"Immer mehr Menschen sind unglücklich", NZZ, 20.5. von Peer Teuwsen
Herr Largo, geht es
Ihnen gut?
Ja, doch. Ich bin aber
sehr müde.
Sie haben ja auch mit 73
Jahren Ihr Lebenswerk beendet, indem Sie aufgeschrieben haben, wie wir Menschen
besser leben könnten. Jetzt ist also gut?
Ich habe das Gefühl
eines Abschlusses. Ich bin zufrieden damit.
Mit dem Lebenswerk?
Mit dem Buch.
Und mit Ihrem
Lebenswerk?
Eigentlich auch. Ich
hatte grosses Glück. Ich war in den 1970er Jahren schwer krank, eine normale
medizinische Karriere war gar nicht mehr möglich. Ich hatte das Gehör auf dem
rechten Ohr verloren, hatte ständig Schwindel und sonstige gesundheitliche
Probleme. Ich wollte eigentlich Kinderchirurg werden, aber das konnte ich
vergessen. Zufällig kam ich dann auf die Abteilung «Wachstum und Entwicklung»
am Kinderspital Zürich, da wollte nie einer hin. Das war 1974. 2005 habe ich
aufgehört. Und in all diesen Jahren hatte ich das Glück, meine
wissenschaftlichen Interessen verfolgen zu können.
Das klingt, als hätten Sie fast kein Verdienst an Ihrem
Lebenswerk.
Ich kann das nicht
Verdienst nennen. Ich bin halt ein Getriebener. Mich hat schon als Jugendlicher
die Frage stark beschäftigt, was der Mensch eigentlich ist. Und das hat bis
heute nicht aufgehört. Obwohl, eigentlich bin ich jetzt zur Ruhe gekommen. Der
Mensch, das Leben, das ist für mich kein Mysterium mehr.
Sie haben das Rätsel des
Lebens gelöst?
In weiten Teilen. Dazu
haben jahrzehntelange Erfahrungen beigetragen, deshalb ist das Buch so dick
geworden.
Also, was ist des
Rätsels Lösung?
Schon Charles Darwin hat
es Anfang des 19. Jahrhunderts richtig gespürt. Er wusste nichts von Genetik.
Er machte Experimente mit Pflanzen und Tieren. Er lernte züchten und zog daraus
den richtigen Schluss: Es wird etwas vererbt, einerseits setzt das das
Entwicklungspotenzial, und andererseits braucht es dazu eine Umwelt. Jedes
Lebewesen will sein Potenzial durch Erfahrungen mit der Umwelt verwirklichen.
Kein Lebewesen kann sich über sein Potenzial hinaus entwickeln. Dies gilt auch
für den Menschen. Was Darwin ebenfalls erkannte: Die Vielfalt unter den
Individuen einer Art ist sehr gross, eine Grundbedingung der Evolution.
Das ist das Rätsel des
Lebens?
Wie das Leben angefangen
hat, wissen wir nicht. Aber wie wir uns bemühen, in Übereinstimmung mit der
Umwelt zu leben, das wissen wir. Und dieses Bemühen macht den Sinn des Lebens
aus.
Ich verstehe
andererseits nicht, dass es Ihnen gutgeht. Wenn man Ihr Buch liest, hat man den
Eindruck, Sie wollten ins vorindustrielle Zeitalter zurück. Sie fordern die
Rückkehr zu einer solidarischen Gesellschaft, die in Lebensgemeinschaften
wohnt, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Steuern auf jeder Form von Gewinn,
eine Kollektivierung des Bodens. Das klingt nicht nach einem gelassenen, in
sich ruhenden Menschen.
Jedes Lebewesen, jeder
Mensch kämpft darum, seine sechs Grundbedürfnisse zu befriedigen: existenzielle
Sicherheit, körperliche Integrität, Geborgenheit, Anerkennung des sozialen
Status, Selbstentfaltung und Leistung. Der Mensch schaffte es aber nie, diese
Bedürfnisse auf Dauer zu befriedigen, er war in einer ständigen
Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Der Mensch war letztlich immer schwächer
als seine Umwelt. Dann wurde er vor 12 000 Jahren sesshaft, und seine
existenzielle Situation verbesserte sich. Er legte etwa Vorräte an, um der
Umwelt nicht ständig ausgeliefert zu sein. So ging es weiter bis etwa vor 200
Jahren. Dann kippte es.
Die Industrialisierung
begann.
Genau. Der Fortschritt
nahm exponentiell zu. Und der Mensch wurde als einziges Lebewesen stärker als
die Umwelt.
Sie behaupten nun, der
Mensch könne gewisse Grundbedürfnisse immer weniger befriedigen, etwa die nach
Geborgenheit und sozialer Anerkennung.
Wir sind noch immer
dieselben wie vor 200 000 Jahren. Es geht uns immer noch nur darum, unsere
Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die soziale Umwelt macht es uns jedoch immer
schwerer. So ist der Mensch nicht für eine anonyme Massengesellschaft gemacht,
sondern nur für eine Gemeinschaft von vertrauten Menschen. Und wenn man sagt,
dieses Denken sei retro, dann ist das eine Missachtung der Grundbedürfnisse.
Das ist der totale
Individualismus.
