"Gewisse Regeln sind einfach einzuhalten", NZZ, 7.7. von Walter Bernet
Turbulente
Zeiten
Jetzt lege sie
die Schulpolitik ad acta, sagt sie. Ihr Nachfolger als ZLV-Präsident ist
gewählt. Der 38-jährige Christian Hugi wird sie Ende Monat ablösen. Ob die
temperamentvolle Tochter des früheren NZZ-Redaktors, FDP-Stadtrats und Bankers
Ernst Bieri ihr politisches Engagement für die Schule ganz lassen kann, wagen
wir zu bezweifeln. Zwar schaut sie zweimal in der Woche zu ihren Enkeln, aber
daneben ist auch in der Vergangenheit Zeit für anderes geblieben. «Ich liebe
alles, was mit Zahlen zusammenhängt», sagt Lätzsch.
Weggefallen ist
die Mitwirkung in der Rechnungsprüfungskommission ihrer früheren Wohngemeinde
Fällanden. Geblieben ist ihre Tätigkeit im Stiftungsrat der Pensionskasse BVK,
den sie die letzten zwei Jahre präsidiert hatte. Eben ist sie zur neuen
Vizepräsidentin gewählt worden. Ganz unglücklich ist sie nicht darüber, dass
sie auf die kommende Amtsdauer mit mehr Gelassenheit blicken kann. Als Mitglied
der BVK-Verwaltungskommission hat sie die ganzen Turbulenzen um die Verselbständigung der vorher
staatlichen Kasse und um den Umgang mit kostspieligen
Verfehlungen miterlebt.
Auch in der
Schul- und Standespolitik hat sie sich nicht gerade eine lockere Periode für
eine führende Rolle ausgesucht. Als hartnäckige Kämpferin für die Anliegen der
Lehrerschaft machte sie sich einen Namen. Die ganze Umsetzung des Volksschulgesetzes von 2005 mit
ihren zahlreichen Reformen und all den Grabenkämpfen darum fiel in ihre
Amtszeit. Gewerkschaftliche Anliegen der Lehrerschaft hatten in dieser Zeit
einen schweren Stand. Eine wirksame Entlastung von den wachsenden Ansprüchen
scheiterte letztlich am Zauberwort «Saldoneutralität», das als Folge der
Sparzwänge die ganze Volksschulreform prägte. Immerhin gelang 2010 eine
Lohnrevision, die den Kanton Zürich als Arbeitgeber wieder konkurrenzfähig
machte.
Der wache, suchende
Blick, die Begabung, die Dinge ohne Umschweife auf den Punkt zu bringen und
dabei auch einmal eine Brüskierung in Kauf zu nehmen, sind Lätzsch geblieben.
Ans Aufhören denkt sie nicht. «Ich werde jetzt sogar mehr unterrichten als
vorher, ich mache es einfach gerne», sagt sie. Sie habe ja jetzt mehr Zeit, und
Lehrkräften sei es möglich, ihre Anstellung bis 70 jeweils um ein Jahr zu
verlängern. Als grösste Herausforderung in ihrer Zeit als ZLV-Präsidentin hat
sie den Umgang mit der grossen Heterogenität der Schülerschaft erlebt. Für sie
ist das nicht nur ein Problem der Schule, sondern der Gesellschaft: Heute sei
sich jeder selbst der Nächste, jedes Bedürfnis müsse sofort befriedigt werden.
Eltern
verpflichten
Darunter leide
die Schule, und im Umgang damit liege noch viel Verbesserungspotenzial. Unbedingt müsse die Zusammenarbeit mit den Eltern
verbindlicher ausgestaltet werden. «Man muss die Eltern zur
Zusammenarbeit verpflichten», sagt Lätzsch. Die gesetzlichen Möglichkeiten
bestünden, aber tatsächlich würden sie vielfach nicht genutzt, etwa wenn es um
eigenmächtige Verlängerungen der Ferien gehe. Da sei mehr möglich, gerade in
der Stadt Zürich. Die Schulen und ihre Leitungen müssten vermehrt hinstehen und
deutlich sagen, es sei nicht alles möglich. Gewisse Regeln seien einfach
einzuhalten.
