Ich bin Secondo und zweisprachig
aufgewachsen. Meine Eltern waren Fremdarbeiter aus Norditalien, doch ich bin
hier zur Welt gekommen - im doppelten Sinn des Wortes. Zwei Sprachen, zwei
Kulturen – von allem immer die doppelte Portion. Vielleicht bin ich deshalb
auch als Künstler eher der barocke Typ. Trotzdem habe ich meine
Zweisprachigkeit mehr als Bürde denn als Bereicherung empfunden. Ich habe nie
wahnsinnig gerne Italienisch gesprochen, da ich mich zeitlebens eher als
Schweizer denn als Italiener sah. Dass meine Frau zu dieser Feststellung nur
laut lachen kann, liegt daran, dass ich ein ausgesprochen italienisches
Temperament habe.
Secondo lernt sprechen, Basler Zeitung, 17.5. von Tullio Zanovello
Meine
Aversion der Zweisprachigkeit gegenüber stammt auch daher, dass ich als Junge
fast fünf Jahre in einer schweizerischen Pflegefamilie aufgewachsen bin. Das
hat mich wohl stärker geprägt, als meine Eltern dachten. Wenn ich dann später
beim Abendessen meinen Eltern von der Schule auf Italienisch erzählen musste,
war ich immer versucht, mich mit schweizerdeutschen Ausdrücken zu behelfen.
Meine Mutter verstand mich aber nicht, und mein Vater, der gut Deutsch sprach,
hielt mich an, die Sprachen nicht zu vermengen. Er wollte nicht, dass ich
«Italdeutsch» spreche, das nur italienische Secondos verstehen. Er liebte
Genauigkeit und Verständlichkeit, und ich merkte: Der Spracherwerb ist auch für
einen Secondo eine anstrengende Sache. Deshalb habe ich später, auch für meine
Ausbildung als Künstler, Romanistik und Germanistik studiert und viel Mühe
darauf verwendet, die beiden Sprachen unabhängig voneinander aufzuziehen, damit
sie nicht wie siamesische Zwillinge zu einer lebensuntüchtigen Einheit verklebten.
Doch
die Erfahrung einer doppelten Kultur hat mich viel stärker geprägt, als ich
glaubte, und als meine Frau schwanger war, beschlossen wir, Italienisch als
Familiensprache zu etablieren, um unseren Kindern eine reiche Kultur
weiterzugeben. So mussten wir uns zuerst selbst daran gewöhnen, miteinander
Italienisch zu sprechen, was erst befremdlich war. Doch es war nur eine Frage
der Disziplin. Sogar während der Geburt unserer ersten Tochter schrie meine
Frau zweisprachig: Wenn sie vor Schmerzen auf Italienisch «Aiaiaiai!» schrie,
verstand die Hebamme nur immer «Jajajaja!» Sie freute sich über so viel
Geburtsbegeisterung…
Die
Jüngere verweigerte sich
Unsere
Töchter wuchsen zuerst nur einsprachig auf, weil wir zu Hause konsequent
Italienisch sprachen. Als die Kindergärtnerin aber unsere Töchter mit Kindern
von Tamilen und Kosovaren in den Deutschunterricht schicken wollte, stellten
wir um: Meine Frau sprach ab sofort nur noch Schweizerdeutsch mit ihnen, ich
weiterhin Italienisch. Und damit begannen die Probleme. Im Gegensatz zu unserer
älteren Tochter, die die zweite Sprache problemlos annahm, verweigerte unsere
Jüngere das Schweizerdeutsche. Sie sprach weiterhin mit uns und allen Kindern
ausschliesslich Italienisch. Irgendwann stellte sie aber radikal um: Sie wollte
nur noch Schweizerdeutsch sprechen. Das liess ich aber auch nicht zu, selbst
wenn deshalb die Streitereien so überhandnahmen, dass unsere Nachbarn über
unser turbulentes Familienleben staunten. Erst als mein Vater starb, trat Ruhe
ein. Ich konnte fast ein Jahr lang kein Italienisch mehr sprechen. Ich sah
hilflos zu, wie meine Kinder ihre Muttersprache nach und nach vergassen. Das
schmerzte mich, doch als ich mich wieder aufraffte, erholten sie sich schnell
von der sprachlichen Hungerdiät, und heute sprechen beide sehr gut Italienisch,
auch weil sie die Grammatik im Gymnasium vertieft haben.
Heute
ist es sogar so, dass unsere Kinder mit meiner Frau und mir in unserer
Familiensprache reden wollen. Denn inzwischen hat eine andere seltsame
Entwicklung stattgefunden: Heute, da wir nicht mehr erziehen müssen, verweigern
meine Frau und ich immer mehr das Italienische. Meine Frau ignoriert sehr oft
einfach den Sprachwechsel und antwortet den Kindern störrisch auf
Schweizerdeutsch, als liege ihr die Genauigkeit dessen, was sie sagen möchte,
mehr am Herzen als die Sprache, in der sie spricht. Auch ich werde von
rebellischen Anfällen heimgesucht. Wenn meine ältere Tochter, die im Ausland
Gesang studiert, anruft und mit mir Italienisch spricht, weil sie auch ihre
Stimmbänder schonen will – das Schweizerdeutsch kennt mit seinen vielen
Konsonanten kein Erbarmen –, bocke ich hin und wieder, wie um die Freude
darüber, sie zu hören, nicht mit der Anstrengung zu belasten, in einer
eingerosteten Sprache mit ihr sprechen zu müssen.
Frühsprachen
sind kein Gewinn
Die
Sprachen sind eine stete Baustelle, und wenn Pädagogen glauben, das
Frühfranzösisch und -englisch in der Primarschule sei ein Gewinn, dann irren
sie sich. Es gibt kein automatisches Lernen. Es bräuchte wie in einer Familie
tägliches Training, und selbst dann ist das bewusste Lernen in der Jugend
ausschlaggebender für die Beherrschung einer Sprache.
Meine
ältere Tochter erlernte in einem halben Jahr Gymnasium, was die Jüngere in zwei
mühseligen Jahren an Englisch oder Französisch in der Primarschule
zusammenzustottern erlernt hatte. Es lassen sich keine künstlichen Secondos
heranziehen – oder erhalten.
Tullio
Zanovello ist Künstler und Komponist. Er wohnt in Zürich.
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