Die Papierberge wachsen, die Lehrpläne und Schulbücher werden dicker,
die Ziel- und Fächerfülle nimmt zu – doch wie steht es um das Wissen und Können
der Schülerinnen und Schüler?
Vieles geschieht - weniges wirkt, journal21.ch, 6.6. von Carl Bossard
Die Lehrer seien „die politischen Verlierer“, schrieb die NZZ nach derZürcher Fremdsprachen-Abstimmung vom 21. Mai 2017.n[1] Gesiegt hätten die
Vorgaben der Politik und die nationale Sprachenfrage. Ohne Wenn und Aber. Das
ist schon richtig. Im Luhmann‘schen Spiel der Subsysteme setzt die Politik die
Ziele, nicht der einzelne Lehrer. Schule und Unterricht haben sie zu erreichen.
Und zwar mit allen Kindern.
Genau hier liegt der wunde Punkt: mit allen Kindern – und im heutigen
heterogenen Schulalltag.
Den pädagogischen Alltag im Fokus
Wer die konzeptionelle Dachterrasse verlässt und hinuntersteigt ins
pädagogische Erdgeschoss, ins Operative, wer genauer hinschaut und
Unterrichtslektionen mitverfolgt, der sieht sehr schnell: Die Lehrerin an der
Front, der Lehrer im ganz konkreten Alltag sind vielfältig gefordert.
Innovationen und Reformen haben ihr Arbeitsfeld in den letzten Jahren radikal
verändert. Der Aufgabenkreis wurde stetig ausgeweitet und inhaltlich entgrenzt,
der Klassenverband vielfältiger, der Freiraum enger.
Da sind einerseits die frühen und anspruchsvollen Fremdsprachenfächer
Englisch und Französisch, anderseits der Wegfall der Kleinklassen und die
Integration/Inklusion, wie es das eidgenössische
Behindertengleichstellungsgesetz BehiG in Art. 20 Abs. 2 vorschreibt. Zur
Aufnahme „behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule“ – auch von
verhaltensauffälligen – kommt parallel die Zunahme und Integration
fremdsprachiger junger Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig haben
viele Schulen den Schritt zum altersdurchmischten Lernen AdL vollzogen, auch
hier gekoppelt mit dem Postulat der Individualisierung und Differenzierung.
Ein rigoroser Wechsel auch im didaktischen Bereich: Aus dem
konstruktivistischen Lehr-Lern-Paradigma und der umfassenden
Kompetenzorientierung erwuchs die Dominanz der Selbstorganisation:
Selbstreguliert und selbstorganisiert muss das Lernen erfolgen. Schülerinnen
und Schüler sollen alles selber aktiv hervorbringen. Der Lehrer wird dabei zum
Coach, die Lehrerin mutiert zur Lernbegleiterin. Die Methodenfreiheit fällt weg
und damit auch der Wunsch nicht weniger Schüler nach Angeleitet-Werden.
Hektik auf der strukturell-operativen Ebene
Diese vielen Reformen erfolgten zur Hauptsache auf der strukturellen
Ebene. Immer in gestaffelten Einzelschritten. Als additiver Teil. Das Ganze
wurde nie ins bildungspolitische Blickfeld genommen, das Prinzipielle kaum
diskursiv erörtert. Dabei wissen wir aus der Wirkungsforschung: Handeln erfolgt
zwar in den Teilen, Sinn und Wirkung aber kommen aus dem Ganzen. Und dieses
Ganze hätte einer breit angelegten Grundsatzdebatte und einer klugen
strategischen Planung bedurft. Stattdessen wurden primär Strukturen verändert.
Doch das Ziel liegt nie in den Strukturen; sie sind immer eine Folge strategischer
Entscheide und haben subsidiären Charakter. In der Bildung erzielen Strukturen
kaum Wirkeffekte, wie der neuseeländische Bildungswissenschaftler John Hattie
in seiner weltweit beachteten Studie „Visible Learning“ eindrücklich nachweist.
Wirkung geht von der Lehrperson aus; darum muss man ihr den Freiraum lassen –
zugunsten der Kinder.
Symptomatisch für diesen bildungspolitischen Aktivismus im Operativen
ist die Aussage der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner nach der
Abstimmung vom 21. Mai. Die ungenügenden Resultate in den Fremdsprachen würden
mit einer Revision der Stundendotation angegangen: politisches Handeln auf der
strukturell-operationellen Ebene – ohne das Grundsätzliche zu thematisieren und
nach den Gründen zu fragen. Das Gleiche in der Erstsprache: Nach den dürftigen
Deutschkenntnissen vieler Schülerinnen und Schüler und dem Warum fragt niemand.
Ungehört verhallt auch die Stimme der ETHZ-Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern,
wonach mindestens 15 Prozent der Jugendlichen die Schule als funktionale
Analphabeten oder Illiteraten verlassen.
Lernen braucht Zeit – und erfolgt in kleinen Verstehens- und
Übungsschritten
Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von
den Kindern selber. Selbstorientiert und selbstverantwortet. Lernschwächere
Schüler (nicht schlechte!) und solche aus bildungsfernem Elternhaus sind
benachteiligt. Auch das wissen wir aus der Forschung. [2]
Auf etwas ganz Entscheidendes weist der Hirnforscher Gerhard Roth hin:
Wissen und Können müssen viel besser gefestigt werden. Durch intensives Üben.
