«Julian
ist eine fette Sau», stand auf dem Zettel, der in der dritten Klasse
herumgereicht wurde. An solche Sticheleien kann sich jeder von uns erinnern –
das gehört zum Schulalltag. Aber bei Julian S.* geschah es fast jeden Tag. Über
drei Jahre hinweg.
"Alle plagen mich, wirklich alle", Basellandschaftliche Zeitung, 16.6. von Michael Baumann
Selbst
seine Mutter, Rebekka S.*, hat lange unterschätzt, wie stark ihr Sohn darunter
litt. Erst im Nachhinein erkennt sie die Anzeichen, die schon viel früher zu
entdecken gewesen wären: Ende der zweiten Klasse ging Julian plötzlich nicht
mehr gerne zur Schule. Manchmal lief er sogar mitten im Unterricht davon. Nach
dem Übertritt in die dritte Klasse, sprach er zu Hause immer weniger über seine
Gefühle. Er wurde immer stiller. Und er wurde aggressiver. «Er konnte wegen
Kleinigkeiten komplett ausrasten», sagt die Mutter. Eines Tages beschloss
Julian: «Ich gehe nicht mehr in diese Schule.» Diesmal liess Rebekka nicht
locker, bis sie erfuhr, was los ist. «Alle plagen mich, wirklich alle», sagte
Julian schliesslich. «Sogar die Mädchen.»
Mobbing
– das absichtliche, systematische Schikanieren eines Kindes über längere Zeit –
trifft laut Statistik ein Kind pro Schweizer Schulklasse. «Die Kinder geraten
fast immer unverschuldet in die Opferrolle», sagt Fabian Grolimund, Psychologe
und Leiter der Akademie für Lerncoaching in Zürich. Bei seiner Arbeit mit
Eltern und Lehrern begegnet ihm immer wieder dasselbe Muster. Meist geht das
Mobbing von einem einzelnen Schüler in der Klasse aus. Dieser provoziert zunächst
verschiedene seiner Schulkameraden. Reagiert einer davon interessant auf die
Sticheleien – etwa, indem er sich stark wehrt oder weint – schiesst sich der
Täter auf dieses Kind ein. Dafür erhält er die Anerkennung vieler seiner
Kameraden. Sie lachen mit, applaudieren, bewundern seine Stärke – und machen
schliesslich selbst mit. «Oft tut jedes Kind etwas, das für sich genommen
eigentlich gar nicht so schlimm scheint», sagt Grolimund. «Das Furchtbare ist
die Summe davon.»
Versteckte Schikanen
Für die
Lehrer bleibt das oft unsichtbar. Denn das Mobbing spielt sich in der Pause ab,
auf dem WC, auf dem Schulweg. Sobald die Kinder etwas älter sind und Handys
besitzen, werden sie von ihren Peinigern sogar bis ins eigene Schlafzimmer
verfolgt. Auch die Eltern erfahren es meist sehr spät. Ihr Kind schämt sich,
will nicht als Petze gelten, und es hat Angst, dass alles noch schlimmer wird,
wenn sich Mama oder Papa einschalten.
Diese
Angst ist berechtigt, wie eine Studie der Uni München aus dem Jahr 2002 zeigt.
In einer Telefon-Befragung gaben sämtliche Eltern an, dass das Mobbing gegen
ihr Kind schlimmer wurde, nachdem sie mit den Eltern der Peiniger sprachen.
So war
es auch bei Julian. Zwar war der Rädelsführer schnell identifiziert. Doch als
Rebekka dessen Eltern anrief, redete sie an eine Wand. Unser Sohn, ein Täter?
Auf keinen Fall, das kann nicht sein. «Es war ein riesiger Fehler zu denken,
dass wir das Problem aus eigener Kraft lösen können», sagt Rebekka S. heute.
Die Situation verbesserte sich überhaupt nicht. Also beschlossen Rebekka und
ihr Mann, mit der Lehrerin zu sprechen. Auf dem Weg zum Gespräch erhielt sie
eine Vorstellung davon, was Julian jeden Tag durchmacht. Wie andere Eltern auch
wollte sie an diesem Tag helfen, die Schüler mit ihrem Auto zur Turnhalle zu
fahren. Doch kein einziges der Kinder wollte zu ihr und Julian ins Auto
einsteigen. «Julian ist giftig», sagte ein Mädchen. «Und er vergiftet alles,
was er anfasst.»
Nach
dem Gespräch reagierte Julians Lehrerin. Sie bildete eine Gruppe von Schülern –
mit dem Haupttäter, ein paar Mitläufern und ein paar wohlgesinnten Kindern –
aber ohne Julian. Ihm gehe es nicht gut, sagte sie zu den Schülern, und sie
brauche ihre Mithilfe, damit er sich wieder wohl in der Klasse fühlt. Wer hat
Vorschläge, was könnten wir tun?
Diese
Methode nennt sich «No Blame Approach». Der Name kommt daher, dass die
Beteiligten gänzlich auf Schuldzuweisungen verzichten. Vielmehr versucht die
Lehrperson, die Empathie der Kinder zu wecken. Denn die dem Opfer wohlgesinnten
Kinder werden bald konstruktive Vorschläge machen, zum Beispiel das Opfer auf
dem Nachhauseweg zu begleiten.
«So
bricht den Tätern schrittweise die Unterstützung der Klasse weg», sagt der
Psychologe Grolimund. Dadurch würden sie sich bald selbst für eine Lösung
einsetzen – oder das betroffene Kind zumindest in Ruhe lassen. Die Methode ist
äusserst effektiv. Das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2008, bei der 220 Fälle
von Mobbing in deutschen Schulen wissenschaftlich untersucht wurden. In beinahe
90 Prozent der Fälle konnten Lehrer das Problem mithilfe des «No Blame
Approach» lösen. Dazu reichte ihnen ein eintägiges Training von Psychologen
geschult.
Professionelle Hilfe
Doch
bei Julian war es nicht so einfach. Zwar wirkte der «No Blame Approach» zu
Beginn, aber bereits nach wenigen Wochen war wieder alles wie zuvor. Denn nun
hatte sich auch die Schulleitung eingeschaltet. «Doch leider fuhr die
Schulleitung einen völlig anderen Kurs als die Lehrer», sagt Rebekka.
Beispielsweise verschickte sie Briefe in drohendem Ton an alle Eltern – etwas,
das dem «No Blame Approach» völlig widerspricht. Oder sie schlug vor, dass sich
Julian auf dem Pausenplatz in einer separaten Zone aufhalten sollte, abgetrennt
von seinen Peinigern.
«Wir
sind fast verzweifelt», sagt Rebekka. «Es war ein Chaos, alle haben irgendetwas
gemacht, es gab überhaupt kein Konzept.» Das änderte sich erst, als sie sich an
eine professionelle Familientherapeutin wandte. Die Therapeutin kam ab sofort
an jedes Gespräch in der Schule mit und half Rebekka, die Schule zu koordinierten
Massnahmen zu bewegen. Endlich zogen alle am selben Strang. Seither läuft es
besser. Vor zwei Wochen fuhr Julian mit der Klasse in eine Landschulwoche. «Er
hat sich auf die Woche mit seinen Kameraden gefreut», sagt Rebekka. Das habe
sie schon lange nicht mehr erlebt. «Seit drei Jahren bin ich zum ersten Mal
zuversichtlich, dass wir die schlimme Zeit endlich überwunden haben.»
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