Die besten Schüler der Schweiz sollten korrekt schreiben können. Doch
die Gymnasien setzen andere Prioritäten. Das hat Folgen.
Orthographie zum Vergessen, NZZ, 5.5. von Robin
Schwarzenbach
Auf den Pulten liegen Papierkarten mit kurzen deutschen Sätzen drauf.
Sie sollen verteilt werden: Auf einen Stapel kommen die richtig geschriebenen
Sätze, auf einen weiteren die zweifelhaften und auf den dritten jene Sätze, die
sicher einen Fehler enthalten wie «Ich will dich unbedingt kennen lernen». Das
muss falsch sein, denn «kennenlernen» schreibt man zusammen. Oder etwa nicht?
Die Runde staunt nicht schlecht, als der Dozent die Karten wieder
einsammelt und seine verdutzten Zuhörer wissen lässt: «Sämtliche Beispiele sind
richtig geschrieben!» Seit 2006 kann man «kennenlernen» auch getrennt
schreiben. Im Schweizer Schülerduden ist die getrennte Form gar als einzige
Schreibweise aufgeführt, um die Schüler nicht zu verwirren, wie es heisst.
«Erschreckendes Niveau»
Allein, es ist kompliziert – auch für angehende Deutschlehrer im
Gymnasium. «Ui nein, das hätte ich prompt falsch angestrichen!», entfährt es
einer Studentin im Didaktikseminar an der Universität Zürich. Sie befindet sich
in «guter» Gesellschaft.
Viele Studierende haben nicht nur Mühe mit der Rechtschreibreform,
sondern mit der Orthographie generell. Auch Grammatik und sprachlicher Ausdruck
machen ihnen zu schaffen. Peter V. Kunz, Dekan der Rechtswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Bern, stellt einen «dramatischen Kompetenzverlust»
fest: «Schreibfehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion, falsch verwendete
Metaphern – das Niveau der Studierenden ist zum Teil erschreckend.» Bei
künftigen Rechtsvertretern sei dies problematisch, denn: «Eine saubere Sprache
ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Wer sich nicht
ausdrücken kann, wird nie zu einem guten Juristen werden.»
Die wenig schmeichelhaften Worte des Berner Dekans bringen eine
Entwicklung auf den Punkt, die den hiesigen Gymnasien, den Lehrpersonen und
ihren Schülerinnen und Schülern ein ungenügendes Zeugnis ausstellt. Eine
Untersuchung der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) bei Studienanfängern hat
erhebliche Mängel in den von Kunz monierten Bereichen festgestellt. 2016 wurde
der Rahmenlehrplan der Maturitätsschulen daraufhin durch sogenannte «basale
fachliche Kompetenzen» ergänzt – durch Fertigkeiten also, die für Maturanden
selbstverständlich sein sollten, es aber offensichtlich nicht sind.
Eine Erhebung der Universität Zürich spricht ebenfalls von deutlichen
Defiziten in der Orthographie. Zwei von drei befragten Lehrern geben an, dass
Gymnasiasten und Sekundarschüler mehr Fehler machten als noch vor zehn Jahren.
60 Prozent halten fest, dass sich die Grammatikkenntnisse verschlechtert
hätten. Als Stärken werden vor allem Kreativität und Phantasie, aber auch eine
«Unbekümmertheit beim Schreiben» genannt. Diese Vorlieben kommen offenbar auch
im Unterricht zum Tragen. Dass Schüler einen kohärenten Text schreiben können,
erachten über 90 Prozent der Lehrer als wichtig. Grammatik hat nur für jeden
zweiten Pädagogen denselben Stellenwert, Orthographie nur für etwas mehr als
ein Viertel.
Viele Lehrer kapitulieren
Mit anderen Worten: Formale Schreibschwächen sind evident. Doch viele
Lehrer konzentrieren sich lieber auf inhaltliche und dramaturgische Fragen,
anstatt sich mit «basalen» Dingen wie Getrennt- und Zusammenschreibung oder
Kommaregeln aufzuhalten. «Die Rechtschreibung ist etwas aus dem Blick geraten»,
sagt Thomas Lindauer, Professor an der Pädagogischen Hochschule (PH) der
Fachhochschule Nordwestschweiz. Der Sprachdidaktiker hat eine Erklärung dafür. «Gymnasien
wollen reflektieren, und sie tun das vor allem mit Literatur», sagt Lindauer.
