Wenn John
Hattie spricht, hat er oft die Hemdsärmel hochgekrempelt. Das passt zum
Pädagogikprofessor der University of Melbourne. Nach 15 Jahren
wissenschaftlicher Knochenarbeit hat er 2008 ein Buch veröffentlicht, das
Lehrer, Politiker und Forscher gleichermassen in Aufregung versetzt hat. Hatties
Werk «Lernprozesse sichtbar machen» macht ihn zu einem der einflussreichsten
Bildungsexperten. Denn Hattie tat, was vor ihm noch nie jemand versucht hatte:
Er analysierte Studien über insgesamt rund 80 Millionen Schüler. Seine
Resultate sind Zündstoff. Guter Unterricht, sagt Hattie, hänge vor allem vom
Können der Lehrerin oder des Lehrers ab. Was Kinder lernten, bestimme der
Pädagoge. Die Debatten über die äusseren Strukturen von Schule und Unterricht
hält er für überschätzt.
![]() |
Mangelnde Aufstiegschancen sind für viele ein Grund für den Ausstieg aus dem Lehrerberuf, Bild: Rahel Nicole Eisenring |
Die perfekte Lehrerin, NZZaS, 12.3. von Anja Burri
Politiker
sehen dies anders. Die Diskussionen über Schulreformen ebben nicht ab: über den
Lehrplan 21, die Anpassung der Schulstufen, die Anzahl der Fremdsprachen in der
Primarschule oder die schulische Integration von lernschwachen Kindern. Aber um
den Lehrer oder die Lehrerin geht es in diesen emotional geführten Debatten
fast nie. Wahrscheinlich, weil es viel einfacher ist, über Lehrpläne,
Klassengrössen oder andere pädagogische Massnahmen zu reden – diese lassen sich
anpassen. Lehrer hingegen sind Menschen. Es funktioniert nicht, sie alle paar
Jahre in ein neues Schema zu pressen.
«Bildungsreformen
sind nur erfolgreich, wenn sie sich für den Lehrer lohnen», sagt Urs Moser. Als
Leiter des Instituts für Bildungsevaluation der Universität Zürich ist er eine
Art Kontrolleur der Schulen; er ist für die Durchführung der Pisa-Studie in der
Schweiz mitverantwortlich. Es sei wichtig, die Lehrer in die Reformpläne
einzubinden, sagt Moser. Höchste Zeit also, die Lehrerinnen ins Zentrum zu
rücken und die Frage zu stellen: Was ist eigentlich ein richtig guter Lehrer?
John Hattie hat davon eine genaue Vorstellung. Gespräche mit Forschern,
Schulleitern, Verwaltungsvertretern und anderen Fachleuten zeigen: Sechs
Fähigkeiten sind entscheidend.
1.
Regie führen
Ein
guter Lehrer arbeitet wie ein Regisseur. Er plant und dirigiert den Unterricht
so, dass die Hauptdarsteller, also die Schüler, ihre Stärken entfalten können.
Er leitet das Lernen in der Diskussion mit den Schülern an. Mit dieser
Erkenntnis erteilt Forscher Hattie einigen Reformideen eine Abfuhr. Das Konzept
des «offenen Unterrichts» zum Beispiel, bei dem die Schülerinnen und Schüler
selber bestimmen, was sie wann, wo und mit wem lernen, bringt laut Hattie kaum
Vorteile.
Sind
Unterrichtsformen, bei denen jeder Schüler in seinem eigenen Tempo lernt, also
kein Fortschritt? An den Schweizer Schulen haben sich Wochenpläne und
Lernlandschaften etabliert, die das selbständige Lernen fördern sollen. Das sei
nicht per se schlecht, aber es komme aufs Mass an, meinen Experten.
