5. Juni 2017

Bildung wägen statt messen

Über die kommende Generation, ihr angetretenes Erbe und das, was wir ihr als «Bildung» verkauft haben.
Die Netzwerkler, Schweizer Monat, Nr. 1047, Juni 2017, von Adolf Muschg


Man merkt den Weltmaschinen des digitalen Zeitalters immer wieder an, dass ihre Grundlage primitiv ist. Sie beruht auf 0-1-Entscheidungen des Silikonkristalls, die ein fabelhaftes Werkzeug mit minimaler Energie unbegrenzt hochrechnen kann. «Und?», hätte Nietzsche gefragt. Für ihn hätte die unbeschränkte Quantifizierbarkeit beliebiger Grössen mit einer Kulturtechnik so viel zu tun wie die statistische Lebenserwartung mit einem persönlichen Tod. «Kein Kopf wäre so fein, dass er mehr construiren könnte als eine Maschine – worüber jeder organische Prozess weit hinaus ist.» Anders gesagt: das reale Gehirn ist von Haus aus klüger als alles, was es sich ausdenken kann, denn es kann auch sich selbst nur als Maschine denken. Und diese verhält sich zur Realität, in der und mit der wir leben, wie das kleine Einmaleins zur höheren Mathematik. Nietzsche hätte der EPFL in Lausanne für ihr Human Brain Project keinen Heller gegeben, geschweige denn die Forschungsmillionen der EU. Denn die Gehirnsimulation beruht nicht nur auf einem Denkfehler, sondern sie verfehlt das Denken. «Komplexität» lässt sich an keinem Modell simulieren. Sie bedeutet, mit Zwei- und Mehrdeutigkeit sinnvoll, das heisst: von Fall zu Fall, und zuerst: individuell umgehen zu können. Dazu gehört viel Gefühl – und eine Bildung, über die keine Maschine verfügt, die sich aber jeder einzelne, dank seiner organischen Ausstattung, mehr oder weniger zwanglos aneignet.

Beispiel Partnersuche: wer sie den Algorithmen überlässt, hätte ebenso gut Kaffeesatz lesen können. Er/sie entdeckt fast zuverlässig, dass Übereinstimmung mit dem, was sich der Computer darüber ausrechnet, nichts zu tun hat – da kann er seinem Modell so viele Parameter zusetzen, wie er will. «Was ist das Allgemeinste? Der einzelne Fall», sagt Goethe, «was ist das Besondere? Millionen Fälle.» So viel zur Beweiskraft der Statistik. Quantensprünge sind nicht programmierbar – so wenig wie die Zukunft.

«Quantensprung» bezeichne hier, korrekterweise, eine Qualität – jenes Unvorhersehbare raumzeitlicher und kausaler Entwicklungen –, mit der die neue Physik der klassischen ein Schnippchen geschlagen hat. Die Konsequenzen sind offen, wie diejenigen der Mutation, mit der die Biologie der mechanischen Wiederholung spottet. Ohne «Fehler» keine Evolution – die «Epigenetik» hat, über Darwin hinaus, festgestellt, dass auch Gelerntes und Erlebtes vererbt wird. Die Evolution gewinnt damit einen kulturellen Aspekt – dafür hat Dawkins das «Mem» ins Spiel gebracht: einen Gedächtnisträger, der sich analog zur Genmutation über Abweichungen von der Norm entwickelt, die Ausnahme des «Geniefalls». Es ist also kein Dienst am Fortschritt der Menschheit, wenn sie ihr Wissen zu Google oder auf eine Wolke auslagert. Die Suchmaschine hat nur zu bieten, «was man schon weiss», der Nachfrage entsprechend sortiert.

Wir täten also immer noch gut daran, Bildung zu wägen statt zu messen und ihren ganz persönlichen, offen bleibenden Erwerb als den nötigsten Beitrag zum Überleben unserer Art zu betrachten. Das Beste dazu wird immer noch ein Organ tun, über das wir nicht verfügen – es verfügt über uns und bringt dabei den Gewinn aus Jahrmillionen mit. Die von der digitalen Technik ausgeworfenen Netze mögen bequem sein – sie sind fatal, wenn wir von ihnen den Fang einer rettenden Zukunft erhoffen, oder gar: einer bewussten Gegenwart. Wir könnten an einer Stelle fischen, wo nichts ist, ausser Futter für die Statistik. Und nach der Statistik – für diese Rechnung genügt das kleine Einmaleins – ist unserem einzigen Biotop, der Erde, die wir ungerührt weiter plündern, nicht mehr zu helfen.


Adolf Muschg
ist vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Von ihm zuletzt erschienen: «Der weisse Freitag: Erzählung vom Entgegenkommen» (C. H. Beck, 2017). Muschg lebt in Männedorf.


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