Schweizer Schulen wollen von Papier und Tinte lange Zeit nichts wissen.
Von Urs Hafner
Die Smartphones, auf denen wir tippen, was das Zeug hält, sind die
Papierfetzen und die Tinte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Vor gut 200 Jahren
konnten zwar viel weniger Leute schreiben als heute, aber sie taten es mit der
gleichen Begeisterung. Und auch sie scherten sich, so wie viele Jugendliche
heute, kaum um Orthographie und Grammatik. Beide waren wenig reglementiert.
Schreib nicht, lies!, NZZ, 5.5. von Urs Hafner
Um das Jahr 1700 hingegen besteht die Bevölkerung noch weitgehend aus Analphabeten. Nur eine schmale Schicht von Gelehrten und Beamten ist schreibkundig. Wissen, Erfahrungen und Traditionen im Alltag werden mündlich weitergegeben. Und bevor die Menschen, die nicht zur Elite gehören, schreiben können, lernen sie lesen – und zwar heilige und erbauliche Schriften, den Katechismus, Gesetze und Verordnungen. Die Obrigkeiten schätzen die neuen Kompetenzen des Volks. Wer liest, kann Befehle empfangen. Herrschaftskritische und atheistische Schriften indes werden verboten.
Die Kirche blockt ab
Lesen ist kontrollierbar, nicht aber das Schreiben. Denn Schreiben ist
ein subversiver Akt. Wer schreibt, schafft eine Distanz zum Alltäglichen, die
nach Erklärung verlangt. Die Schrift führt in den Dissens und in die Fiktion.
Wer schreibt, der zaubert.
Bis um 1800 vermittelt die Volksschule keine Schreibkompetenzen, wie der
Zürcher Sozialanthropologe Alfred Messerli nachgewiesen hat. Die Obrigkeiten
finden Schreiben unnütz, Lesen reiche allemal. Die Geistlichkeit erkennt darin
gar eine Gefahr der Selbstvergottung. Nicht einmal die Lehrer können alle
schreiben. Der Aufwand ist gross: Man braucht Papier, das selten und teuer ist,
ferner Tinte und Federn sowie Ruhe in der überfüllten Schulstube. Nur 5 bis 20
Prozent der Zürcher Landbevölkerung sind des Schreibens mächtig, im Luzerner
Mittelland sind es 5 bis 10 Prozent, meistens Männer.
Doch das Bedürfnis nach schriftlicher Kommunikation steigt in der ganzen
Bevölkerung. Einfache Leute, die auf der Suche nach einem Auskommen oft
unterwegs sind, möchten ihre Angehörigen benachrichtigen. Die Geschäftswelt
setzt auf Buchführung, also müssen Händler schreiben können. Sennen und Hirten
halten an den Wänden ihrer Hütten Unglücksfälle und Wetterextreme fest. Aus dem
ländlichen Raum sind Liebesbriefchen, Spottgedichte, Wetter- und
Schuldenbüchlein überliefert.
Die Lust am Schreiben ist gross. Eltern geraten sogar mit Lehrern in
Streit, weil ihre Kinder nur lesen lernen. Doch die Trennung von Lesen und
Schreiben wird erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgehoben, als die
Volksschulen mit der obligatorischen Schulpflicht auch den Schreibunterricht
einführen. Vielerorts schreiben die Schüler auf Schiefertafeln. In Glarus
kopieren sie zuerst einzelne Buchstaben, dann Wörter und schliesslich ganze
biblische Verse und andere moralische Sentenzen.
Neues Durcheinander
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterrichten die Volksschulen bereits
nach mehr oder weniger einheitlichen Regeln. Einige Lehrmittel nehmen jedoch
weiter Rücksicht auf die Eigenheiten des heimischen Dialekts, so etwa im Kanton
Bern. 1902 übernimmt die Schweiz die Rechtschreibregeln der II.
Orthographischen Konferenz in Berlin. Sie sind durch den Philologen Konrad
Duden geprägt, den Begründer des gleichnamigen Wörterbuchs. Duden treibt die
Standardisierung der Rechtschreibung massgeblich voran.
In den folgenden Jahren erhalten Orthographie und Grammatik immer
grössere Bedeutung. Für die Schulen der Deutschschweiz gilt die Rechtschreibung
nach Duden, die beträchtliche Zahl der Schreibvarianten wird reduziert. Doch die
«korrekte» Schreibweise bleibt umkämpft. 1946 schlägt der «Bund für
vereinfachte Rechtschreibung» die Kleinschreibung vor. Er findet kein Gehör.
Die letzte grosse Reform beginnt 1996: Sie soll das Schreiben vereinfachen.
Doch die Neuregelung ist umstritten. Die Reform wird ihrerseits reformiert,
mehrere Redaktionen führen eigene Schreibweisen ein oder halten an diesen fest,
so auch die NZZ. Die Folge ist eine Re-Pluralisierung der Orthographie.
Es ist allerdings zu vermuten, dass das neue Durcheinander den vielen
Knaben und Mädchen, die mit ihren elektronischen Geräten so viele Texte
schreiben wie keine Generation vor ihr, ziemlich egal ist.
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