Haben
Sie sich auch gewundert über den seltsamen Artikel von Walter Bernet, inwelchem er den Kritikern des LP21 verborgene Agenden vorwirft und sie generellin die Ecke der Ewiggestrigen stellt? Nun, Beat Kissling, Psychologe,
Erziehungswissenschaftler und Beirat der renommierten Gesellschaft für Bildung
und Wissen, kontert den tendenziösen Kommentar mit einem in seiner
Eindrücklichkeit einzigartigen Text. Darin geht es neben einer Textanalyse
notgedrungen auch um die journalistische Redlichkeit einer angesehenen
Publikation wie der Neuen Zürcher Zeitung. Als Korrektiv zum zweckgefärbten Kommentar
von Bernet verdient Kisslings Leserbrief weite Verbreitung. (uk)
Ein Ausrutscher der NZZ? Leserbrief an die NZZ zum Artikel "Die Schlacht um die Volksschule" (NZZ, 18.9.) 27.9. von Beat Kissling
Hoppla
– habe ich mich verlesen? In der NZZ eine Boulevardschlagzeile? Eine ganze
Seite! Sehr prominent! Noch dazu kein Gastbeitrag, sondern aus der Feder eines langjährigen
Redaktors mit Kompetenzen in Bildungsfragen (so das Impressum).
Die
Lektüre der darin enthaltenen Botschaft enthüllt - der Titel lässt es schon erahnen
- nicht gerade das Paradestück einer differenzierten Auseinandersetzung mit
oder gehaltvollen Reflexion über die Fragen rund um den Lehrplan 21 und die
zukünftigen Volksabstimmungen wie man es von einem NZZ-Beitrag erwarten würde.
Bei näherer Analyse entpuppt sich der Text als ein durchschaubares Konstrukt
zur Diskreditierung sämtlicher Kritiker des Lehrplan 21, was im Folgenden
gezeigt wird.
Beim
Terminus „Schlacht“ denkt man unweigerlich an zwei sich bekämpfende Parteien.
Walter Bernet schildert stattdessen ein Szenario, in dem ausschliesslich
diejenigen in die Schlacht ziehen, die auf die offenbar anmassende Idee kamen,
Volksinitiativen zu lancieren. Sie, die den Schulfrieden
stören, sind es, die der Bevölkerung ‚dur alli Böde dure’ ermöglichen wollen,
in Schulfragen sich auch eine Meinung zu erlauben und sich politisch einzumischen
– welche Unverschämtheit! Das eigentliche Anliegen solch obstruktiver Renitenz
sei rein restaurativ, gibt Bernet zu verstehen: nämlich eine Rückkehr zur
autoritären, methodisch eindimensionalen Schule von gestern. Die Argumente, der
laut Bernet clandestin gesteuerten Initiativkomitees seien diffus, floskelhaft,
unzusammenhängend, ja abstrus, sodass klar werde: Hier wird intransparent und
unredlich operiert. „Unzimperliche Abstimmungskämpfe“ seien vorprogrammiert,
zumal bereits in der Vergangenheit bei der Abstimmung zum Bildungsartikel 2006
die Kritiker nach einem „eingefahrenen
Reiz-Reaktions-Schemata“ gestritten und die realen Probleme der Volksschule
ignoriert hätten.
So
weit der erste Teil von Bernets Artikel, die Schilderung der Streitsüchtigen. Im
zweiten Teil kommen umgekehrt die Garanten des Fortschrittes zu Ehren, deren
verdankenswerte Arbeit für realistische Anpassungen an eine sich wandelnde
Gesellschaft so flagrant von den Kritikern in den Dreck gezogen werde, indem
sie z. B. den Lehrplan 21 als „Monster“ bezeichneten. In Wirklichkeit hätten, wie
Bernet weiter erklärt, all die verantwortlichen Schulexperten der Pädagogischen
Hochschulen und Verwaltung nichts
anderes getan, als in grosser Fleissarbeit den Willen des Volkes nach Harmonisierung
umgesetzt, alles natürlich - im
Unterschied zu den notorischen Querulanten - mit grösster Transparenz und Redlichkeit und
zur allgemeinen Zufriedenheit. Das eigentliche Kernelement des Lehrplan 21, die
„Kompetenzorientierung“, erklärt Bernet zur ausschliesslichen Chefsache der
Lehrerbildung, worüber Laien ihren
Kopf nicht zu zerbrechen hätten.