«Lernlandschaften und Wochenpläne entlasten die Lehrer nicht davon, aktiv
Schulstoff zu vermitteln», sagt Professor Urs Moser. Barbara Höhtker ist
skeptisch. Sie bildet an der Pädagogischen Hochschule Zürich Primarlehrer für
das Fach Mathematik aus. Höhtker trifft bei Schulbesuchen oft Lernlandschaften
oder Wochenpläne an. «Die Organisation des Unterrichts in solche Planarbeit
führt zu einem Abarbeiten von Arbeitsblättern und zu einer Vereinzelung des
Lernens», sagt sie. Die Rolle der Pädagogen, die Kinder zu unterstützen und
beim Lernen zu begleiten, komme dabei zu kurz. «Ein guter Lehrer macht
spannenden, motivierenden und herausfordernden Unterricht und unterstützt die
Kinder dabei, von- und miteinander zu lernen», sagt Höhtker.
2.
Beziehung eingehen
Severus
Snape, der Lehrer des Zauberlehrlings Harry Potter, ist ein Meister seines
Fachs: Er unterrichtet die Herstellung von Zaubertränken. Trotzdem ist er
verhasst, weil er bestimmte Schüler bevorzugt und andere schikaniert. Er würde
in John Hatties Bewertung denkbar schlecht abschneiden. Die Beziehung zwischen
dem Lehrer und dem Schüler gehört laut seiner Auswertung zu den wichtigsten
Faktoren für erfolgreiches Lernen. Wie gelingt das? Urs Gfeller ist Psychologe
und leitet die Lehrerberatung an der Pädagogischen Hochschule Bern. Er benutzt
das Bild des Goldgräbers: «Es geht darum, in jedem Kind etwas Goldenes zu
sehen.» Sobald ein Kind merke, dass die Lehrperson auch seine Stärken kenne,
könne es besser mit Kritik oder einer schlechten Note umgehen.
Je
mehr Lehrpersonen eine Klasse unterrichten, desto anspruchsvoller wird es, eine
starke Beziehung zu jedem Kind aufzubauen. Doch in der Schweiz sind
Klassenzimmer, in denen nur ein Lehrer steht, zur Ausnahme geworden. Im Kanton
Zürich stellten die Behörden fest, dass die grosse Anzahl Lehrer zu einer
Belastung für Schüler und Lehrer geworden ist. Die Zunahme der Lehrpersonen pro
Schulzimmer hat nicht nur mit der verbreiteten Teilzeitarbeit zu tun, sondern
auch mit der Integration von lernschwachen Schülern, die von Heilpädagogen
unterstützt werden. Seit 2013 läuft in Zürich ein Versuch, die Zahl der
Lehrkräfte pro Klasse zu reduzieren. In ausgewählten Schulhäusern unterrichten
derzeit höchstens zwei Lehrer pro Klasse. Bis Ende 2017 soll das Resultat
vorliegen.
3.
Den Kindern zuhören
Das
Bild des begnadeten Redners vor der Wandtafel, der seine Schüler in den Bann
zieht, ist überholt. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus John Hatties Arbeit
ist: Ein guter Lehrer hält keine Monologe, er hört den Schülern vor allem zu.
Hatties Ideallehrer ist einer, der seine Selbstzweifel pflegt. Dieser testet
nicht nur regelmässig den Lernstand der Schüler mit kurzen Tests, er stellt
sich selber der Bewertung der Kinder. Weil er weiss: Nur so kann er besser
werden. «Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner
Schüler», schreibt Hattie. Lehrerausbildnerin Barbara Höhtker sagt: «Nur wer
weiss, was in den Köpfen der Kinder passiert, kann sicher sein, dass die Kinder
etwas mitnehmen aus dem Unterricht.» Sie empfiehlt angehenden Pädagogen,
regelmässig einen Blick auf die Arbeiten der Kinder zu werfen, im Unterricht zu
beobachten und mit den Kindern ins Gespräch zu kommen. Nicht primär, um Fehler
der Schüler zu korrigieren, sondern um zu sehen, ob und wie diese lernten.
4.
