21. Mai 2017

Bildungspolitik als Planwirtschaft

Der Kinderarzt Remo Largo hat sein Lebenswerk mit einem Buch abgeschlossen, in dem er die Menschheit auffordert, wieder nach ihren Grundbedürfnissen zu leben. Was er vorschlägt, klingt nach Kommunismus.
"Immer mehr Menschen sind unglücklich", NZZ, 20.5. von Peer Teuwsen


Herr Largo, geht es Ihnen gut?
Ja, doch. Ich bin aber sehr müde.

Sie haben ja auch mit 73 Jahren Ihr Lebenswerk beendet, indem Sie aufgeschrieben haben, wie wir Menschen besser leben könnten. Jetzt ist also gut?
Ich habe das Gefühl eines Abschlusses. Ich bin zufrieden damit.

Mit dem Lebenswerk?
Mit dem Buch.

Und mit Ihrem Lebenswerk?
Eigentlich auch. Ich hatte grosses Glück. Ich war in den 1970er Jahren schwer krank, eine normale medizinische Karriere war gar nicht mehr möglich. Ich hatte das Gehör auf dem rechten Ohr verloren, hatte ständig Schwindel und sonstige gesundheitliche Probleme. Ich wollte eigentlich Kinderchirurg werden, aber das konnte ich vergessen. Zufällig kam ich dann auf die Abteilung «Wachstum und Entwicklung» am Kinderspital Zürich, da wollte nie einer hin. Das war 1974. 2005 habe ich aufgehört. Und in all diesen Jahren hatte ich das Glück, meine wissenschaftlichen Interessen verfolgen zu können.

Das klingt, als hätten Sie fast kein Verdienst an Ihrem Lebenswerk.
Ich kann das nicht Verdienst nennen. Ich bin halt ein Getriebener. Mich hat schon als Jugendlicher die Frage stark beschäftigt, was der Mensch eigentlich ist. Und das hat bis heute nicht aufgehört. Obwohl, eigentlich bin ich jetzt zur Ruhe gekommen. Der Mensch, das Leben, das ist für mich kein Mysterium mehr.

Sie haben das Rätsel des Lebens gelöst?
In weiten Teilen. Dazu haben jahrzehntelange Erfahrungen beigetragen, deshalb ist das Buch so dick geworden.

Also, was ist des Rätsels Lösung?
Schon Charles Darwin hat es Anfang des 19. Jahrhunderts richtig gespürt. Er wusste nichts von Genetik. Er machte Experimente mit Pflanzen und Tieren. Er lernte züchten und zog daraus den richtigen Schluss: Es wird etwas vererbt, einerseits setzt das das Entwicklungspotenzial, und andererseits braucht es dazu eine Umwelt. Jedes Lebewesen will sein Potenzial durch Erfahrungen mit der Umwelt verwirklichen. Kein Lebewesen kann sich über sein Potenzial hinaus entwickeln. Dies gilt auch für den Menschen. Was Darwin ebenfalls erkannte: Die Vielfalt unter den Individuen einer Art ist sehr gross, eine Grundbedingung der Evolution.

Das ist das Rätsel des Lebens?
Wie das Leben angefangen hat, wissen wir nicht. Aber wie wir uns bemühen, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, das wissen wir. Und dieses Bemühen macht den Sinn des Lebens aus.

Ich verstehe andererseits nicht, dass es Ihnen gutgeht. Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, Sie wollten ins vorindustrielle Zeitalter zurück. Sie fordern die Rückkehr zu einer solidarischen Gesellschaft, die in Lebensgemeinschaften wohnt, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Steuern auf jeder Form von Gewinn, eine Kollektivierung des Bodens. Das klingt nicht nach einem gelassenen, in sich ruhenden Menschen.
Jedes Lebewesen, jeder Mensch kämpft darum, seine sechs Grundbedürfnisse zu befriedigen: existenzielle Sicherheit, körperliche Integrität, Geborgenheit, Anerkennung des sozialen Status, Selbstentfaltung und Leistung. Der Mensch schaffte es aber nie, diese Bedürfnisse auf Dauer zu befriedigen, er war in einer ständigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Der Mensch war letztlich immer schwächer als seine Umwelt. Dann wurde er vor 12 000 Jahren sesshaft, und seine existenzielle Situation verbesserte sich. Er legte etwa Vorräte an, um der Umwelt nicht ständig ausgeliefert zu sein. So ging es weiter bis etwa vor 200 Jahren. Dann kippte es.

Die Industrialisierung begann.
Genau. Der Fortschritt nahm exponentiell zu. Und der Mensch wurde als einziges Lebewesen stärker als die Umwelt.

Sie behaupten nun, der Mensch könne gewisse Grundbedürfnisse immer weniger befriedigen, etwa die nach Geborgenheit und sozialer Anerkennung.
Wir sind noch immer dieselben wie vor 200 000 Jahren. Es geht uns immer noch nur darum, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die soziale Umwelt macht es uns jedoch immer schwerer. So ist der Mensch nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht, sondern nur für eine Gemeinschaft von vertrauten Menschen. Und wenn man sagt, dieses Denken sei retro, dann ist das eine Missachtung der Grundbedürfnisse.

