Im Kanton Solothurn wird am 21. Mai über die
Volksinitiative «Ja zu einer guten Volksschule ohne Lehrplan 21» abgestimmt.
Die Initianten aus SVP-, GLP- und EVP-Kreisen bezeichnen den neuen Lehrplan als
«Bildungsbremse» und «pädagogisches Monstrum». Die Initiative wird von den
meisten Parteien und Verbänden abgelehnt. Diese Seite betont die Bedeutung des
Lehrplans 21 als Beitrag zur Harmonisierung der Volksschule in der
Deutschschweiz. In mehreren Kantonen wurden ähnliche Initiativen abgelehnt.
Zwei bekannte Wirtschaftsexponenten nehmen Stellung.
Pro
Nach dem Durchlesen des Lehrplans 21 stelle ich mir
die Frage, ob wohl alle kantonalen Erziehungsdirektoren, die unisono diesen
Lehrplan befürworten, diesen ganz gelesen und die über 350 Kompetenzen und mehr
als 2300 Teilkompetenzen auch verstanden haben. Zweifellos haben zahlreiche
kreative Menschen ein idealistisches Werk erstellt, das nur so strotzt von
semantischen Leerformeln und pseudo intellektuellem Geplapper, das wohl ein
Durchschnittsschweizer kaum versteht.
Hier nur zwei Beispiele:
Kompetenzziel für 9-12jährige Kinder, also
Primarschüler von der 4. bis 6. Klasse im Bereich «Natur-Mensch-Gesellschaft:
«Die Schülerinnen und Schüler können den Weg von einer familiengerechten
Gesellschaft zu einem Territorialrecht mit rechtsstaatlichen Ansätzen erkennen
(z.B. Eidgenossenschaft des 13./14. Jahrhunderts, Bundesbrief).»
Oder an anderer Stelle, 3. Klasse: «Schülerinnen
und Schüler können Informationen zu ethisch problematischen Situationen
erschliessen und Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation erwägen (z.B.
Krieg, Ausbeutung, Sexismus, Fortschritt).»
Anmerkung: Fortschritt soll also eine ethisch problematische Form wie Krieg, Ausbeutung und Sexismus sein? Ist das nicht absurd?
Beim sorgfältigen Lesen des vorliegenden Lehrplans
stellt sich die Frage, ob dieser dem Wunsch der Abstimmenden aus dem Jahr 2006
wirklich entspricht. Wurden Eckwerte definiert, die den Umzug für die Kinder
von Kanton zu Kanton erleichtern und wurde damit die erwünschte Harmonisierung
erreicht? Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Kann man von Harmonisierung
sprechen, wenn z.B. bei den Frühfremdsprachen die einen Kantone mit Englisch
starten, die anderen aber zuerst mit Französisch. Weiter wurden Jahrgangsziele
abgeschafft.
Neu werden die 11 Schuljahre (inkl. Kindergarten)
in 3 Zyklen eingeteilt. Jeder Zyklus enthält zahlreiche Kompetenzen, welche
sich die Kinder künftig hauptsächlich in Eigenverantwortung und mit
selbstorganisiertem Lernen aneignen sollen. Das heisst jedes Kind soll seinen
Weg wählen können, wie es sich die zahlreichen Kompetenzen aneignen will.
Die Lehrperson soll das Kind dabei vor allem nur
noch «coachen». Wie wollen Lehrpersonen künftig die Schülerinnen und Schüler
beurteilen, wenn jede und jeder an seinen eigenen Kompetenzen arbeitet? Ich
fürchte, dass die Unterschiede nicht nur zwischen den Kantonen mehr abweichen
werden als bisher, sondern von Schüler zu Schüler, von Klasse zu Klasse und von
Gemeinde zu Gemeinde. Dies, weil alle in ihrem individuellen Tempo arbeiten
sollen.