Nur so kann Wissen gezielt vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis
„geführt“ und Können automatisiert werden. Und das braucht Zeit, braucht
Training, braucht Wiederholung. Darum ist weniger oft mehr.
Die ganze „technologische Aufrüstung“ mit Tablets und die Disposition
zur Selbstorganisation können den vital präsenten Lehrer, die vif und engagiert
wirkende Lehrerin nicht ersetzen. Lernprogramme können vertiefen,
automatisieren; entscheidend aber bleibt die vertrauenswürdige und kompetente
Lehrperson, die den Kindern das Neue erklärt und sie zum Verstehen (V) führt
und mit ihnen dann trainiert (Ü). Und zwar konsequent. Vielleicht nach der
simplen Formel: L(ernen) = V(erstehen) x Ü(ben, festigen,) x A(brufen und
anwenden können). Für die beiden ersten Faktoren ist die Lehrperson
verantwortlich. Leicht zu erkennen sind die Folgen, wenn ein Faktor gegen null
strebt – wenn also z. B. die Festigungsphase wegfällt.
Die Stimme aus der Berufsschule
Diese Übungszeit (Ü) fehlt zunehmend. Dabei verweisen Stimmen aus den
Schulzimmern schon länger auf ein offensichtliches Malaise. Von der
Unzufriedenheit der Lehrer in Basel-Stadt schrieb die SonntagsZeitung Ende März
und sprach gar von einem „Aufstand der Lehrer“. [3] Praktisch gleichzeitig
schlugen Hunderte von Berner Pädagogen Alarm; in einem offenen Brief wandten
sie sich an die Bildungsdirektion. Grund: die Reformflut. „Jedes Kind hat das
Recht auf Aufmerksamkeit und Zuwendung der Lehrperson.“ [4] Das sei in der
Fülle der Alltagsaufgaben nicht mehr gewährleistet.
Und die Folgen? „[…] in der Berufsschule kriegen wir mehr und mehr
Lernende, bei denen wir uns als Lehrpersonen fragen, was sie neun Jahre lang
gemacht haben. Prozentrechnung weit weg, Dreisätze oder ihnen adäquate
mathematische Formeln noch weiter weg, Deutsch total weit weg. Aber auch
Französisch mit totaler Demotivation und in Englisch kein Wort schriftlich
richtig.“
Soweit das Urteil eines passionierten Berufsschullehrers; er arbeitete
viele Jahre in der Privatwirtschaft und kennt ihre Ansprüche. Es ist ein
Einzelvotum, das sei zugegeben. Doch diese Stimme zeigt sich in unserer
Bildungslandschaft multipliziert. Klagen von Lehrmeistern, von Berufsverbänden
und Hochschulrektoren bestätigen sie. Alle verweisen auf bestimmte Defizite,
die sich auf viele Jugendliche nachteilig auswirken.
Ein Ding richtig können
Es gibt keine Heilslehre des Lehrens und Lernens, aber es gibt
wissenschaftliche Erkenntnisse. Was die Schule „durchnimmt“, sollte sie
gründlich durchnehmen, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und
diszipliniert. Das fordert jeder Kognitions- und Lernpsychologe. Ein Ding
richtig können ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss
sagte, galt schon früher und gilt noch heute: Nicht vielerlei treiben, sondern
eine Sache intensiv und genau, gerade auch für lernschwächere Kinder. „Non
multa, sed multum!“, hiess es bei Plinius in Roms guten Schulen. Darauf haben
die Zürcher Lehrer mit ihrer Spracheninitiative hinweisen wollen. Nun diffamiert
sie die NZZ mit dem Stigma der Verlierer.
Vieles geschieht – weniges wirkt: Gute Lehrerinnen, pflichtbewusste
Lehrer wissen dies. Sie benötigen Zeit zum Festigen und Automatisieren. Sie
verlangen von ihren Kindern darum das, was der Kognitionsforscher Howard
Gardner als eine der Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert:
diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken. Das geht nicht ohne Zeit und
Freiraum. Die braucht es; denn in der Schule darf es keine Verlierer geben,
nicht auf Lehrerseite, nicht auf Schülerseite.
[1] Walter Bernet, die Lehrer als politische Verlierer, in: NZZ,
23.05.17.
[2] Andreas Helmke (2016), Ohne […] klare Strukturen und Lehrersteuerung
geht’s nicht. Unpubl. Msc.; ders. (2015), Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität.
Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 6. Auflage.
Seelze-Velber: Friedrich Verlag GmbH, S. 205ff.
[3] Nadja Pastega, Das Leiden der Lehrer, in: Sonntagszeitung 26. 03.
2017, S. 2f.
[4] Naomi Jones, Lehrer wollen nicht mehr alleine unterrichten, in: Der
Bund, 16. März 2017; Marius Aschwanden, Über 800 Berner Lehrer fordern
Unterricht im Team, in: Berner Zeitung, 18. 03.2017
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