Ja, aber nicht so, wie man
ihn gemeinhin versteht, als Maximierung der Eigeninteressen. Letzteres ist aber
in hohem Mass ein Kompensationsmechanismus, weil man die Grundbedürfnisse nicht
mehr befriedigen kann. Warum kauft man ein grosses Auto, ein grosses Haus? Weil
man etwas sucht, mit dem man soziale Anerkennung bekommt, die in der
Massengesellschaft weitgehend fehlt.
Sie haben also den
Eindruck, die meisten Menschen seien unglücklich?
Immer mehr Menschen sind
es.
Woher nehmen Sie diese Gewissheit?
Wir erleben es jeden
Tag. Ein Kind ist darauf angelegt, sein Potenzial zu verwirklichen. Aber unsere
Gesellschaft hat eine Bildungspolitik, die eine Planwirtschaft ist. Sie setzt
Ziele durch, wie etwa den Lehrplan 21 oder Frühfranzösisch – und das entspricht
den Kindern nicht. Deshalb haben wir schon Burnouts bei Kindern. Oder nehmen
Sie die alten Menschen, es macht tieftraurig, in welcher Einsamkeit viele von
ihnen leben müssen. Und in der Lebenszeit dazwischen sagt die Wirtschaft den
Menschen, was sie zu tun haben. Immer mehr Menschen fühlen sich weitgehend
fremdbestimmt und können nicht mehr Leistungen erbringen, die ihnen entsprechen
und sinnvoll sind. Für ein sinnvolles Leben gibt es keine Planwirtschaft. Jeder
Mensch ist ein Unikat.
Sie selbst wohnen in
keiner Lebensgemeinschaft, also mit mehreren Generationen unter einem Dach.
Hätte ich es bloss
getan! Wir diskutieren jetzt aber in der Familie, ob wir nicht irgendwo ein
grosses Haus oder einen Bauernhof kaufen, um dort gemeinsam zu leben. Natürlich
gibt es die Angst vor zu viel Nähe. Aber was sind die Alternativen? Um unsere emotionalen
und sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, brauchen wir die Lebensgemeinschaft.
Sie gibt Halt. Sie ist aber kein Vergnügungspark, es geht nicht ohne
Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Zudem kann die Lebensgemeinschaft riesige
Probleme der Gesellschaft entschärfen: die Versorgung alter Menschen,
Behinderter, Kranker, Kinder. Es wäre unendlich viel billiger und vor allem
menschengerechter.
Sie wollen aber noch
mehr: ein bedingungsloses Grundeinkommen, das hier gerade wuchtig abgelehnt
worden ist.
Gretchenfrage: Wie soll
zukünftig ein in jeder Hinsicht würdiges Leben gewährleistet werden? Da gibt es
ja mittlerweile namhafte Ökonomen, die das mit dem Grundeinkommen auch so
sehen. Neustes Beispiel: Nike hat seine Produktionsstätten nach Asien
ausgegliedert. Nun holt es sie zurück. Warum? Roboter werden hier die Arbeit
erledigen zum halben Preis menschlicher Arbeitskräfte. Arbeit verschwindet und
damit auch das Einkommen der Menschen. Und von was sollen die Menschen dann
leben?
Sie wollen das
Grundeinkommen etwa finanzieren, indem der Staat auf jede Form von Gewinn
Steuern erhebt.
Ökonomen schlagen vor,
jede Form von Dienstleistung zu besteuern. Wie soll denn der Staat sonst nur
schon das Gesundheitswesen erhalten?
Durch eine
Kollektivierung des Bodens wollen Sie das Eigentum abschaffen.
Ich sehe nicht ein,
warum der Einzelne heute Boden besitzen soll. Der Boden gehört uns allen – wie
die Luft und das Wasser. Und übrigens auch die Rohstoffe, die zum Nachteil der
Allgemeinheit ausgebeutet werden.
Herr Largo, das ist
Kommunismus.
Ach, das hat man mir
auch schon gesagt. Nein, ein passendes Leben zu führen, ist ein Menschenrecht,
an dem sich die Gesellschaft ausrichten soll.
Die Geschichte zeigt
doch, dass der Mensch zuerst für sich und dann erst zu anderen schaut.
Wollen Sie ein Glas
Wasser?
Gerne. Und eine Antwort.
Eigeninteressen in
kleinen Gemeinschaften nachzugehen, war nicht zerstörerisch. Die
zwischenmenschlichen Abhängigkeiten und eine begrenzte Umwelt haben Grenzen
gesetzt. In einer Massengesellschaft und einer globalen Wirtschaft sind jedoch
Kräfte am Werk, die sich immer mehr jeder Kontrolle entziehen, siehe
Finanzkrise 2008.
Zusammengefasst sagen Sie: Wir Menschen haben uns eine Welt
geschaffen, in die wir nicht mehr hineinpassen.
Wenn wir von unseren
Grundbedürfnissen ausgehen: ja.
Trotz deprimierender
Prognose über den Zustand der Menschheit sind Sie optimistisch, was die Zukunft
anbelangt. Warum?
Der Mensch ist das
einzige Lebewesen, das sich und seine Umwelt reflektieren kann. Er wird sich
auf seine Grundbedürfnisse besinnen und seine Umwelt so gestalten, dass sie ihm
entspricht.
Remo H. Largo: Das
passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben
können. S. Fischer, 2017.
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