Das ist der totale Individualismus.
Ja, aber nicht so, wie man ihn gemeinhin versteht, als Maximierung der Eigeninteressen. Letzteres ist aber in hohem Mass ein Kompensationsmechanismus, weil man die Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigen kann. Warum kauft man ein grosses Auto, ein grosses Haus? Weil man etwas sucht, mit dem man soziale Anerkennung bekommt, die in der Massengesellschaft weitgehend fehlt.

Sie haben also den Eindruck, die meisten Menschen seien unglücklich?
Immer mehr Menschen sind es.

Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Wir erleben es jeden Tag. Ein Kind ist darauf angelegt, sein Potenzial zu verwirklichen. Aber unsere Gesellschaft hat eine Bildungspolitik, die eine Planwirtschaft ist. Sie setzt Ziele durch, wie etwa den Lehrplan 21 oder Frühfranzösisch – und das entspricht den Kindern nicht. Deshalb haben wir schon Burnouts bei Kindern. Oder nehmen Sie die alten Menschen, es macht tieftraurig, in welcher Einsamkeit viele von ihnen leben müssen. Und in der Lebenszeit dazwischen sagt die Wirtschaft den Menschen, was sie zu tun haben. Immer mehr Menschen fühlen sich weitgehend fremdbestimmt und können nicht mehr Leistungen erbringen, die ihnen entsprechen und sinnvoll sind. Für ein sinnvolles Leben gibt es keine Planwirtschaft. Jeder Mensch ist ein Unikat.

Sie selbst wohnen in keiner Lebensgemeinschaft, also mit mehreren Generationen unter einem Dach.
Hätte ich es bloss getan! Wir diskutieren jetzt aber in der Familie, ob wir nicht irgendwo ein grosses Haus oder einen Bauernhof kaufen, um dort gemeinsam zu leben. Natürlich gibt es die Angst vor zu viel Nähe. Aber was sind die Alternativen? Um unsere emotionalen und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, brauchen wir die Lebensgemeinschaft. Sie gibt Halt. Sie ist aber kein Vergnügungspark, es geht nicht ohne Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Zudem kann die Lebensgemeinschaft riesige Probleme der Gesellschaft entschärfen: die Versorgung alter Menschen, Behinderter, Kranker, Kinder. Es wäre unendlich viel billiger und vor allem menschengerechter.

Sie wollen aber noch mehr: ein bedingungsloses Grundeinkommen, das hier gerade wuchtig abgelehnt worden ist.
Gretchenfrage: Wie soll zukünftig ein in jeder Hinsicht würdiges Leben gewährleistet werden? Da gibt es ja mittlerweile namhafte Ökonomen, die das mit dem Grundeinkommen auch so sehen. Neustes Beispiel: Nike hat seine Produktionsstätten nach Asien ausgegliedert. Nun holt es sie zurück. Warum? Roboter werden hier die Arbeit erledigen zum halben Preis menschlicher Arbeitskräfte. Arbeit verschwindet und damit auch das Einkommen der Menschen. Und von was sollen die Menschen dann leben?

Sie wollen das Grundeinkommen etwa finanzieren, indem der Staat auf jede Form von Gewinn Steuern erhebt.
Ökonomen schlagen vor, jede Form von Dienstleistung zu besteuern. Wie soll denn der Staat sonst nur schon das Gesundheitswesen erhalten?

Durch eine Kollektivierung des Bodens wollen Sie das Eigentum abschaffen.
Ich sehe nicht ein, warum der Einzelne heute Boden besitzen soll. Der Boden gehört uns allen – wie die Luft und das Wasser. Und übrigens auch die Rohstoffe, die zum Nachteil der Allgemeinheit ausgebeutet werden.

Herr Largo, das ist Kommunismus.
Ach, das hat man mir auch schon gesagt. Nein, ein passendes Leben zu führen, ist ein Menschenrecht, an dem sich die Gesellschaft ausrichten soll.

Die Geschichte zeigt doch, dass der Mensch zuerst für sich und dann erst zu anderen schaut.
Wollen Sie ein Glas Wasser?

Gerne. Und eine Antwort.
Eigeninteressen in kleinen Gemeinschaften nachzugehen, war nicht zerstörerisch. Die zwischenmenschlichen Abhängigkeiten und eine begrenzte Umwelt haben Grenzen gesetzt. In einer Massengesellschaft und einer globalen Wirtschaft sind jedoch Kräfte am Werk, die sich immer mehr jeder Kontrolle entziehen, siehe Finanzkrise 2008.

Zusammengefasst sagen Sie: Wir Menschen haben uns eine Welt geschaffen, in die wir nicht mehr hineinpassen.
Wenn wir von unseren Grundbedürfnissen ausgehen: ja.

Trotz deprimierender Prognose über den Zustand der Menschheit sind Sie optimistisch, was die Zukunft anbelangt. Warum?
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich und seine Umwelt reflektieren kann. Er wird sich auf seine Grundbedürfnisse besinnen und seine Umwelt so gestalten, dass sie ihm entspricht.

Remo H. Largo: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer, 2017. 

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