Es hat sich
viel verändert, alles ist komplexer geworden, und es wird sich noch viel
verändern. So lautet Lätzschs simple Quintessenz aus ihrer langen
Schulerfahrung. «Aber die Schule verändert sich ganz, ganz langsam, und das ist
vielleicht gar nicht so schlecht.» Früher habe man Stunden ins Schönschreiben
investiert, heute setze man auf die schnelle, einfache und lesbare Basisschrift
und beginne immer früher mit dem Tastatur-Schreiben. Auch das mühsame
geometrische Zeichen mit Tinte oder das Abschreiben ganzer Seiten, bis es ohne
Fehler klappte, sei entfallen. Löste man früher drei Mathematikaufgaben und
berechnete sie von Hand, rechne heute die Maschine, dafür seien viel mehr
Aufgaben zu lösen.
Einiges sei
auch genau gleich geblieben. So seien Kompetenzen wie Pünktlichkeit,
Teamfähigkeit, Anstand so zentral wie schon immer. Und auch in 40 Jahren werde noch
gelten, dass der Lehrer oder die Lehrerin für den Lernerfolg der Klasse als
ganzer der wichtigste Faktor bleibe, während die individuelle
Leistungsfähigkeit stark vom Elternhaus geprägt sei. Vielfältiger seien die
Hilfsmittel geworden und damit die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten. Aufsatz,
Nacherzählung, Bildergeschichte, Diktat: So lautete der Kanon im
Deutschunterricht lange. Ein Buch habe sie selber in der Sekundarschule nie
gelesen. Heute schreiben die Schüler Briefe, Zusammenfassungen, Präsentationen,
Buchbesprechungen und vieles mehr.
Die neue
Vielfalt habe allerdings an der Verteilung der Leistungsfähigkeit nichts
geändert. Sie bereite gerade den Schwächeren zusätzliche Mühe. Damit bleibe
auch das Problem der hohen Zahl von Jugendlichen ohne Lehrabschluss bestehen.
Da – unsere Zweifel am Ende der schulpolitischen Aktivitäten bestätigen sich –
will sich die Sekundarlehrerin vorläufig weiter engagieren. Man müsse
Jugendliche bei ihren ersten Schritten in der Berufswelt besser unterstützen,
sagt sie. Es gebe zwar eine grosse Vielfalt von Möglichkeiten und Instrumenten,
aber kaum jemand habe den Überblick.
Lätzsch möchte
deshalb das Fachwissen – etwa zu Berufswahl und Sonderpädagogik – in die
Schulen bringen, ohne neue Kosten auszulösen. Spezialisierte Kollegen als
Ansprechpartner wären eine Lösung. In den Schulen selber sei die Unterstützung
gut. Die Integrierte Sonderschulung zum Beispiel funktioniere,
aber wenn es um die Berufsperspektive gehe, gerieten die Betroffenen in ein
grosses Loch. Bestehende Wege seien zu wenig bekannt; die 35 Stellen, die der
Kanton für solche Fälle bereithalte, seien selten ausgenützt.
Mehr
Pädagogik
Dass die
Schulen ohne Schulleiter gar nicht mehr funktionieren würden, sei eine Folge
der wachsenden Komplexität. «Diese Seite haben die meisten Schulleiter aber im
Griff», urteilt Lätzsch. In zweierlei Hinsicht sei sie vom heute flächendeckend
eingeführten Modell der geleiteten Schulen enttäuscht. Erstens sei die
pädagogische Entwicklung in den Schulen an einem kleinen Ort geblieben und
spiele auch in den Mitarbeitergesprächen kaum eine Rolle. Und zweitens brächten
die Ergebnisse der regelmässigen Evaluationen der ganzen Schulen durch die
Fachstelle für Schulevaluation im Verhältnis zum Aufwand zu wenig. So werde die
Leistungsbeurteilung immer wieder als zu klassenbezogen bemängelt. Ausser Acht
werde gelassen, dass auch die Rahmenbedingungen nicht exakt übereinstimmten.
Mit dem Verzicht auf die Einführung kompetenzorientierter Beurteilungen mit dem
Lehrplan 21 gestehe die Bildungsdirektion ja ein, dass der Anspruch zu hoch
sei. Da bleibt noch viel zu tun.
Die Bemerkung fällt ganz am Schluss, so quasi am Rande: Zürich verzichtet auf eine kompetenzorientierte Beurteilung. Dies hat aber Konsequenzen: Wie kann man kompetenzorientiert unterrichten, wenn man nicht gleichzeitig auch kompetenzorientiert beurteilt?
AntwortenLöschen