Grammatik und Orthographie würden vielerorts als Drill missverstanden. Und so
fange er mit seinen Studierenden an der PH immer wieder von vorne an: Was sind
Nomen, Pronomen, Satzglieder; warum schreibt man «spazieren» und nicht
«spatzieren»?
Vor dieser Arbeit haben viele Lehrer kapituliert – aus ökonomischen
Gründen, aber auch aus der Einsicht, dass ihre Bemühungen im Deutschunterricht
nur mässig erfolgreich sind, trotz Theorie und unzähligen Übungsblättern, die
viele nach wie vor selber erstellen. Von Kollegen wird ihnen mitunter
empfohlen, diesen Aufwand auf ein Minimum zu reduzieren. Schliesslich, so
heisst es unter Gymnasiallehrern, sei es den Schülern ziemlich egal, ob sie ein
paar Fehler mehr machten. Manche Lehrer zeigen gar Verständnis für diese
Haltung («Beethoven war's auch egal»). Rechtschreibung sei zwar zu benoten.
Doch Probleme mit der Orthographie an sich müsse man heutzutage «outsourcen» –
die Schüler sollten am Computer Korrekturprogramme verwenden oder Freunde oder
Verwandte fragen, die Rechtschreibung wirklich beherrschten.
Der Ratschlag ist weniger bemerkenswert, als er auf den ersten Blick
klingen mag. Maturanden müssen Texte korrigieren und überarbeiten können. So
steht es zumindest im neuen Rahmenlehrplan. Und natürlich gibt es Lehrer (und
Schüler), denen Orthographie und Grammatik wichtig sind, weil sie ein
Bewusstsein für die deutsche Sprache entwickeln wollen. Doch die Prioritäten
haben sich verschoben. Rechtschreibung und Grammatik spielen eine Nebenrolle.
Statt daran zu arbeiten, verweisen Mittelschullehrer bei Defiziten gerne auf
die unteren Stufen. Vielleicht sollten sie genau hinsehen und sich den einen
oder anderen Punkt aus der Praxis der Volksschulen zu Herzen nehmen.
«Lehrer müssen nicht alles korrigieren», sagt Thomas Lindauer. «Sie
sollten vor allem jene Fehler anzeichnen, die dem betreffenden Schüler immer
wieder unterlaufen und auf die sich dieser bei der Überarbeitung dann
konzentrieren kann.» So bleibe mehr Zeit für die inhaltliche Besprechung, und
die Lehrer liefen weniger Gefahr, sich mit komplett korrigierten Aufsätzen zu
überlasten.
Wie das funktionieren könnte, zeigt sich bei einem Besuch im Schulhaus
Feld in Winterthur. Kaspar Vogel, der Sekundarlehrer, zeigt auf die offenen
Schreibhefte vor ihm und sagt: «Zwei bis drei orthographische Anmerkungen
genügen. Mit allen Fehlern auf einmal wären die meisten Schüler überfordert.»
Auch er findet: «Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt ist wichtiger.»
An der Uni ist es zu spät
Viele Schreibfehler in den Heften bleiben tatsächlich ungeahndet. Dafür
kommt diese Art einer dosierten, auf individuelle Schwächen fokussierenden
Rechtschreibung nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in anderen Fächern
zum Tragen – etwa in einem Schülertext über die vier Jahreszeiten, die Erdachse
und die Umlaufbahn um die Sonne. «Fünf Stunden Deutsch pro Woche wären viel zu
wenig, um jene Unsicherheiten anzugehen, die am meisten Mühe machen», sagt
Vogel. Also üben seine Schüler auch mit Texten, die sie in anderen Lektionen
geschrieben haben.
Auch im Gymnasium sollte Rechtschreibung in allen Fächern Standard sein.
So will es die EDK, so steht es schwarz auf weiss auf Antwortbögen von
Maturaprüfungen. Wie Prüfungsexperten jedoch übereinstimmend berichten, werden
Schreibfehler, unvollständige Sätze und falsch verwendete Begriffe mitunter
überhaupt nicht angestrichen, geschweige denn bewertet. Machen es sich jene
Schulen, die die Besten des Landes hervorbringen sollen, zu leicht, wenn sie
stattdessen den kreativen Stil von Maturanden ins Feld führen?
Im Studium jedenfalls ist es zu spät, korrektes Deutsch zu lernen.
Jurastudierende der Universität Bern müssen bei schriftlichen Arbeiten mit
Abzügen von bis zu einer ganzen Note rechnen. Peter V. Kunz sagt: «Wer
Rechtschreibung nicht beherrscht, sollte etwas anderes studieren.» Es klingt
wie eine Warnung.
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