Über die
kommende Generation, ihr angetretenes Erbe und das, was wir ihr als «Bildung»
verkauft haben.
Die Netzwerkler, Schweizer Monat, Nr. 1047, Juni 2017, von Adolf Muschg
Man merkt den Weltmaschinen des
digitalen Zeitalters immer wieder an, dass ihre Grundlage primitiv ist. Sie
beruht auf 0-1-Entscheidungen des Silikonkristalls, die ein fabelhaftes
Werkzeug mit minimaler Energie unbegrenzt hochrechnen kann. «Und?», hätte
Nietzsche gefragt. Für ihn hätte die unbeschränkte Quantifizierbarkeit
beliebiger Grössen mit einer Kulturtechnik so viel zu tun wie die statistische
Lebenserwartung mit einem persönlichen Tod. «Kein Kopf wäre so fein, dass er
mehr construiren könnte als eine Maschine – worüber jeder organische Prozess
weit hinaus ist.» Anders gesagt: das reale Gehirn ist von Haus aus klüger als
alles, was es sich ausdenken kann, denn es kann auch sich selbst nur als
Maschine denken. Und diese verhält sich zur Realität, in der und mit der wir
leben, wie das kleine Einmaleins zur höheren Mathematik. Nietzsche hätte der
EPFL in Lausanne für ihr Human Brain Project keinen Heller gegeben, geschweige
denn die Forschungsmillionen der EU. Denn die Gehirnsimulation beruht nicht nur
auf einem Denkfehler, sondern sie verfehlt das Denken. «Komplexität» lässt sich
an keinem Modell simulieren. Sie bedeutet, mit Zwei- und Mehrdeutigkeit
sinnvoll, das heisst: von Fall zu Fall, und zuerst: individuell umgehen zu
können. Dazu gehört viel Gefühl – und eine Bildung, über die keine Maschine
verfügt, die sich aber jeder einzelne, dank seiner organischen Ausstattung,
mehr oder weniger zwanglos aneignet.
Beispiel Partnersuche: wer sie den
Algorithmen überlässt, hätte ebenso gut Kaffeesatz lesen können. Er/sie
entdeckt fast zuverlässig, dass Übereinstimmung mit dem, was sich der Computer
darüber ausrechnet, nichts zu tun hat – da kann er seinem Modell so viele
Parameter zusetzen, wie er will. «Was ist das Allgemeinste? Der einzelne Fall»,
sagt Goethe, «was ist das Besondere? Millionen Fälle.» So viel zur Beweiskraft
der Statistik. Quantensprünge sind nicht programmierbar – so wenig wie die
Zukunft.
«Quantensprung» bezeichne hier,
korrekterweise, eine Qualität – jenes Unvorhersehbare raumzeitlicher und
kausaler Entwicklungen –, mit der die neue Physik der klassischen ein
Schnippchen geschlagen hat. Die Konsequenzen sind offen, wie diejenigen der
Mutation, mit der die Biologie der mechanischen Wiederholung spottet. Ohne
«Fehler» keine Evolution – die «Epigenetik» hat, über Darwin hinaus,
festgestellt, dass auch Gelerntes und Erlebtes vererbt wird. Die Evolution
gewinnt damit einen kulturellen Aspekt – dafür hat Dawkins das «Mem» ins Spiel
gebracht: einen Gedächtnisträger, der sich analog zur Genmutation über
Abweichungen von der Norm entwickelt, die Ausnahme des «Geniefalls». Es ist
also kein Dienst am Fortschritt der Menschheit, wenn sie ihr Wissen zu Google
oder auf eine Wolke auslagert. Die Suchmaschine hat nur zu bieten, «was man
schon weiss», der Nachfrage entsprechend sortiert.
Wir
täten also immer noch gut daran, Bildung zu wägen statt zu messen und ihren
ganz persönlichen, offen bleibenden Erwerb als den nötigsten Beitrag zum
Überleben unserer Art zu betrachten. Das Beste dazu wird immer noch ein Organ
tun, über das wir nicht verfügen – es verfügt über uns und bringt dabei den
Gewinn aus Jahrmillionen mit. Die von der digitalen Technik ausgeworfenen Netze
mögen bequem sein – sie sind fatal, wenn wir von ihnen den Fang einer rettenden
Zukunft erhoffen, oder gar: einer bewussten Gegenwart. Wir könnten an einer
Stelle fischen, wo nichts ist, ausser Futter für die Statistik. Und nach der
Statistik – für diese Rechnung genügt das kleine Einmaleins – ist unserem
einzigen Biotop, der Erde, die wir ungerührt weiter plündern, nicht mehr zu
helfen.
Adolf
Muschg
ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Von ihm zuletzt erschienen: «Der weisse Freitag: Erzählung vom Entgegenkommen» (C. H. Beck, 2017). Muschg lebt in Männedorf.
ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Von ihm zuletzt erschienen: «Der weisse Freitag: Erzählung vom Entgegenkommen» (C. H. Beck, 2017). Muschg lebt in Männedorf.
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