die wir nun verstärken müssen. Zum Beispiel die Empfangsklassen, in denen die Kinder in einem Intensivkurs Deutsch lernen. Wir unterstützen auch die Klassen, in die sie anschliessend kommen. Weiter führen wir mehr Integrationsklassen. Das ist ein zehntes Schuljahr, neuerdings offen für Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren, mit dem Ziel, dass sie anschliessend eine Lehre beginnen können.

Welche Kosten werden entstehen?
Ich schätze, dass es pro Jahr 4 bis 6 Millionen Franken zusätzlich braucht, falls die Zahlen tatsächlich stark ansteigen.

Im Februar finden Ersatzwahlen für die Kantonsregierung statt, weil die SP-Regierungsräte Rickenbacher und Perrenoud zurücktreten. Das ist das Ende der rot-grünen Mehrheit.
Die Wahl wird das zuerst zeigen müssen. Ich staune, wie oft in letzter Zeit gesagt und geschrieben wurde, die Entstehung der rot-grünen Mehrheit 2006 sei ein Betriebsunfall gewesen. Da muss ich einfach sagen: Das war ein Volksentscheid, der seither zweimal bestätigt wurde.

Wie lange bleiben Sie noch?
Ich habe eigentlich nicht vor, auch noch vor dem Ende der Legislatur zurückzutreten. Ob ich 2018 noch einmal antrete, weiss ich nicht.

Was kommt danach?
Zuerst würde ich mal ein halbes Jahr Pause machen. Für danach gibt es viel, das mich interessiert. Vielleicht an der Uni, vielleicht etwas ganz anderes.

Die Grünen haben bei den nationalen Wahlen erneut verloren. Wie sehen Sie die Situation Ihrer Partei?
Einerseits stehen die grünen Themen im Moment nicht im Vordergrund. Aber ich finde auch, dass wir breiter politisieren sollten. Die Grünen sollten sich zum Beispiel kompetent zu Bildungsthemen äussern und sie sollten kompromissbereiter sein, etwa in Steuer- und Finanzfragen.


1 Kommentar:

  1. Auf der offiziellen Lehrplan 21 website steht, wie die Befürworter der Kritik begegnen sollen.

    Zum Beispiel sollte man der Kritik: "Mit dem Lehrplan 21 sollen die Kinder „selbstentdeckend“ oder „selbstgesteuert lernen“. Angehende Lehrpersonen werden häufig nur noch zu Lernbegleitern und Animatoren ausgebildet".

    folgendermassen entgegnen: "Von all dem steht im Lehrplan 21 nichts. Das Lern- und Unterrichtsverständnis, das dem Lehrplan 21 zu Grunde liegt, ist in der Broschüre „Grundlagen“ dargestellt."

    Genau so macht es Pulver, wobei er den zweiten Satz der vorgeschlagenen Entgegnung einfach unterschlägt.

    Die Grundlagen zum Lehrplan 21 wurden seit 2006 von einer kleinen Projektgruppe festgelegt und 2010 von der D-EDK abgesegnet. 2011 begannen die von der Steuergruppe ausgewählten Mitglieder der Fachbereichteams, die ihnen vorgegebenen Grundlagen in Tausende von Pseudo-Teilkompetenzen umzusetzen. Da nicht einmal die handverlesenen Fachleute zu den Grundlagen nichts zu sagen hatten, ist die Fachlichkeit beim Lehrplan 21 nicht gegeben.

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