An den Mittelschulen ist Prüfungszeit. Für viele Jugendliche wird sie
frustrierend enden. Ihnen stehen heute gleichwertige Wege zum beruflichen
Erfolg offen. Die Annahme, dass allein das Gymnasium grenzenlose Möglichkeiten
bietet, ist falsch.
Das Gymi als sicherer Wert, Bild: Christoph Ruckstuhl
Kommen die Richtigen ins Gymi? NZZ, 1.3. von Walter Bernet
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In einigen tausend Zürcher Familien dürfte das kommende Wochenende
stressig werden. Am Montag und Dienstag danach finden die schriftlichen
Aufnahmeprüfungen für die Gymnasien statt. Die angemeldeten Sprösslinge und
ihre Eltern stehen schon länger unter Hochspannung. Auch wenn die Prüfung für
manche unter ihnen Züge einer Lotterie trägt, setzt der Erfolg Vorbereitung
voraus. Wer es sich leisten kann, greift auf das Angebot teurer Schulen zurück.
Jetzt, kurz vor dem Ernstfall, sollten die Selbsteinschätzungen eigentlich
einigermassen realistisch sein. Erfahrungsgemäss fällt rund die Hälfte der
Prüflinge durch.
Die Gymi-Prüfung ist das Nadelöhr, durch das der Weg zur höheren Bildung
führt. Nicht alle, die möchten, haben die gleiche Chance, es zu passieren. Je
nach Kanton, Wohnregion, sozialem Status der Eltern schafft es ein grösserer
oder eben ein kleinerer Teil eines Schülerjahrgangs. Sind es die Richtigen?
Taugt das Selektionsverfahren, oder verstärkt es ohnehin bestehende
Ungerechtigkeiten? Jahr für Jahr brechen neue Debatten darüber aus. Warum
eigentlich? Noch nie war die Durchlässigkeit des Bildungssystems so gross wie
heute. Ein Studium ist auch dann noch möglich, wenn die Gymi-Prüfung vergeigt
wird. Und es gibt attraktive Alternativen zur universitären Bildung: Die
Berufsbildung ist längst keine Sackgasse mehr. Die Erfolge der Fachhochschulen
und ihrer Absolventen sprechen Bände.
Das Gymi als sicherer Wert
Trotzdem wollen am Zürichberg oder an den Gestaden des Zürichsees alle
ins Gymnasium. «Bildungspanik» steckt für die Erziehungswissenschafterin
Margrit Stamm dahinter: Das Gymnasium wird von vielen gut qualifizierten und
finanziell bessergestellten Eltern als Garant dafür angesehen, dass die Kinder
mindestens den gleichen Status wie sie erreichen. Für die letzten Jahrzehnte
hatte das durchaus eine gewisse Geltung. Die Zukunft ist angesichts des
globalen Wettbewerbs offener, das ist auch vielen Eltern bewusst. Umso mehr
sehen sie in der gymnasialen Bildung einen sicheren Wert, der zwar nicht
automatisch zu materiellem Erfolg führt, aber eine solide Grundlage darstellt,
um ungewissen künftigen Ansprüchen zu begegnen. Viele ausländische Eltern
kennen gar keinen andern Weg.
Die jährliche Hysterie um den Zugang zum Gymnasium ist letztlich
Ausdruck einer in der Gesellschaft verbreiteten Unsicherheit über die
Herausforderungen der Zukunft. Gekoppelt ist sie mit Verlustängsten des
Mittelstandes. Ist das die richtige Motivation, um die Kinder ins Gymnasium zu
schicken? Sagen wir es so: Ganz falsch ist sie nicht. Im Wettbewerb der
Bildungseinrichtungen sind die Gymnasien nach wie vor ziemlich gut aufgestellt.
Die Mittelschule verspricht etwa: Englisch inklusive Shakespeare, Deutsch mit
Selbstreflexion, Mathematik oder Musik mit Gelegenheit zur selbständigen
Schaffung einer Maturarbeit, Geschichte als Vergewisserung über den eigenen
Standort in Kultur und Zeit.
Explizites Ziel ist die Heranbildung (selbst)kritischer Geister, die
fachlich in der Lage sind, sich auf Hochschulniveau selbständig in alle
möglichen Fachgebiete einzuarbeiten. Ob es in genügendem Masse erreicht wird?
Zweifel sind angesichts der allgegenwärtigen Kritik mindestens erlaubt.
Hochschulen bemäkeln die Hochschulreife der Studienanfänger, ihre Mathematik-
und Deutschkenntnisse, Pädagogen die Sprachlastigkeit, welche die Mädchen
bevorzuge, Politiker das Heranzüchten eines Heers akademisch gebildeter
Arbeitsloser, namentlich im Phil.-I-Bereich, die Wirtschaft die
Vernachlässigung von Technik und Naturwissenschaften.