Mit dem Schwerpunkt «selbstorganisiertes Lernen»
sind die gezielte Wissensvermittlung und die saubere Einführung in wichtige
Themen durch die Lehrperson gefährdet. Mehrere Hinweise im Lehrplan lassen
darauf schliessen, dass sich Kinder (auch in der Mathematik) zuerst selber an die
neuen Themen machen müssen, sich danach im Team austauschen und erst danach ist
eine Erklärung der Lehrperson vorgesehen.
Sich selber etwas erarbeiten zu können, bereitet
sicher mehr Freude; aber dieser Prozess ist viel langsamer und angesichts der
ständig zunehmenden Komplexität des Wissens frage ich mich, ob elf Schuljahre
für alles noch ausreichen. Die Schere zwischen den begabten Kindern, die mit
dieser selbstorganisierten Methode umgehen können und dem viel grösseren Anteil
von Kindern, welche mit der Lernphilosophie des Lehrplans grösste Mühe haben werden, wird noch weiter aufgehen.
Selber lernen ist wunderschön. Der Lehrplan 21 ist
aber ein idealistisches, sehr zeitaufwendiges und unausgewogenes Leitbild, das
zweifelsohne aufgrund der kurzen zur Verfügung stehenden Ausbildungszeit zu
einer Verschlechterung der Schulabgänger führen wird. Nur noch ein
anekdotischer Kommentar zum Selbststudium.
Es hat über 2300 Jahre gebraucht bis ein Genie die
Gedanken von Leukipp und Demokrit über den atomaren Aufbau der Materie erklären
und mathematisch formulieren konnte: Albert Einstein. In diesen 2300 Jahren
haben Tausende von hochbegabten Wissenschaftlern im Selbststudium versucht,
diese Theorie zu erklären. Heute lernt ein Physikstudent in kurzer Zeit, dieses
Gedankengebäude verstehen, nur weil es vor ihm jemand verstanden hat.
Ich bin sehr skeptisch der Einführung des Lehrplans
21 gegenüber und werde die Initiative Ja zu einer guten Volksschule ohne
Lehrplan 21 an der kantonalen Abstimmung vom 21. Mai annehmen. Die Gegner des
neuen Lehrplans werden gerne als hinterwäldlerisch bezeichnet. So gesehen bin
ich gerne mal ein Hinterwäldler.
Kontra
Der Vorstand des Industrieverbandes Solothurn und
Umgebung Inveso hat sich an seiner Sitzung vom 14.März mit zwölf zu null
Stimmen für den Lehrplan 21 und somit für die Ablehnung der Volksinitiative
ausgesprochen! Der Lehrplan 21 ist nach Auffassung des Inveso-Vorstandes nicht
mehr und nicht weniger als eine zeitgemässe Weiterentwicklung des derzeit
gültigen Lehrplanes von 1992. Er löst sicher nicht alle Schulprobleme und wird
auch nicht alle Wünsche und Bedürfnisse befriedigen. Aber er ist ein Schritt in
die richtige Richtung.
Er bringt uns eine Erleichterung des Übertrittes
von der Volksschule in die Berufsausbildung, weil wir mit ihm erstmals ein
einheitliches Basiskonzept für die gesamte Deutschschweiz bekommen. Das ist am
Übertritt ins Berufsleben besonders wichtig, weil Grenchner Firmen natürlich
auch Schülerinnen und Schüler aus dem Kanton Bern und Oltner Firmen solche aus
dem Aargau beschäftigen und umgekehrt.
Und ebenso gehen unsere Elektroplaner Zusammen mit
ihren Deutschschweizer Kollegen in Aarau in die Berufsschule. Und natürlich
gilt dieser Zusammenhang für alle andern weiterführenden Schulen ebenso. Es
macht Sinn, einen gemeinsamen Ansatz für die Deutschschweiz zu entwickeln, auch
wenn selbstverständlich jeder Kanton noch ein eigenes «Finish» vornimmt.
