1. November 2015

Turnen ob krank oder nicht

Schüler sollen trotz echter oder vorgespielter Krankheit und Verletzung turnen. Sportlehrer wollen Schüler nicht mehr ganz vom Turnen freistellen, sondern ihnen spezielle Übungen geben. Hausärzte und der Bund unterstützen das.












Activdispens will Schüler aus der Zuschauerrolle holen, Bild: Michael Gottschalk
Keine Ausreden mehr, NZZaS, 1.11. von René Donzé


Die Anekdote bringt auf den Punkt, was Sportlehrer oft erleben. «Die Mädchen haben dreimal im Monat die Mens und die Buben mindestens zweimal.» So habe sein damaliger Turnlehrer in der Schule einmal gescherzt, erzählt Marc Müller, Präsident des Berufsverbandes der Haus- und Kinderärzte Schweiz. Das Problem ist also nicht neu: Wer keinen Sport treiben mag, sucht Ausreden. Und wem der Lehrer nicht glaubt, der holt sich ein Arztzeugnis: «Die Nachfrage nach Zeugnissen hat enorm zugenommen», sagt Müller. Das liege auch an der wachsenden Zahl übergewichtiger Kinder: «Viele wollen sich vor dem Sport drücken.»

Damit soll Schluss sein, wenn es nach dem Schweizerischen Verband für Sport in der Schule (SVSS) geht. Er hat mit der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Rehabilitationstraining 54 Turnübungen entwickelt, die trotz Verletzung oder Krankheit ausgeführt werden können. Je nach Art der angegebenen Gebresten kann der Lehrer Übungen zusammenstellen, die der Schüler ausführen muss, während der Rest der Klasse den Turnunterricht geniesst. Die Liste der Leiden umfasst unter anderem Verletzungen, Erkältung, Mens. Auf der Homepage gibt es zu jeder Übung einen Film.

«Es gibt relativ wenige Verletzungen und Krankheiten, bei denen man sich gar nicht bewegen kann», sagt Sportphysiotherapeutin Claudia Diriwächter, die Activdispens mit Sportlehrer und SVSS-Vorstandsmitglied Christoph Wechsler entwickelt hat. Ursprünglich hatten sie weniger die Drückeberger im Visier als jene, die tatsächlich ein Leiden haben. «Gerade für sie ist es wichtig, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeit sportlich aktiv bleiben», sagt sie. Das halte fit und fördere die Regeneration. «Und bei den meisten Menstruationsbeschwerden ist Bewegung oft die beste Medizin.»

Das Programm umfasst neben den Übungen auch ein spezielles Dispensationsformular, auf dem die Ärzte angeben, welche Körperregionen nicht belastet werden dürfen und welche sportlichen Aktivitäten weiterhin erlaubt sind. «Das Ziel ist es, die Volldispensationen zu reduzieren», sagt Diriwächter.

Marc Müller vom Hausärzteverband ist begeistert von der Idee und will sie den Mitgliedern zur Umsetzung empfehlen. Unterstützt wird das Projekt auch vom Bund. An der Entwicklung hat sich das Bundesamt für Sport mit 27 000 Franken beteiligt. «Aus unserer Sicht ist Activdispens ein erfolgversprechender Weg», sagt Peter Moser, Bildungsverantwortlicher beim Baspo. «Schüler sollen sich nicht einfach aufgrund eines effektiven oder vorgeschobenen Gebrestens aus dem Sportunterricht ausklinken können», sagt Müller.
Activdispens wurde kürzlich von den Schweizer Sportmedizinern ausgezeichnet. In den Kantonen Zug und Freiburg und in einigen Schulen im Kanton Basel-Landschaft ist es in der Oberstufe dieses Jahr eingeführt worden. Vieles beruht auf Freiwilligkeit, da den Ärzten das Formular nicht aufgezwungen werden kann und die Schulen weitgehend autonom sind. Im Frühling soll ausgewertet werden, wie die Idee ankommt. Jetzt schon erzählen Lehrer, dass die Zahl der Krankmeldungen abgenommen habe. Darum hofft man beim Baspo, dass das Projekt Schule macht: «Wir würden es begrüssen, wenn es auch in anderen Kantonen eingeführt würde», sagt Moser.


Vorsichtig positiv äussert sich Beat Zemp, Präsident des Lehrerverbands. Zwar sei es zu begrüssen, wenn sich Schüler trotz Einschränkungen bewegen. Doch dafür brauche es klare Anweisung seitens des Arztes. «Lehrer sind weder Ergo- noch Physiotherapeuten», sagt er. Activdispens könne in dieser Hinsicht eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Ganz wegbringen werde man das Problem der Drückeberger aber sicher nicht, sagt Zemp. «Simulanten wird es immer geben.»

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