Die Debatten über das Verfahren der Aufnahme ins Gymnasium treffen den
Kern des Problems allerdings nicht. Es liegt nicht an der Gymi-Prüfung, dass
mehr Kinder von der Goldküste als aus Seebach ins Gymnasium kommen. Sie trägt
auch nicht die Hauptschuld dafür, dass die Mädchen die Knaben in den
gymnasialen Klassenzimmern zahlenmässig überholt haben. Das gilt ohnehin nur
für das musische und die sprachlichen Profile. Die Informatikmittelschule zählt
zu über 90 Prozent männliche Schüler. Das kann nicht an der Selektionsmethode
liegen – auch wenn die Zentrale Aufnahmeprüfung im Kanton Zürich zurzeit zu
Recht überarbeitet wird. Ob die Richtigen ins Gymnasium kommen, entscheidet
sich nur sehr begrenzt am kommenden Montag und Dienstag. Entscheidende Weichen
werden früher gestellt. Die Gewährleistung gerechter Chancen für alle ist eine
umfassendere Aufgabe, die nicht von den Schulen allein geleistet werden kann.
Und der Anspruch, dass jeder und jede die Möglichkeit haben soll, seine oder
ihre Talente zu entfalten, betrifft nicht nur das Gymnasium.
Die Universität als Ziel
Ob Prüfungen überhaupt sinnvoll sind und ob die letztlich politisch
vorgegebenen Quoten eine angemessene Selektion zulassen, ist schon eher
diskutabel. Letztere sorgen auch dafür, dass die Kosten der gymnasialen Bildung
berechenbar bleiben, und stehen schon deshalb unter kritischer Beobachtung. Die
Alternative zu den heutigen Prüfungen mit anpassbaren Notenskalen wären
standardisierte Kompetenztests. Wer sie erfüllt, bekommt automatisch einen
Platz im Gymi. Angesichts des gegenwärtigen Spardrucks kommen solche Lösungen
aber kaum in die Kränze – zumal sie ihre eigenen Schwachstellen haben. Sie sind
auch nicht wünschbar. Zu gross wäre die Gefahr, dass die Gymnasien zu
Sammelbecken einigermassen begabter, aber nicht unbedingt motivierter und
leistungsbereiter Schülerinnen und Schüler würden.
Die Antwort auf die Frage, wer ins Gymnasium gehört und wer nicht, muss
auf drei Ebenen gefunden werden. Auf einer ersten Ebene geht es um die
Erwartungen von Politik und Gesellschaft an die Gymnasien. Zu den unumkehrbaren
Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehört, dass die Zahl der Arbeitsplätze,
die einen Hochschul- oder einen anderen tertiären Abschluss voraussetzen,
wächst – in Zürich beträgt sie bereits rund 60 Prozent. Es kann nicht Aufgabe
der Gymnasien sein, den ganzen Bedarf abzudecken. Ihre primäre Rolle ist die
Vorbereitung auf das Studium an einer Universität. Daran ist festzuhalten, und
danach sind die Selektionskriterien auszurichten. Gestärkt werden müssen
deshalb andere Wege zum tertiären Anschluss: Fach-, Handels- und
Informatikmittelschulen, vor allem aber die Berufsmaturität. Überdies hat die
Gesellschaft ein Interesse daran, dass sich ihre Eliten ständig erneuern. Die
Förderung brachliegender Talente gehört deshalb – auch auf der gymnasialen
Stufe – zu ihren Daueraufgaben.
Auf einer zweiten Ebene sind die Gymnasien selber angesprochen. Mit der
Frage der Hochschulreife und der für ein Studium notwendigen fachlichen und
überfachlichen Kompetenzen haben sie sich in den letzten Jahren stark
auseinandergesetzt. Ungelöst ist die schwierige Passung in den Kurzgymnasien
zwischen ehemaligen Untergymnasiasten und ehemaligen Sekundarschülern. Zum
Ausdruck kommt das in den hohen Ausfallquoten nach der Probezeit. Trifft es
bestimmte Gruppen besonders stark? Darüber ist noch zu wenig bekannt. Nicht
allein lösen können die Gymnasien ihre geringe organisatorische Flexibilität,
deren Ursache in der Vielfalt der Profile und der Wahlmöglichkeiten liegt.
Diese sorgen auch dafür, dass es beim eigentlich unerwünschten Nebeneinander
der Fachbereiche bleibt.
Auf einer dritten Ebene schliesslich müssen sich die angehenden
Gymnasiasten mit ihren Eltern und ihren Lehrern selber Rechenschaft über ihre
Eignung geben. Reicht das intellektuelle Rüstzeug und die Motivation? Will ich
nur ins Gymnasium, weil ich noch keinen Berufsentscheid fällen kann? Ist meine
Hoffnung, dass ein Gymnasium mehr Möglichkeiten eröffnet als eine Berufslehre,
heute noch realistisch? Ist mir klar, dass es die Aufgabe des Gymnasiums ist,
mich an Leistungsgrenzen zu führen? Kann ich damit fertigwerden? Ehrliche
Antworten senken den Stress – nicht nur am Prüfungstag.
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