Leidenschaft zeigen
John
Hattie fordert von den Lehrpersonen Leidenschaft. Weder die Berufserfahrung
noch der Arbeitsaufwand machten Lehrerinnen und Lehrer zu wahren Experten, sagt
er. Es seien die leidenschaftlichen Menschen, die mit ihrer Begeisterung für
das Lernen den grössten Einfluss auf die Schüler ausübten. Das allein reicht
aber noch nicht. «Man muss die Kinder gern haben», sagt Lehrerberater Urs
Gfeller. Nur wer an der intensiven Auseinandersetzung mit Kindern und
Jugendlichen interessiert sei, halte auch schwierige Situationen aus. Gfellers
Beratungsteam betreibt ein Online-Forum für Lehrpersonen. Dieses zeigt
eindrücklich, wie anstrengend der Beruf sein kann.
Vor
einigen Monaten wandte sich eine 27-jährige Oberstufenlehrerin an das
Beratungsteam. Sie habe fünf Schüler, die sie kaum in den Griff bekomme, das
Arbeitsklima leide. «Das Ganze zehrt extrem an meinen Kräften und Nerven»,
schrieb sie. Wer die Kinder nicht gern hat, hält solche Situationen kaum aus.
Es gibt tatsächlich viele Lehrkräfte, die ihren Beruf aufgeben. Gemäss dem
Bundesamt für Statistik steigen rund 20 Prozent der Lehrer spätestens vier
Jahre nach dem Berufseinstieg wieder aus. «Es gibt viele Lehrerinnen und
Lehrer, die den falschen Beruf gewählt haben», sagt Urs Gfeller. Ihnen fehle
die pädagogische Überzeugung. Ein Motiv für den Ausstieg aus dem Beruf sind
beispielsweise die mangelnden Aufstiegschancen. «Vorwärtskommen als Lehrer
bedeutet eben nicht, die Karriereleiter hochzuklettern», sagt Gfeller. Eine
gute Lehrperson sei nicht primär an solchen Möglichkeiten, sondern an einer
«inneren Karriere» interessiert: Er habe eine Passion für Zwischenmenschliches.
5.
Die Eltern verstehen
Im
Umgang mit den Eltern brauchen gute Lehrer eine klare Linie. Gefragt ist eine
Person, die informiert, aber auch Grenzen setzt. Viele Lehrkräfte
kommunizierten zu wenig klar mit den Eltern, sagt Urs Gfeller. Diese merkten
sofort, wenn ein Lehrer unsicher sei, und zweifelten dessen Fähigkeiten an.
Doch Vertrauen sei zentral. Um dieses zu stärken, empfiehlt Gfeller Lehrern,
den Eltern das eigene Berufsverständnis zu erklären: «Dies verstehe ich unter
lehren und lernen. Von diesem Menschenbild gehe ich aus. So definiere ich
unsere Zusammenarbeit. So gehen wir in Konfliktsituationen vor.»
Dass
Vertrauen zwischen Eltern und Lehrern keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen
auch Beispiele von ratsuchenden Pädagogen: «Eine Mutter findet, ich behandle
ihren Sohn unfair», schreibt eine Lehrerin im Online-Beratungsforum der
Pädagogischen Hochschule Bern. Die Frau behaupte, ihr Sohn sei jedes Mal
niedergeschlagen nach dem Unterricht. Nun habe sie ihren Sohn sogar damit
beauftragt, die Unterrichtsstunde mit dem Smartphone aufzunehmen. Eine andere
Lehrerin schreibt: «Verschiedene Eltern mischen sich immer wieder in meinen
Arbeitsbereich als Klassenlehrperson ein, indem sie meinen Erziehungs- oder
Unterrichtsstil infrage stellen.» Auch sie sucht Rat. Und sie ist kein
Einzelfall. Aus Sicht vieler Eltern reicht die Arbeit der Lehrer oft nicht aus.
