Eine
Schramme aus der Pause oder Prüfungsangst: Es gibt viele Gründe, weswegen sich
Kinder in der Schule unwohl fühlen. Schulkrankenschwestern sollen eine erste
Anlaufstelle sein. Medizinisch aktiv werden dürfen sie aber nur begrenzt.
Erste Hilfe bei Grippe und Liebeskummer, NZZ, 6.6. von Steve Pryzbilla
Tim hat genug vom Spielen. Der Grundschüler ist auf dem Pausenhof
hingefallen. Jetzt steht er bei Sabrina Bethke im Zimmer und klagt über einen
schmerzenden Po. So hatte sich der Drittklässler, der in Wirklichkeit anders
heisst, seine Pause sicher nicht vorgestellt. Für Sabrina Bethke hingegen sind
solche Blessuren nichts Besonderes. «Leg dich mal hin, dann heilt's ganz
schnell», sagt die 37-Jährige. Sie ist seit Februar Krankenschwester an der
Karl-Sellheim-Schule in Eberswalde in Brandenburg. Ein Kühlpack gegen die
Schmerzen, ein Buch über Drachen gegen die schlechte Laune – und schon kann Tim
wieder lachen. «Übermorgen ist alles vergessen», sagt Bethke zum Abschied, als
sich Tim wenige Minuten später wieder zum Unterricht aufmacht. Mission erfüllt.
Schrammen und Schwangere
Sabrina Bethke ist eine von zehn Schulkrankenschwestern, die im Rahmen
eines zweijährigen Pilotprojekts in Brandenburg eingesetzt werden. Ihre
Aufgaben gehen über tröstende Worte weit hinaus. Sie sind bei Sportunfällen zur
Stelle, kümmern sich um chronisch kranke Kinder, informieren über Zahnhygiene,
Grippeviren und Erste Hilfe. Darüber hinaus sind sie eine Anlaufstelle für alle
Schülerinnen und Schüler, die sich irgendwie unwohl fühlen. Ursachen gibt es
genug: schlechte Noten, Liebeskummer, Pubertät, Mobbing – oder wirklich ein
verstimmter Magen.
An der Karl-Sellheim-Schule hat Bethke ein eigenes Zimmer. Im Schrank
lagern Spuckbeutel und Verbandsmaterial, im Regal liegen Kinderbücher und
Kuscheltiere. Ganz in der Ecke steht die Liege. Früher diente das Krankenzimmer
als Umkleidekabine der Jungen, die sich nun einen kleineren Raum teilen müssen.
Das ist ein akzeptables Opfer, findet Schulleiterin Petra Ziegenhagen: «Wir
profitieren enorm von dem neuen Angebot. Bisher wurden unsere Schüler ins
Sekretariat geschickt, wenn sie sich nicht wohl fühlten», sagt die Pädagogin.
Doch weder die Sekretärinnen noch die Lehrer seien medizinisch ausgebildet.
Meist geht es um Kleinigkeiten, wenn Schüler ins Schwesternzimmer
kommen: Erkältungen, Kopfschmerzen, Raufereien auf dem Schulhof. Manchmal
offenbaren sich aber auch grössere Probleme. So etwa bei einem Mädchen, das
über Bauchschmerzen klagte. «Es stellte sich dann heraus, dass sie Hunger
hatte, weil es zu Hause kein Frühstück gab», erzählt Bethke. Ihre Behandlung:
heisser Tee, Zwieback und ein paar Scheiben Gurken. «Wir haben hier über 700
Schüler im Alter von 6 bis 16 Jahren», erklärt die Schulleiterin Ziegenhagen.
Die Fälle von Essstörungen, Allergien oder auch schwangeren Kindern nähmen seit
Jahren zu. «Für solche Anliegen haben wir im Alltag aber einfach keine Zeit.
Schliesslich müssen die Lehrer im Unterricht sein und sich um ihre Klasse
kümmern.» Über die Schulkrankenschwester seien deshalb alle extrem glücklich.
Der Ruf nach medizinischer Betreuung im Schulalltag fällt mit der
Tendenz zusammen, dass beide Eltern zunehmend berufstätig sind. Zwar stehen
ihnen pro Kind und Jahr per Gesetz zehn Krankentage zu. «Es gibt aber immer
wieder Fälle, in denen die Kinder trotzdem in die Schule geschickt werden»,
sagt Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft.
Die Lehrer wiederum hätten keine Erlaubnis, ihre Schüler einfach nach
Hause oder zum Arzt zu schicken. «Die Kollegen fühlen sich in solchen
Situationen unsicher und oft auch überfordert», sagt Hoffmann. Es sei eine
rechtliche Grauzone.
Schüler leisten Erste Hilfe
Der Philologenverband, in dem sich Gymnasiallehrer organisieren,
vertritt eine differenziertere Position. «Wir befürworten die Unterstützung der
Schulen durch zusätzliches Personal», schreibt der Bundesvorsitzende
Heinz-Peter Meidinger auf Anfrage. Allerdings liege die Priorität des Verbandes
mehr auf Sozialpädagogen und Schulpsychologen. An der Mehrheit der deutschen
Gymnasien gebe es inzwischen sogenannte Schulsanitätsdienste, argumentiert
Meidinger. Darunter verstehe man auf Abruf bereitstehende Schülerinnen und
Schüler, die für die Erstversorgung speziell ausgebildet worden seien. Wie er
selbst als Schulleiter erfahren habe, seien diese bisweilen täglich im Einsatz,
zum Beispiel nach Verletzungen im Schulunterricht, bei Asthma-Anfällen oder
akuten Allergien. Doch trotz Krankenzimmer und Sanitätsdienst müsse am Ende
eben doch oft ein Profi kommen – sicherheitshalber. Dann werden die Fälle an
den ärztlichen Notdienst übergeben.