Der Lehrplan 21 betont in didaktischer Hinsicht
Kompetenzen. Dieser Begriff löst bei den Gegnern des Lehrplanes 21 Reflexe aus,
die den Untergang des Abendlandes befürchten lassen. Im dualen
Berufsbildungssystem haben wir längst auf das kompetenzorientierte Modell
umgestellt und machen damit seit über 10 Jahren hervorragende Erfahrungen.
Und das macht Sinn, weil wir in Studium und
Berufswelt schliesslich auch nicht mit Fakten, sondern nur mit Kompetenzen
vorwärtskommen. Unter Kompetenzen verstehen wir in der Berufswelt die
Fähigkeit, erlerntes Wissen zielorientiert miteinander zu verknüpfen, anstatt
es nur wiedergeben zu können. Und genau so ist das auch im Lehrplan 21. Welche
Kompetenzen, in welcher Altersstufe zu beherrschen sind, wird im Lehrplan 21
sehr umfassend und für Eltern, Lehrer und Schüler vollkommen transparent und
verständlich dargestellt.
Kompetenzen erlernt man jedoch nicht im
Frontalunterricht, sondern beispielsweise in Projektarbeiten. In ganz jungen Jahren
sprechen wir vom spielerischen Lernen, vom Lernen durch Erfahrung und erachten
das als die vollkommen natürlich Methode des Lernens. Nun wird der
ausschliessliche Frontalunterricht ja Gott sei Dank nicht erst mit dem Lehrplan
21 abgeschafft.
Bereits der aktuell gültige Lehrplan ’92 beschreibt
unter den didaktischen Leitideen genau 10 Unterrichtsformen. Diese reichen von
«Gruppen – und Partnerarbeiten» über «individualisiertes Lernen mit Wochenplan
und Freiwahlarbeit» bis hin zum «entdeckenden und handelnden Lernen». Es heisst
dort: «Die Lehrenden sind in der Wahl der Unterrichtsmethode weitgehend frei.
Die Vielfalt der Ziele, Inhalte und Lerntypen erfordert einen
Methodenpluralismus.»
Der Lehrplan 21 fördert auch die berufliche
Orientierung, indem er hier Mindeststandards definiert. Im Kanton Solothurn ist
davon aber vieles bereits im Rahmen der letzten Sekundarstufenreform umgesetzt
worden. Aus Sicht der Wirtschaft wäre es hier unabhängig vom Lehrplan
wünschenswert, dass auch diejenigen Schüler, die im Sek P-Zug, also auf dem Weg
zur Maturität, eingespurt sind, einen eigentlichen Berufswahlunterricht
erhalten. Denn nicht jeder der intellektuell studieren könnte, will dies auch
wirklich machen. Viele Jugendliche wollen in einer bestimmten Phase etwas
Praktisches tun, bevor sie wieder auf die Schulbank zurückkommen.
Neben der beruflichen Orientierung stärkt der
Lehrplan 21 auch ganz klar die MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften
und Technik. Dies hat weniger mit den Fachinhalten oder der Lektionenzahl als
vielmehr damit zu tun, dass der gesamte Aufbau über alle Altersstufen hier
vollständig überarbeitet und aufeinander abgestimmt wurde. Zudem ist auch das
Fach Informatische Bildung der heutigen Situation angepasst und umfasst neben
der klassischen Informatik auch die Bedeutung und Aufgabe von Medien für das
Individuum und für die Gesellschaft.
Das heisst aber nicht, dass mit unserer Schule
alles in Ordnung ist und es heisst nicht, dass der Lehrplan 21 die bestehenden
Probleme lösen wird. Wir haben 25 Prozent der Kinder, die sich nach 11
Schuljahren einschliesslich Kindergarten nicht für eine dreijährige Lehre
qualifizieren. Und wir haben zu viele Kinder, die mit privater Nachhilfe über
Selektionshürden hinweg trai-niert werden, was unfair ist und in vielen Fällen
weder den Kindern noch den Eltern noch der Schule zum Vorteil gereicht. Es
bleibet also auch nach der Einführung des Lehrplanes 21 noch einiges zu tun.
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