Seit
gut zwei Monaten leitet Beat Lüthy das Baselbieter Amt für Volksschulen (AVS),
zuvor war er Schulleiter in Sissach. Mit der «Schweiz am Wochenende» spricht er
über die Baustellen Harmos, Lehrplan und Frühfremdsprachen. Und er erklärt,
warum ihm die Politik zuweilen ein Dorn im Auge ist.
Nach 14 Jahren als Schulleiter leitet Lüthy neu das AVS, Bild: Nicole Nars-Zimmer
"Vertrauen in die Schule ist weg", Schweiz am Wochenende, 17.6. von Hans-martin Jermann und Leif Simonsen
|
Herr Lüthy, in welchem Zustand haben Sie die
Baselbieter Volksschule angetroffen?
Beat
Lüthy: Ich habe sie so angetroffen, wie ich sie mir vorgestellt habe. Ich
weiss, woran das System krankt. Was mich überrascht hat, ist der starke
Einfluss der Politik auf den Tagesablauf der Verwaltung. Da kommen zum Teil
parlamentarische Anfragen zu Themen, die man einfach beantwortet bekäme, wenn
man nur schnell den Hörer in die Hand nehmen würde.
Woran krankt die Schule genau?
Das
Vertrauen ist weg. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Ideen von der
Volksschule. Wir diskutieren Lehrpläne und Passepartout-Modelle, aber die
wahren Herausforderungen werden ausser Acht gelassen. Damit meine ich die
Digitalisierung der Gesellschaft, die das Lernen gewaltig verändern wird.
Darüber macht man sich kaum Gedanken. Stattdessen verbohren sich die Politiker
in Details.
Machen Sie dies den Politikern klar?
Ich
habe zweimal direkt mit Landräten Kontakt aufgenommen. Einer war auch bei mir
im Büro. Wir haben in der jetzigen Situation anderes zu tun, als uns in
irgendwelche ideologischen Grundsatzdiskussionen zu begeben. Wir müssen uns mit
der Frage auseinandersetzen, wie wir den neuen Lernformen begegnen. Zukünftig
wird ausserhalb des Schulzimmers viel mehr Wissen angeeignet.
Müssen sich die Lehrer auf grössere Veränderungen
in ihrem Beruf gefasst machen?
Darauf will
ich hinaus. Ich verstehe das ganze Getue um den Lehrplan 21 nicht. Viel
einschneidender ist die Digitalisierung. Wie sieht die Zukunft des Lehrerberufs
aus? Man spricht immer vom Lerncoach. Das ist nur ein Teil der Aufgabe. Das
Lernen wird nach wie vor stark geprägt von der sozialen Bindung. Die Pädagogik
wird durch die technischen Möglichkeiten in Zukunft verstärkt auf das
Individuum ausgerichtet. Lehrpersonen müssen in Zukunft verschiedene
Lernprozesse im Blick haben und begleiten können.
Die Politik und Lehrerschaft schlägt sich mit
konkreteren Themen herum. Am vordringlichsten ist Frühfranzösisch. Viele
finden, dass Französisch ab der 3. Klasse nichts bringe und man aus dem
sogenannten Passepartout-Modell aussteigen solle. Welche Haltung haben Sie?
Bisher
fehlen die Ergebnisse. Ich bin als Vater zweier Primarschüler und einem
4-P-Schüler, der jetzt ans Gymnasium wechselt, gewissermassen direkt betroffen.
Ich habe das Französisch vorher erlebt und jetzt und habe den Eindruck: Früher
konnten die Jugendlichen nicht besser Französisch.
Kritik gibt es an den Lehrmitteln Mille
feuilles und Clin d’oeil. Die Bücher seien unstrukturiert aufgebaut.