Bereits vor fünf Jahren besuchten laut einem Bericht der Schweizerischen
Koordinationsstelle für Bildungsforschung mehr als 34 Prozent der Acht- und
Neuntklässler bezahlten Nachhilfeunterricht. Sind die Lehrer also schlechter
geworden? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. «Die Eltern wollen ihrem Kind die
bestmögliche Ausbildung ermöglichen und haben Angst, das Kind könnte
scheitern», sagt Urs Gfeller. Schulleiter, Lehrer und Behörden bestätigen: Die
Ansprüche der Eltern sind heute enorm.
6.
Digitale Balance finden
Aus
John Hatties Sicht brauchen gute Lehrer keine digitalen Hilfsmittel wie
Online-Lernprogramme. In seiner Studie erkennt er keinen besonderen Nutzen im
Web-basierten Lehren und Lernen. Doch die Digitalisierung lässt sich von
wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aufhalten. Sie hat längst in den
Schulzimmern Einzug gehalten. Viele Schulen führen Tablets oder Laptops als
Arbeitsgeräte für ihre Schüler ein. Gerade hat die Stadt Bern bekanntgegeben,
alle Schüler mit solchen Geräten ausstatten zu wollen.
Diese
Entwicklung beschäftigt auch Heinz Rhyn. Als Rektor der Pädagogischen
Hochschule Zürich ist er für die Ausbildung der künftigen Lehrer zuständig.
«Die Digitalisierung verändert den Lehrberuf», sagt er. Lernen sei nicht mehr
nur in der Schule möglich. Lern-Apps und Programme sind bereits vielerorts Teil
des Unterrichts. Rhyns Hochschule steht derzeit in Kontakt mit
Softwareentwicklern, um sich an der Erarbeitung von Lernprogrammen zu
beteiligen. Für den Rektor ist dies eine Gratwanderung: Er will den Anschluss
an die technische Entwicklung nicht verpassen. «Doch das Lernen darf nicht
allein von der Technik bestimmt werden.» Wie kann der gute Lehrer also die
neuste Technik nutzen und gleichzeitig seinen Platz im Klassenzimmer behalten?
Christof
Tschudi ist überzeugt, diese Balance gefunden zu haben. Er unterrichtet an der
Projektschule Arth-Goldau (SZ). In seinem Deutschunterricht tippen die
Sechstklässler auf Smartphones und Tablets Beiträge für den Klassenblog «Ein
Tag im Leben von . . .». Der 36-jährige Lehrer Tschudi geht im Zimmer umher. Er
weiss genau, welche Kinder nicht allein vorwärtskommen, und spricht sie an.
Schülern, die ihre Geschichte bereits geschrieben haben, gibt er neue Aufträge:
Sie lösen Mathe-Aufgaben – auf ihren Geräten. Die Projektschule Arth-Goldau ist
ein Labor des digitalisierten Unterrichts. Tablets und Smartphones sind hier so
normale Lernhilfsmittel wie Bleistift oder Gummi.
Ist
es mit einem solchen Unterricht überhaupt möglich, ein guter Lehrer zu sein, zu
den Schülern eine Beziehung aufzubauen, gemeinsam mit ihnen zu lernen und ihnen
zuzuhören, wie es John Hattie postuliert? Tschudi sagt: «Dank dem Einsatz der
Computer habe ich mehr Zeit, auf die einzelnen Kinder einzugehen.» Der Computer
ist allerdings auch in Tschudis Schulzimmer kein Lehrerersatz: Die Hausaufgaben
kontrolliert er selber. Und Prüfungen schreiben die Kinder nach wie vor auf
Papier. Bei der Frage, ob er eines Tages durch einen Computer ersetzt werden
könnte, schmunzelt Tschudi: «Sobald ich nicht präsent bin im Klassenzimmer,
lässt die Konzentration der Schüler nach.» John Hattie dürfte sich durch diese
Aussage bestätigt fühlen. Es kommt eben vor allem auf den Lehrer an.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen