17. Mai 2017

Schwierigkeiten auf dem Weg zur Mehrsprachigkeit

Ich bin Secondo und zweisprachig aufgewachsen. Meine Eltern waren Fremdarbeiter aus Norditalien, doch ich bin hier zur Welt gekommen - im doppelten Sinn des Wortes. Zwei Sprachen, zwei Kulturen – von allem immer die doppelte Portion. Vielleicht bin ich deshalb auch als Künstler eher der barocke Typ. Trotzdem habe ich meine Zweisprachigkeit mehr als Bürde denn als Bereicherung empfunden. Ich habe nie wahnsinnig gerne Italienisch gesprochen, da ich mich zeitlebens eher als Schweizer denn als Italiener sah. Dass meine Frau zu dieser Feststellung nur laut lachen kann, liegt daran, dass ich ein ausgesprochen italienisches Temperament habe.
Secondo lernt sprechen, Basler Zeitung, 17.5. von Tullio Zanovello


Meine Aversion der Zweisprachigkeit gegenüber stammt auch daher, dass ich als Junge fast fünf Jahre in einer schweizerischen Pflegefamilie aufgewachsen bin. Das hat mich wohl stärker geprägt, als meine Eltern dachten. Wenn ich dann später beim Abendessen meinen Eltern von der Schule auf Italienisch erzählen musste, war ich immer versucht, mich mit schweizerdeutschen Ausdrücken zu behelfen. Meine Mutter verstand mich aber nicht, und mein Vater, der gut Deutsch sprach, hielt mich an, die Sprachen nicht zu vermengen. Er wollte nicht, dass ich «Italdeutsch» spreche, das nur italienische Secondos verstehen. Er liebte Genauigkeit und Verständlichkeit, und ich merkte: Der Spracherwerb ist auch für einen Secondo eine anstrengende Sache. Deshalb habe ich später, auch für meine Ausbildung als Künstler, Romanistik und Germanistik studiert und viel Mühe darauf verwendet, die beiden Sprachen unabhängig voneinander aufzuziehen, damit sie nicht wie siamesische Zwillinge zu einer lebensuntüchtigen Einheit ­verklebten.

Doch die Erfahrung einer doppelten Kultur hat mich viel stärker geprägt, als ich glaubte, und als meine Frau schwanger war, beschlossen wir, Italienisch als Familiensprache zu etablieren, um unseren Kindern eine reiche Kultur weiterzugeben. So mussten wir uns zuerst selbst daran gewöhnen, miteinander Italienisch zu sprechen, was erst befremdlich war. Doch es war nur eine Frage der Disziplin. Sogar während der Geburt unserer ersten Tochter schrie meine Frau zweisprachig: Wenn sie vor Schmerzen auf Italienisch «Aiaiaiai!» schrie, verstand die Hebamme nur immer «Jajajaja!» Sie freute sich über so viel Geburtsbegeisterung…

Die Jüngere verweigerte sich
Unsere Töchter wuchsen zuerst nur einsprachig auf, weil wir zu Hause konsequent Italienisch sprachen. Als die Kindergärtnerin aber unsere Töchter mit Kindern von Tamilen und Kosovaren in den Deutschunterricht schicken wollte, stellten wir um: Meine Frau sprach ab sofort nur noch Schweizerdeutsch mit ihnen, ich weiterhin Italienisch. Und damit begannen die Probleme. Im Gegensatz zu unserer älteren Tochter, die die zweite Sprache problemlos annahm, verweigerte unsere Jüngere das Schweizerdeutsche. Sie sprach weiterhin mit uns und allen Kindern ausschliesslich Italienisch. Irgendwann stellte sie aber radikal um: Sie wollte nur noch Schweizerdeutsch sprechen. Das liess ich aber auch nicht zu, selbst wenn deshalb die Streitereien so überhandnahmen, dass unsere Nachbarn über unser turbulentes Familienleben staunten. Erst als mein Vater starb, trat Ruhe ein. Ich konnte fast ein Jahr lang kein Italienisch mehr sprechen. Ich sah hilflos zu, wie meine ­Kinder ihre Muttersprache nach und nach vergassen. Das schmerzte mich, doch als ich mich wieder aufraffte, erholten sie sich schnell von der sprachlichen Hungerdiät, und heute sprechen beide sehr gut Italienisch, auch weil sie die Grammatik im Gymnasium vertieft haben.

Heute ist es sogar so, dass unsere Kinder mit meiner Frau und mir in unserer Familiensprache reden wollen. Denn inzwischen hat eine andere seltsame Entwicklung stattgefunden: Heute, da wir nicht mehr erziehen müssen, verweigern meine Frau und ich immer mehr das Italienische. Meine Frau ignoriert sehr oft einfach den Sprachwechsel und antwortet den Kindern störrisch auf Schweizerdeutsch, als liege ihr die Genauigkeit dessen, was sie sagen möchte, mehr am Herzen als die Sprache, in der sie spricht. Auch ich werde von rebellischen Anfällen heimgesucht. Wenn meine ältere Tochter, die im Ausland Gesang studiert, anruft und mit mir Italienisch spricht, weil sie auch ihre Stimmbänder schonen will – das Schweizerdeutsch kennt mit seinen vielen Konsonanten kein Erbarmen –, bocke ich hin und wieder, wie um die Freude darüber, sie zu hören, nicht mit der Anstrengung zu belasten, in einer eingerosteten Sprache mit ihr sprechen zu müssen.

Frühsprachen sind kein Gewinn
Die Sprachen sind eine stete Baustelle, und wenn Pädagogen glauben, das Frühfranzösisch und -englisch in der Primarschule sei ein Gewinn, dann irren sie sich. Es gibt kein automatisches Lernen. Es bräuchte wie in einer Familie tägliches Training, und selbst dann ist das bewusste Lernen in der Jugend ausschlaggebender für die Beherrschung einer Sprache.

Meine ältere Tochter erlernte in einem halben Jahr Gymnasium, was die Jüngere in zwei mühseligen Jahren an Englisch oder Französisch in der ­Primarschule zusammenzustottern erlernt hatte. Es lassen sich keine künstlichen Secondos heranziehen – oder erhalten.


Tullio Zanovello ist Künstler und Komponist. Er wohnt in Zürich.

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