Diese
Kritik muss ernstgenommen werden. Einige der Probleme sind erkannt. Es fehlen
zum Beispiel die Differenzierungshilfen, also die Möglichkeiten, die Kinder auf
unterschiedlichen Niveaus zu unterrichten. Der Verlag uns schon längst
Verbesserungen versprochen. Es eilt. Man lässt die Lehrer sonst ins Offside
laufen.
Der Verein «Starke Schule» behauptet, sich
für die Qualitätssicherung einzusetzen. Derzeit sind mehrere Volksinitiativen
hängig. Eine Initiative fordert etwa die Pflicht zum niveaugetrennten
Unterricht. Was sagen Sie dazu?
Hier
geht es um die Wahlpflichtfächer und darum, dass beispielsweise der Musikunterricht,
Werken oder Turnen nicht niveauübergreifend stattfinden sollen. Dies ist heute
in seltenen Fällen der Fall – wenn etwa die Kurse nicht stattfinden könnten,
weil sich zu wenige Schüler angemeldet haben. Aber jetzt sind wir wieder beim
Thema irgendwelcher ideologischer Grundsatzdiskussionen. Dass solche Themen auf
dem politischen Parkett besprochen werden, ist ein doch ein Zeichen des
Misstrauens gegenüber der Verwaltung.
Wie ging das Vertrauen verloren?
Mit der
Bildungsharmonisierung sind Fehler passiert. Man ist beispielsweise zu den
Sekundarlehrern mit den Fachausbildungen gegangen und hat gesagt: Vergesst
alles, was ihr bisher gemacht habt. Das war nicht gut. Diese waren in ihrer
Ehre gekränkt. Und es ist fast unmöglich, Weiterbildungen mit gekränkten
Menschen zu machen. Dann hat man nicht zugehört, als sich die Widerstände
formierten. In anderen Kantonen hat man das besser gemacht.
Die Lehrer haben nicht nur mit den Reformen
zu kämpfen, sondern sind auch an anderen Fronten verstärkt gebunden, etwa bei
der Elternarbeit. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?
Die
Extreme nehmen zu. Es gibt auf der einen Seite Eltern, die sich wenig um die
Kinder kümmern können oder wollen. Auf der anderen Seite auch solche, die sich
übermässig einmischen. Dies kann soweit führen, dass Elterngespräche in
Begleitung von Anwälten stattfinden. Die grössere Mehrheit kooperiert nach wie
vor gut. Trotzdem muss man die Lehrpersonen bei der Elternarbeit heute besser
unterstützen als früher.
Der Job ist anspruchsvoller geblieben, der
Lohn mehr oder weniger gleich geblieben. Wenn ich etwas auf dem Kasten habe,
gehe ich doch lieber in die Privatwirtschaft.
Was man
feststellen kann, ist, dass wir eine Verweiblichung des Berufsstands haben.
Neben der Möglichkeit, diesen Beruf in Teilzeit auszuüben, hat dies auch mit
der fehlenden Attraktivität des Berufs zu tun. Um das zu verändern, müssen die
Weiterentwicklungsmöglichkeiten verbessert werden. Der Lehrerjob in der
Volksschule darf nicht eine Sackgasse sein. Früher konnten gute Lehrpersonen
ans «Lehrer-Seminar» wechseln. Das ist mit der Bologna-Reform nicht mehr
möglich. Weiterentwicklungsmöglichkeiten an der Pädagogischen Hochschule und
attraktive Aufbaustudiengänge könnten Möglichkeiten aufzeigen.
Will Lüthy uns etwa sagen, dass angesichts der Digitalisierung nicht mehr über den LP21 diskutiert werden darf? Oder gar: Dass der LP21 die richtige Antwort auf die Digitalisierung sei?
AntwortenLöschenAusserdem interessieren seine persönlichen familiären Einschätzungen zum Fremdsprachenunterricht nur mässig. Immerhin stellt er fest, dass die Kinder früher nicht besser (aber auch nicht schlechter) gesprochen hätten. Das alleine wäre eigentlich Grund genug, hier einmal in die Tiefe zu gehen.