4. Juni 2017

4000 Stellen mehr im Bildungswesen

Post von der Post – jeder Haushalt findet zwei Ein-Franken-Marken im Briefkasten, geschenkt von der Post. Ganz spontan kommt dieses «Dankeschön» nicht, sondern man kann es auch als leichte Erpressung des Preisüberwachers sehen. Denn er war mit den Brieftarifen nicht ganz einverstanden, und als Ablasszettel und Angstgeste der Post kommen nun eben diese Briefmarken.
Was die geschenkten Briefmarken der Post über die Effizienz der Regierung aussagen, NZZaS, 4.6. von Beat Kappeler


Trotzdem darf man gerührt sein. Die öffentlichen Dienste funktionieren, kapillar und in der Fläche, von einem Entscheid in Bundesbern bis in jeden Briefkasten. Wir füllen diese Beobachtung nun in die neueste Studie dieser Woche zur Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz ein. Das weltbekannte Management-Institut IMD in Lausanne stufte die Schweiz erneut auf Rang zwei ein, nach Hongkong – wegen der Infrastruktur und der «Effizienz der Regierung».

Die wahre Effizienz liegt natürlich beim Briefmarkendruck und beim Postboten, nicht in den Berner Sitzungszimmern, wie man nach dem IMD-Befund glauben könnte. Denn dies unterscheidet Nord- und Mitteleuropa von den dysfunktionalen Staaten am Mittelmeer. Dort werden überaus wichtige Dinge in den zentralen Sitzungszimmern der Regierungen entschieden, nicht bloss lächerliche Briefmarken. Aber es laufen keinerlei Hebel zur Fläche hinaus, zum Briefboten. Das griechische Parlament hat soeben viele, oft schon früher beschlossene Sparmassnahmen ergriffen, aber ankommen werden sie wohl erneut nicht. In Italien konferieren die Spitzenpolitiker von rechts bis links gewichtig über das Wahlsystem. Die Medien rauschen, doch in der Fläche bewegt sich wenig, denn 270 Strassenwischer in Palermo haben Krankenurlaub, und 80 000 Krankenpfleger in Italien sind dispensiert vom Arbeiten nachts, vom Röntgen, vom Umbetten oder vom Kontakt mit Patienten.

In Mittel- und Nordeuropa strahlt hingegen etwas aus den privaten Firmen auch in den öffentlichen Sektor ab, nämlich «execution» – die sorgfältige Ausführung. Anstatt über charakterliche Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa zu philosophieren, kann man kühl einerseits verkorkste Strukturen feststellen, etwa das Kündigungsverbot für ungeeignete private und staatliche Angestellte, und andererseits den Kipp-Effekt: Wenn in Süditaliens Spitälern um die 50% der Pfleger dispensiert und im Büro sind, muss jeder, der dies nicht versucht, mehr arbeiten und ist ein Trottel.

Wenn aber private oder öffentliche Organisationen ihren Mitarbeitern genügend Ermessen lassen, ihnen das Gefühl geben, es komme auf alle an, sie dazu aber auch knapp an der Zahl halten sowie ihnen kündigen können, dann gelangt die Gesellschaft zu Orchesterqualität, nämlich zur «collective intentionality». So nennt man es, wenn alle ihren kleinen Part selbst verantwortet, aber mit dem Blick aufs Ganze spielen können.
Doch halt – auch unser Orchesterton wird gestört. Wenn die Post nicht Marken verteilt, sondern Poststellen schliessen will, lärmen schon die Politiker und Arbeitnehmervertreter. In Schweden sind alle Poststellen in Läden eingerichtet, so überleben die Postdienste und die Läden in der Fläche, effizient, glaubwürdig. Dank dem kürzlich erfolgten Energievotum des Volkes kann nun der Bundesrat in 70 Fällen mit Verordnungen den Markt verfälschen und den Eigenwillen der Bürger brechen – Gerhard Schwarz hat es gezählt. Mit der Arbeitszeiterfassung versteifen Behörden und Gewerkschaften die Abläufe und das Ermessen der Arbeitenden. Mit den immer neuen Zwischenebenen im Schulwesen, von hauptamtlichen Schulleitern über die Qualitätssicherung, Mediation oder Benchmarks bis zur Akkreditierung und Evaluation, vergehen jedem Lehrenden das Ermessen, die Initiative und vor allem das Zeitbudget fürs eigentliche Schulehalten. Gerade wieder zeigte die Beschäftigungsstatistik dort 4000 Stellen mehr innert Jahresfrist – gerne als «hohe Ausgaben für Bildung» hochgelobt.

Sodann schliesst man mit immer mehr Lehrgängen und Diplom-Erfordernissen, etwa für Kleinkinderhorte, solche Rekrutierungsfelder zu. Doch gerade die Verfechter des Service public müssen dessen Arbeitenden viel Ermessen und Freiraum zugestehen, sonst sinken Effizienz und Legitimität. Er erstarrt, und Kipp-Effekte treten auf. So wird die Privatisierung plausibel.

Letzte Woche fragte das Swiss Economic Forum in Interlaken, ob man in der Schweiz noch wild sein könne. Vielleicht, aber man erkundige sich vorsichtshalber bei den zuständigen Amtsstellen des Benchmarking, der Evaluation, der Akkreditierung, der Qualitätssicherung, der Arbeitszeiterfassung, der Zulassung und Diplombeglaubigung und beachte die Governance-Papiere. Oder etwa nicht? Dann aber weg damit, um wild und frei zu sein. Einfach nicht befolgen. Das bringt dann noch mehr, als Briefmarken zuzustellen.


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