So
einfach und klar schwarz-weiss präsentiert Bernet das bildungspolitische
Szenario rund um den Lehrplan 21: Da die Guten, dort die Bösen, ganz wie wir es
aus Märchen kennen. Interessant, dass er das Wort „Verschwörungstheorie“, das in
vielen heutigen Debatten als Totschlagargument gerne zum Zuge kommt, nicht
verwendet. Kann es sein, weil seine laufend eingestreuten Termini der „bösen,
heimlich tätigen Mächte“ und sein ganzes Elaborat zu sehr selber danach
riechen?
Der
einzig sachliche Teil in Bernets Text bezieht sich auf den Fremdsprachenstreit
der Kantone. Zu den strittigen Themen im Lehrplan 21 erfährt man inhaltlich als
Leser nichts, was angesichts von Bernets intendierten Aussage aber nicht
überrascht. Angesichts dieses
Propagandatextes erscheint es paradox, dass einer der profiliertesten Kritiker der
europäischen Bildungsentwicklung seit der Einführung von PISA (2000) und damit des
Kompetenzbegriffs in seltener Häufigkeit die NZZ mit ganzseitigen Beiträgen
bereichert – zuletzt mit dem samstags (NZZ, 19.9.2015) publizierten Artikel „Bildung, optimieren, perfekionieren. Über
neue Menschen, Bioingenieure und Transhumanisten“. Konrad Paul Liessmann,
renommierter Wiener Philosoph und Professor für Bildungswissenschaften, hat
in Anlehnung an sein vor einem Jahr publizierten Buch „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ im NZZ-Artikel vom 15.
September 2014 mit dem Titel „Das Verschwinden
des Wissens“ die paradigmatische Rolle dieses Kompetenzbegriffs für die
Schulbildung ausführlich erörtert. Im Lead des Artikels schreibt er: „Unter dem Deckmantel der
„Kompetenzorientierung“ hat sich eine Grundkonstellation des Erkennens und damit
der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt.“ Liessmann spricht von einem
„der radikalsten Veränderungen an Schulen
und Universitäten (...), ein Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition, eine
völlige Neuorientierung dessen, was Bildungseinrichtungen zu leisten haben...“,
was durch das „Zauberwort“
Kompetenzorientierung, das die Lehr- und Studienpläne dominiere, ermöglicht
werde. Sein Kommentar zum Lehrplan 21 im Buch „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ unterscheidet sich
markant von demjenigen Bernets: “Der
‚Lehrplan 21’ sieht denn auch Zentralisierung, Standardisierung und eine
flächendeckende Kompetenzorientierung für die Grundschulen der Deutschschweiz
vor; auf 550 monströsen Seiten wird ein bürokratisches
Steuerungsinstrumentarium vorgelegt, das die Schweizer Lehrerschaft allerdings
nicht hinnehmen will.“ (S.27) Liessmann legt ausserdem dar, dass dieses
Kompetenzkonzept weder in der Pädagogik noch in der Bildungstheorie wurzle,
sondern in der Ökonomie. Vor gut einem Monat, nämlich in der Basler Zeitung vom
8. August 2015, empfahl der von der NZZ geschätzte Wiener Intellektuelle der
Schweiz folgerichtig ein „Reformmoratorium“. Warum Walter Bernet als
Redaktionsmitglied und
Bildungsverantwortlicher all dies entgangen sein soll, muss er der Öffentlichkeit
plausibel machen.
