5. Mai 2017

Rechtschreibung und Grammatik in der Nebenrolle

Die besten Schüler der Schweiz sollten korrekt schreiben können. Doch die Gymnasien setzen andere Prioritäten. Das hat Folgen. 
Orthographie zum Vergessen, NZZ, 5.5. von Robin Schwarzenbach

Auf den Pulten liegen Papierkarten mit kurzen deutschen Sätzen drauf. Sie sollen verteilt werden: Auf einen Stapel kommen die richtig geschriebenen Sätze, auf einen weiteren die zweifelhaften und auf den dritten jene Sätze, die sicher einen Fehler enthalten wie «Ich will dich unbedingt kennen lernen». Das muss falsch sein, denn «kennenlernen» schreibt man zusammen. Oder etwa nicht?

Die Runde staunt nicht schlecht, als der Dozent die Karten wieder einsammelt und seine verdutzten Zuhörer wissen lässt: «Sämtliche Beispiele sind richtig geschrieben!» Seit 2006 kann man «kennenlernen» auch getrennt schreiben. Im Schweizer Schülerduden ist die getrennte Form gar als einzige Schreibweise aufgeführt, um die Schüler nicht zu verwirren, wie es heisst.

«Erschreckendes Niveau»
Allein, es ist kompliziert – auch für angehende Deutschlehrer im Gymnasium. «Ui nein, das hätte ich prompt falsch angestrichen!», entfährt es einer Studentin im Didaktikseminar an der Universität Zürich. Sie befindet sich in «guter» Gesellschaft.

Viele Studierende haben nicht nur Mühe mit der Rechtschreibreform, sondern mit der Orthographie generell. Auch Grammatik und sprachlicher Ausdruck machen ihnen zu schaffen. Peter V. Kunz, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, stellt einen «dramatischen Kompetenzverlust» fest: «Schreibfehler, Fallfehler, mangelnde Interpunktion, falsch verwendete Metaphern – das Niveau der Studierenden ist zum Teil erschreckend.» Bei künftigen Rechtsvertretern sei dies problematisch, denn: «Eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird nie zu einem guten Juristen werden.»

Die wenig schmeichelhaften Worte des Berner Dekans bringen eine Entwicklung auf den Punkt, die den hiesigen Gymnasien, den Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern ein ungenügendes Zeugnis ausstellt. Eine Untersuchung der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) bei Studienanfängern hat erhebliche Mängel in den von Kunz monierten Bereichen festgestellt. 2016 wurde der Rahmenlehrplan der Maturitätsschulen daraufhin durch sogenannte «basale fachliche Kompetenzen» ergänzt – durch Fertigkeiten also, die für Maturanden selbstverständlich sein sollten, es aber offensichtlich nicht sind.

Eine Erhebung der Universität Zürich spricht ebenfalls von deutlichen Defiziten in der Orthographie. Zwei von drei befragten Lehrern geben an, dass Gymnasiasten und Sekundarschüler mehr Fehler machten als noch vor zehn Jahren. 60 Prozent halten fest, dass sich die Grammatikkenntnisse verschlechtert hätten. Als Stärken werden vor allem Kreativität und Phantasie, aber auch eine «Unbekümmertheit beim Schreiben» genannt. Diese Vorlieben kommen offenbar auch im Unterricht zum Tragen. Dass Schüler einen kohärenten Text schreiben können, erachten über 90 Prozent der Lehrer als wichtig. Grammatik hat nur für jeden zweiten Pädagogen denselben Stellenwert, Orthographie nur für etwas mehr als ein Viertel.

Viele Lehrer kapitulieren
Mit anderen Worten: Formale Schreibschwächen sind evident. Doch viele Lehrer konzentrieren sich lieber auf inhaltliche und dramaturgische Fragen, anstatt sich mit «basalen» Dingen wie Getrennt- und Zusammenschreibung oder Kommaregeln aufzuhalten. «Die Rechtschreibung ist etwas aus dem Blick geraten», sagt Thomas Lindauer, Professor an der Pädagogischen Hochschule (PH) der Fachhochschule Nordwestschweiz. Der Sprachdidaktiker hat eine Erklärung dafür. «Gymnasien wollen reflektieren, und sie tun das vor allem mit Literatur», sagt Lindauer. Grammatik und Orthographie würden vielerorts als Drill missverstanden. Und so fange er mit seinen Studierenden an der PH immer wieder von vorne an: Was sind Nomen, Pronomen, Satzglieder; warum schreibt man «spazieren» und nicht «spatzieren»?

