Das
Gymnasium ist schuld, dass der Berufsbildung die guten Lehrlinge fehlen. Diese
Aussage hört man immer wieder, wenn es um den Lehrlingsmangel geht. Die
Berufsbildung sieht sich als Verliererin. Aber ist das Gymnasium wirklich der
Prügelknabe? Eher nicht, denn gute Lehrlinge fehlen der Berufsbildung nicht
einfach deshalb, weil sie sich fürs Gymnasium entscheiden. Die Hauptursache
liegt in den sinkenden Schülerzahlen, welche die Berufsbildung gegenwärtig
besonders spürt. Denn nach wie vor wählen gleich viel oder etwas mehr
Jugendliche das Gymnasium oder eine Vollzeitschule, weshalb der Berufsbildung
nicht mehr so viele leistungsfähige junge Menschen zur Verfügung stehen.
Prügelknabe Gymnasium, Nordwestschweiz, 12.6. von Margrit Stamm
Soziale Herkunft bestimmt Wahl der
Schulkarriere
Aber es
geht kaum darum, dass zu wenige der leistungsfähigen Jugendlichen eine
Berufslehre absolvieren und zu viele das Gymnasium. Das Störende liegt darin,
dass nicht Begabung und Interesse über den Zugang zur Bildung entscheiden,
sondern die soziale Herkunft. Vereinfacht gesagt, besuchen die oberen Schichten
das Gymnasium und studieren dann mehrheitlich an der Universität. Die unteren
Schichten machen eine Berufslehre und vielleicht noch eine Berufsmaturität.
Doch wer aus einer Arbeiterfamilie stammt, geht deutlich seltener nachher an
eine Fachhochschule.
Das ist
kein zukunftsträchtiger Zustand. Wenn Neigungen und Fähigkeiten tatsächlich den
Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben würden, dann wären in der Berufsbildung
mehr Kinder aus gut situierten Familien vertreten und in den Gymnasien mehr
intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und Migrantenfamilien. Liegt die
Ursache des Übels somit bei den Eltern? Man liest in den Medien ja oft, dass
die Gutsituierten ihren Ehrgeiz zügeln und ihre Sprösslinge für eine
Berufslehre motivieren sollen. Die Sache ist aber komplizierter. Bildung ist
heute längst kein öffentliches, sondern ein hart umkämpftes privates Gut. Viele
Väter und Mütter der Mittelschicht praktizieren das, was die Bildungspolitik
jahrelang von ihnen erwartet hat, nämlich eine bildungsbeflissene Elternschaft.
Sie haben ihre Antennen dauernd ausgefahren und bemühen sich darum, dass der
Nachwuchs von Anfang an die gleichen oder besseren Chancen hat wie die anderen
Kinder. Deshalb grenzen sie sich nach unten ab. Aus Angst, der beste Freund des
Kindes könnte aus der Unterschicht kommen und einen schlechten Einfluss haben,
ziehen sie in bessere Quartiere, schicken die Kinder in gute Schulen und lesen
für sie die «richtigen» Freunde aus. Ansteckungsangst nennt dies der
Bildungssoziologe Heinz Bude.
Intellektuell begabte Kinder gehören ins
Gymnasium
Kinder
verschiedener Schichten sind heute wie durch eine Kontaktsperre voneinander
getrennt. Dass sie deshalb andere Welten nicht mehr kennen lernen, liegt aber
auch an der Ansteckungsangst einfach gestellter Familien. Weil ihnen die
akademische Welt meist fremd ist und sie die Bildungsversessenheit der
«Gutbetuchten» ablehnen, sind sie dem Gymnasium gegenüber oft enorm skeptisch
eingestellt. Sie sind überzeugt, dass junge Menschen, die den akademischen Weg
wählen, nicht wissen, was arbeiten heisst. Davor wollen sie ihr eigenes Kind
bewahren, auch wenn es intellektuell begabt ist. Doch genau solche Kinder
gehörten ins Gymnasium und nicht in die Berufsbildung. Eine Lösung gibt es
kaum, doch eine Vision. Wir sollten aufhören, über zu ehrgeizige oder zu
bescheidene Eltern zu diskutieren und stattdessen die Chancengerechtigkeit in
den Mittelpunkt stellen. Chancengerechtigkeit zielt darauf ab, dass jeder junge
Mensch die gleichen Chancen wie der andere bekommt, seine individuellen
Begabungen zu entwickeln. Um diese zu erkennen, braucht es Potenzialanalysen,
die sowohl handwerkliche Neigungen als auch akademische Fähigkeiten sichtbar
machen. Dann würde auch die unheilige Praxis ein Ende finden, nämlich
Mittelschichtskinder mit guten Schulnoten unhinterfragt und ohne Bezug zu ihren
Fähigkeiten und Interessen ins Gymnasium zu schicken, Unterschichtskinder
jedoch mit der Begründung in die Berufsbildung, die Eltern könnten ihnen ja
doch nicht helfen.
Dass
Gymnasium und Berufsbildung derart gegeneinander ausgespielt werden, ist nicht
nur unverständlich, sondern auch unhaltbar. So wird Bildung zum teuflischen Gut
und unsere Bildungsvielfalt zur grossen Verliererin.
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