In anderen europäischen Ländern sind Schulkrankenschwestern schon länger
institutionalisiert. In Deutschland gab es sie lange Zeit nicht, wohl auch aus
Kostengründen. Das nun gestartete Projekt in Brandenburg läuft zunächst für
zwei Jahre. Es hat ein Budget von einer Million Euro, wobei 900 000 Euro die
Krankenkasse AOK Nordost bezahlt und 100 000 Euro der Sozialverband AWO. Das
Land Brandenburg sowie die Unfallkasse Brandenburg sind bei dem Pilotprojekt
ebenfalls an Bord.
Dass die Gesundheit von Kindern einen erheblichen Einfluss auf ihre
schulischen Leistungen hat, untermauert eine Vergleichsstudie aus dem Jahr
2012: Der Gesundheitsexperte Kevin Dadaczynski von Leuphana-Universität
Lüneburg hatte 30 internationale Forschungsarbeiten zum Thema verglichen.
Demnach lernen Mädchen und Jungen am besten, wenn ihren gesundheitlichen
Bedürfnissen Rechnung getragen wird. Darüber hinaus wirke sich auch die
finanzielle Situation der Familien auf die Leistungen der Kinder aus – für den
Sozialverband AWO ein schlagkräftiges Argument, in Schulkrankenschwestern zu
investieren.
Begrenzte Kompetenzen
Doch so nützlich die medizinischen Helfer sind, so begrenzt sind ihre
Möglichkeiten in der Praxis. In Eberswalde etwa darf Sabrina Bethke die Schüler
zum Umgang mit Allergien beraten. Da sie kein Arzt ist, darf sie jedoch keine
Impfungen oder Medikamente verabreichen. Auch bei Zecken und Läusen gilt:
erkennen ja, entfernen nein. Doch das sei oft gar nicht unbedingt nötig,
erwidert Bethke. «Ich bin eine erste Anlaufstelle und kann bei Bedarf
weitervermitteln.» Sie arbeite eng mit Schulsozialarbeitern und mit Eltern
zusammen, die ebenfalls in ihre Sprechstunde kommen können, wenn sie denn
wollen. «Damit ich die Kinder behandeln kann, müssen die Eltern eine
Einverständniserklärung unterschreiben», sagt Bethke. «Die meisten machen das
zwar, aber nicht alle.»
Um für alle Fälle gerüstet zu sein, absolvieren die ausgebildeten
Krankenschwestern eine dreimonatige Zusatzschulung. «Mir macht die Arbeit mit
Kindern grossen Spass», sagt Sabrina Bethke, die zuvor in einem Spital
gearbeitet hat. Die Vorteile im Schulbetrieb sind gleich mehrere: Es gibt weder
Schichtdienste noch Wochenendarbeit, dafür aber Sommerferien. Langweilig wird
es Bethke aber trotzdem nicht. «Ich bin gut ausgelastet», beteuert sie. An
einem normalen Schultag komme alle paar Minuten ein Kind zur Tür herein.
Ungewisse Zukunft
Neben Brandenburg beteiligt sich auch das Land Hessen am Pilotprojekt
«Schulgesundheitsfachkräfte», wie der Beruf im Amtsdeutsch heisst. In Hessen
arbeiten die Helferinnen und Helfer ebenfalls versuchsweise an Schulen in
Frankfurt und Offenbach. Ob das Projekt nach der zweijährigen Testphase
fortgeführt wird, steht derzeit weder in Brandenburg noch in Hessen fest. Um
wissenschaftlich fundierte Aussagen über den Erfolg oder Misserfolg treffen zu
können, evaluiert die Berliner Charité den Versuch. Mit ersten Ergebnissen
dieser Begleitung rechnet man im hessischen Kultusministerium bis Mitte des
Jahres 2018.
Auch in Brandenburg ist die Zukunft unklar. «Wenn die Testphase
ausläuft, müsste das Land die Finanzierung übernehmen», sagt Nicola Klusemann,
Sprecherin des AWO-Bezirksverbands Potsdam. Sie wünscht sich, dass nach einer
erfolgreichen Probephase das Angebot deutlich ausgeweitet wird. «Es wäre schön,
wenn es bald in ganz Deutschland Schulkrankenschwestern gäbe.» Die Zeichen
dafür stehen nicht allzu schlecht. So sprach sich der Bayerische Lehrer- und
Lehrerinnenverband kürzlich für die Einführung von Schulkrankenschwestern aus.
Diese findet man – ausser in Brandenburg und Hessen – derzeit höchstens an
Privatschulen.
In Eberswalde ist sich Schulleiterin Petra Ziegenhagen schon heute
sicher, dass sie ihre neue Kollegin behalten möchte. Zugleich verteilt sie
Fragebögen an Lehrer und Schüler, um das Angebot der Schulkrankenschwester zu
bewerten. «Die gefühlte Notwendigkeit muss auch bestätigt werden», sagt
Ziegenhagen. Kritikern hält sie gerne einen Vergleich entgegen: «Jedes
Unternehmen mit 700 Mitarbeitern hat einen eigenen Betriebsarzt. Warum dann
nicht auch eine Schule?»
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