Vor dieser Arbeit haben viele Lehrer kapituliert – aus ökonomischen Gründen, aber auch aus der Einsicht, dass ihre Bemühungen im Deutschunterricht nur mässig erfolgreich sind, trotz Theorie und unzähligen Übungsblättern, die viele nach wie vor selber erstellen. Von Kollegen wird ihnen mitunter empfohlen, diesen Aufwand auf ein Minimum zu reduzieren. Schliesslich, so heisst es unter Gymnasiallehrern, sei es den Schülern ziemlich egal, ob sie ein paar Fehler mehr machten. Manche Lehrer zeigen gar Verständnis für diese Haltung («Beethoven war's auch egal»). Rechtschreibung sei zwar zu benoten. Doch Probleme mit der Orthographie an sich müsse man heutzutage «outsourcen» – die Schüler sollten am Computer Korrekturprogramme verwenden oder Freunde oder Verwandte fragen, die Rechtschreibung wirklich beherrschten.

Der Ratschlag ist weniger bemerkenswert, als er auf den ersten Blick klingen mag. Maturanden müssen Texte korrigieren und überarbeiten können. So steht es zumindest im neuen Rahmenlehrplan. Und natürlich gibt es Lehrer (und Schüler), denen Orthographie und Grammatik wichtig sind, weil sie ein Bewusstsein für die deutsche Sprache entwickeln wollen. Doch die Prioritäten haben sich verschoben. Rechtschreibung und Grammatik spielen eine Nebenrolle. Statt daran zu arbeiten, verweisen Mittelschullehrer bei Defiziten gerne auf die unteren Stufen. Vielleicht sollten sie genau hinsehen und sich den einen oder anderen Punkt aus der Praxis der Volksschulen zu Herzen nehmen.

«Lehrer müssen nicht alles korrigieren», sagt Thomas Lindauer. «Sie sollten vor allem jene Fehler anzeichnen, die dem betreffenden Schüler immer wieder unterlaufen und auf die sich dieser bei der Überarbeitung dann konzentrieren kann.» So bleibe mehr Zeit für die inhaltliche Besprechung, und die Lehrer liefen weniger Gefahr, sich mit komplett korrigierten Aufsätzen zu überlasten.

Wie das funktionieren könnte, zeigt sich bei einem Besuch im Schulhaus Feld in Winterthur. Kaspar Vogel, der Sekundarlehrer, zeigt auf die offenen Schreibhefte vor ihm und sagt: «Zwei bis drei orthographische Anmerkungen genügen. Mit allen Fehlern auf einmal wären die meisten Schüler überfordert.» Auch er findet: «Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt ist wichtiger.»

An der Uni ist es zu spät
Viele Schreibfehler in den Heften bleiben tatsächlich ungeahndet. Dafür kommt diese Art einer dosierten, auf individuelle Schwächen fokussierenden Rechtschreibung nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in anderen Fächern zum Tragen – etwa in einem Schülertext über die vier Jahreszeiten, die Erdachse und die Umlaufbahn um die Sonne. «Fünf Stunden Deutsch pro Woche wären viel zu wenig, um jene Unsicherheiten anzugehen, die am meisten Mühe machen», sagt Vogel. Also üben seine Schüler auch mit Texten, die sie in anderen Lektionen geschrieben haben.

Auch im Gymnasium sollte Rechtschreibung in allen Fächern Standard sein. So will es die EDK, so steht es schwarz auf weiss auf Antwortbögen von Maturaprüfungen. Wie Prüfungsexperten jedoch übereinstimmend berichten, werden Schreibfehler, unvollständige Sätze und falsch verwendete Begriffe mitunter überhaupt nicht angestrichen, geschweige denn bewertet. Machen es sich jene Schulen, die die Besten des Landes hervorbringen sollen, zu leicht, wenn sie stattdessen den kreativen Stil von Maturanden ins Feld führen?
Im Studium jedenfalls ist es zu spät, korrektes Deutsch zu lernen. Jurastudierende der Universität Bern müssen bei schriftlichen Arbeiten mit Abzügen von bis zu einer ganzen Note rechnen. Peter V. Kunz sagt: «Wer Rechtschreibung nicht beherrscht, sollte etwas anderes studieren.» Es klingt wie eine Warnung.


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