27. September 2015

Lesen vor Gamen und Handy

Rund 70 Prozent aller Schweizer Kinder lesen mindestens einmal in der Woche in der Freizeit in einem Buch. 37 Prozent nutzen das Buch sogar jeden oder fast jeden Tag. Zu diesem Schluss kommt eine Studie über die Mediennutzung der 6- bis 13-Jährigen. «Die Kinder in der Schweiz sind kleine Bücherwürmer», sagt Co-Studienleiter Gregor Waller. Er und das medienpsychologische Forschungsteam der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben 1000 Kinder und 600 Eltern befragt. Die detaillierten Ergebnisse der MIKE-Studie (Medien, Interaktion, Kinder und Eltern) werden am Montag präsentiert.



















"Kinder sind stolz, wenn sie ein Buch bewältigen", sagt Literaturexpertin Christine Tresch
Schweizer Kinder sind Bücherwürmer, NZZaS, 27.9. von René Donzé


70 Prozent ist ein hoher Wert. «Dieser Befund hat mich erstaunt», sagt Waller. Vor allem, da man hierzulande oft höre, die Kinder spielten dauernd auf Handys oder Computern. Aber auch im Vergleich zu Deutschland ist er hoch. Dort nimmt nur jedes zweite Kind mindestens einmal wöchentlich ein Buch zur Hand. Im Gegensatz zur Schweiz wird die Mediennutzung dort schon seit Jahren erhoben. Die Konstanz ist gross: 1999 lasen 55 Prozent der deutschen Kinder mindestens einmal die Woche im Buch, 2014 waren es 50 Prozent.
In der Schweiz ist das Buch bei den Kindern nicht nur populärer, es schlägt die neuen Medien bei weitem: Das Lesen liegt an dritter Stelle hinter Musikhören und TV-Schauen, jedoch vor Gamen und Handy-Nutzen (Grafik). Trotz digitaler Konkurrenz scheint sich das Buch also bei den Jüngsten zu halten: «Kinder freuen sich auf das Lesenlernen», sagt Christine Tresch, Literaturexpertin beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien. «Und sie sind stolz, wenn sie ein Buch bewältigen.» Daran habe sich in all den Jahren wenig geändert.
Zur Popularität beigetragen habe zudem das heute sehr attraktive Angebot an illustrierten Kinderbüchern, die oft mit Filmen und Online-Angeboten verknüpft sind, wie etwa der Comic-Roman «Gregs Tagebuch». «Die Erkenntnis hat sich auch bei den Erwachsenen durchgesetzt, dass es nicht wichtig ist, was die Kinder lesen, sondern dass sie überhaupt lesen», sagt Tresch. Früher hingegen musste man den Comic oft noch unter der Bettdecke vor den Eltern verstecken. Leseförderungsprojekte der Schulen und ein attraktives Angebot in den Bibliotheken hätten nach dem Pisa-Schock ebenfalls geholfen. Heute sind rund 20 Prozent aller verkauften Bücher Kinder- und Jugendbücher.
Die wichtigste Rolle bei der Leseförderung kommt aber den Eltern zu. Die MIKE-Studie hat bestätigt, was bereits aus vielen Untersuchungen bekannt ist: Kinder aus eher bildungsfernen Haushalten lesen weniger Bücher als Gleichaltrige, deren Eltern einen tertiären Bildungsabschluss haben. «Eltern leben ihren Kindern den Medienumgang vor», sagt Waller. «Kinder, die über ihre Eltern schon in den ersten Lebensjahren mit Bilderbüchern in Kontakt kommen und später Geschichten vorgelesen erhalten, haben einen anderen Zugang zum Buch als solche, denen das verwehrt blieb.» Bestätigt wird mit MIKE auch, dass Mädchen häufiger und länger lesen als Buben.
Frappant ist indes, wie stark das Buch am Ende der Primarschulzeit an Stellenwert verliert: Die wöchentliche Lesequote sackt zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr von 78 auf 64 Prozent ab. Eine Entwicklung, die sich im Jugendalter fortschreibt, wie eine ebenfalls von der ZHAW durchgeführte Studie besagt: Bei den Jugendlichen lesen nur noch 36 Prozent mindestens einmal wöchentlich Bücher, dazu kommen 8 Prozent, die ein E-Book zur Hand nehmen.
Der Wissenschaft ist das als «zweiter Leseknick» bekannt, wie Tresch sagt. Der erste Knick erfolgt bei Kindern, die das Lesen in der Primarschule nicht packen. Der zweite kommt mit der Pubertät, in der es wichtiger wird, Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen, Beziehungen zu ihnen zu pflegen. Da dies vermehrt online und damit auch schriftlich geschieht, steigt für sie die Bedeutung der Lese- und Schreibkompetenz.

Nicht zuletzt darum glaubt Waller, dass das Buch als Einstiegsmedium wichtig bleibt. Auch Tresch ist überzeugt, dass sich das Buch in den Kinderzimmern hält. Und doch: Fragt man die Kinder nach ihrem liebsten Medium, dann kommt das Handy an erster Stelle, noch vor dem TV und dem Buch. Bloss haben viele von ihnen in diesem Alter noch kein eigenes im Sack.

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