Dieselbe
Forderung nach einem Moratorium hat anfangs Mai 2013 eine Gruppe renommierter
Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Ärzte im Memorandum „Mehr Bildung – weniger
Reformen“ gestellt und exakt dieselbe Diagnose zur Reformentwicklung in der
Schweiz gestellt. In diesem Memorandum heisst es u.a. „Die Bildungsverwaltung setzt auf modische Versprechungen und vertraut
internationalen Organisationen wie etwa der OECD, statt Erfahrungen der
Bildungspraktiker und vorgängiger Erprobung von Neuem. Bewährte Eigenheiten des
schweizerischen Bildungswesens gehen so verloren.“ Wer sind die cladestin
gesteuerten, querulantischen Autoren dieses Memorandums, um Walter Bernets
insinuierte Argumentationslinie
aufzugreifen? U.a. bekannte Persönlichkeiten wie Prof. em. Dr. Walter
Herzog, Prof. Dr. Allan Guggenbühl, Prof. Dr. Roland Reichenbach, Prof. Dr. em.
Rolf Dubs, Prof. Dr. Fritz Osterwalder, Prof. Dr. Remo Largo, Prof. Dr. em. Urs
Haeberlin.
Noch
gewichtiger als die kritische, fachlich begründete Reflexion aus Kreisen der
Wissenschaft sind wohl die Erfahrungen der „Betroffenen“, konkret der Lehrpersonen, Schüler und Eltern zu gewichten. Es wäre Herrn Bernet und der
NZZ wärmstens empfohlen, mal wirklich ‚unter die Leute’ zu gehen und die Eltern
und Lehrpersonen (nicht die sogenannten Experten an PHs und in der Verwaltung) nach
ihren Erfahrungen mit den Bildungsreformen der letzten Jahre zu befragen und zu
schauen, was sie dazu veranlasst haben könnte, den enormen Aufwand zu betreiben,
ohne Infrastrukturhilfen von grossen Parteien oder Organisationen Volksinitiativen
zu lancieren; denn nicht zu vergessen: In der EDK besteht fast wie zu DDR-Zeiten absolute Einmütigkeit, von links bis rechts, von SP bis SVP: alle wollen
diskussionslos den Lehrplan 21 einführen.
Michael
Schönenberger, ebenfalls NZZ-Redaktor hat in der Vergangenheit einiges dazu
beigetragen, dass bis anhin der Eindruck bei der Leserschaft Bestand hatte, in
Sachen Bildungsdebatte sei das Bemühen der NZZ um sachliche Differenzierung
gewährleistet, z. B. im Artikel „Lehrplan 21. Ein typisches Kind seiner Zeit“
vom 13.8.2013. Er problematisiert darin sehr vorsichtig, aber in präziser Weise
die absehbaren Risiken der sogenannten Kompetenzorientierung und nimmt die
Befürworter in die Pflicht: „Es ist die
Aufgabe der beteiligten Bildungsforscher, der Lehrerschaft die Vorteile des
Kompetenzmodells gegenüber dem herkömmlichen Unterricht zu erklären. Dabei wäre
der Paradigmenwechsel zu begründen, besonders weil es wenig Evidenz gibt, dass
die Qualität der Schulabgänger mit Bildungsstandards erhöht wird. Die Bedenken
gegenüber einer Bildungspraxis und Mentalität, bei der das Messbare zum
Wichtigsten wird, wären zu zerstreuen. Mit der zweifelhaften Zusicherung, es
werde in der Schweiz nie Schulrankings geben, ist es nicht getan. Wie werden
korrumpierende Effekte auf Schulleitungen und Lehrpersonen ausgeschlossen? Was
wird getan, damit hierzulande die negativen Erfahrungen, wie sie in den USA
gemacht worden sind, nicht fatalerweise wiederholt werden?“
Es
drängt sich die Frage auf, was in der NZZ wohl geschehen ist, dass nicht die
differenzierte, kritische journalistische Reflexion eines Michael
Schönenbergers weiterhin die öffentliche Debatte begleitet, sondern stattdessen
ein von Walter Bernet verfasstes Pamphlet prominent veröffentlicht wird, das
offensichtlich die Kritiker der Lehrplan 21-Schulkonzeption und Initianten von
kantonalen Volksinitiativen diskreditieren soll. Aber natürlich gerät man mit
solchen Fragen und Aufforderungen zum Nachdenken wieder unter den Verdacht, Verschwörungstheorien
das Wort reden zu wollen. Deshalb überlasse ich es den Leserinnen und Lesern
selbst, sich einen Reim aus diesem NZZ-Kurswechsel zu machen.
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