1. März 2017

Verlustängste des Mittelstandes

An den Mittelschulen ist Prüfungszeit. Für viele Jugendliche wird sie frustrierend enden. Ihnen stehen heute gleichwertige Wege zum beruflichen Erfolg offen. Die Annahme, dass allein das Gymnasium grenzenlose Möglichkeiten bietet, ist falsch. 
Das Gymi als sicherer Wert, Bild: Christoph Ruckstuhl
Kommen die Richtigen ins Gymi? NZZ, 1.3. von Walter Bernet


In einigen tausend Zürcher Familien dürfte das kommende Wochenende stressig werden. Am Montag und Dienstag danach finden die schriftlichen Aufnahmeprüfungen für die Gymnasien statt. Die angemeldeten Sprösslinge und ihre Eltern stehen schon länger unter Hochspannung. Auch wenn die Prüfung für manche unter ihnen Züge einer Lotterie trägt, setzt der Erfolg Vorbereitung voraus. Wer es sich leisten kann, greift auf das Angebot teurer Schulen zurück. Jetzt, kurz vor dem Ernstfall, sollten die Selbsteinschätzungen eigentlich einigermassen realistisch sein. Erfahrungsgemäss fällt rund die Hälfte der Prüflinge durch.
Die Gymi-Prüfung ist das Nadelöhr, durch das der Weg zur höheren Bildung führt. Nicht alle, die möchten, haben die gleiche Chance, es zu passieren. Je nach Kanton, Wohnregion, sozialem Status der Eltern schafft es ein grösserer oder eben ein kleinerer Teil eines Schülerjahrgangs. Sind es die Richtigen? Taugt das Selektionsverfahren, oder verstärkt es ohnehin bestehende Ungerechtigkeiten? Jahr für Jahr brechen neue Debatten darüber aus. Warum eigentlich? Noch nie war die Durchlässigkeit des Bildungssystems so gross wie heute. Ein Studium ist auch dann noch möglich, wenn die Gymi-Prüfung vergeigt wird. Und es gibt attraktive Alternativen zur universitären Bildung: Die Berufsbildung ist längst keine Sackgasse mehr. Die Erfolge der Fachhochschulen und ihrer Absolventen sprechen Bände.

Das Gymi als sicherer Wert
Trotzdem wollen am Zürichberg oder an den Gestaden des Zürichsees alle ins Gymnasium. «Bildungspanik» steckt für die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm dahinter: Das Gymnasium wird von vielen gut qualifizierten und finanziell bessergestellten Eltern als Garant dafür angesehen, dass die Kinder mindestens den gleichen Status wie sie erreichen. Für die letzten Jahrzehnte hatte das durchaus eine gewisse Geltung. Die Zukunft ist angesichts des globalen Wettbewerbs offener, das ist auch vielen Eltern bewusst. Umso mehr sehen sie in der gymnasialen Bildung einen sicheren Wert, der zwar nicht automatisch zu materiellem Erfolg führt, aber eine solide Grundlage darstellt, um ungewissen künftigen Ansprüchen zu begegnen. Viele ausländische Eltern kennen gar keinen andern Weg.
Die jährliche Hysterie um den Zugang zum Gymnasium ist letztlich Ausdruck einer in der Gesellschaft verbreiteten Unsicherheit über die Herausforderungen der Zukunft. Gekoppelt ist sie mit Verlustängsten des Mittelstandes. Ist das die richtige Motivation, um die Kinder ins Gymnasium zu schicken? Sagen wir es so: Ganz falsch ist sie nicht. Im Wettbewerb der Bildungseinrichtungen sind die Gymnasien nach wie vor ziemlich gut aufgestellt. Die Mittelschule verspricht etwa: Englisch inklusive Shakespeare, Deutsch mit Selbstreflexion, Mathematik oder Musik mit Gelegenheit zur selbständigen Schaffung einer Maturarbeit, Geschichte als Vergewisserung über den eigenen Standort in Kultur und Zeit.

Explizites Ziel ist die Heranbildung (selbst)kritischer Geister, die fachlich in der Lage sind, sich auf Hochschulniveau selbständig in alle möglichen Fachgebiete einzuarbeiten. Ob es in genügendem Masse erreicht wird? Zweifel sind angesichts der allgegenwärtigen Kritik mindestens erlaubt. Hochschulen bemäkeln die Hochschulreife der Studienanfänger, ihre Mathematik- und Deutschkenntnisse, Pädagogen die Sprachlastigkeit, welche die Mädchen bevorzuge, Politiker das Heranzüchten eines Heers akademisch gebildeter Arbeitsloser, namentlich im Phil.-I-Bereich, die Wirtschaft die Vernachlässigung von Technik und Naturwissenschaften.

Die Debatten über das Verfahren der Aufnahme ins Gymnasium treffen den Kern des Problems allerdings nicht. Es liegt nicht an der Gymi-Prüfung, dass mehr Kinder von der Goldküste als aus Seebach ins Gymnasium kommen. Sie trägt auch nicht die Hauptschuld dafür, dass die Mädchen die Knaben in den gymnasialen Klassenzimmern zahlenmässig überholt haben. Das gilt ohnehin nur für das musische und die sprachlichen Profile. Die Informatikmittelschule zählt zu über 90 Prozent männliche Schüler. Das kann nicht an der Selektionsmethode liegen – auch wenn die Zentrale Aufnahmeprüfung im Kanton Zürich zurzeit zu Recht überarbeitet wird. Ob die Richtigen ins Gymnasium kommen, entscheidet sich nur sehr begrenzt am kommenden Montag und Dienstag. Entscheidende Weichen werden früher gestellt. Die Gewährleistung gerechter Chancen für alle ist eine umfassendere Aufgabe, die nicht von den Schulen allein geleistet werden kann. Und der Anspruch, dass jeder und jede die Möglichkeit haben soll, seine oder ihre Talente zu entfalten, betrifft nicht nur das Gymnasium.

Die Universität als Ziel
Ob Prüfungen überhaupt sinnvoll sind und ob die letztlich politisch vorgegebenen Quoten eine angemessene Selektion zulassen, ist schon eher diskutabel. Letztere sorgen auch dafür, dass die Kosten der gymnasialen Bildung berechenbar bleiben, und stehen schon deshalb unter kritischer Beobachtung. Die Alternative zu den heutigen Prüfungen mit anpassbaren Notenskalen wären standardisierte Kompetenztests. Wer sie erfüllt, bekommt automatisch einen Platz im Gymi. Angesichts des gegenwärtigen Spardrucks kommen solche Lösungen aber kaum in die Kränze – zumal sie ihre eigenen Schwachstellen haben. Sie sind auch nicht wünschbar. Zu gross wäre die Gefahr, dass die Gymnasien zu Sammelbecken einigermassen begabter, aber nicht unbedingt motivierter und leistungsbereiter Schülerinnen und Schüler würden.

Die Antwort auf die Frage, wer ins Gymnasium gehört und wer nicht, muss auf drei Ebenen gefunden werden. Auf einer ersten Ebene geht es um die Erwartungen von Politik und Gesellschaft an die Gymnasien. Zu den unumkehrbaren Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehört, dass die Zahl der Arbeitsplätze, die einen Hochschul- oder einen anderen tertiären Abschluss voraussetzen, wächst – in Zürich beträgt sie bereits rund 60 Prozent. Es kann nicht Aufgabe der Gymnasien sein, den ganzen Bedarf abzudecken. Ihre primäre Rolle ist die Vorbereitung auf das Studium an einer Universität. Daran ist festzuhalten, und danach sind die Selektionskriterien auszurichten. Gestärkt werden müssen deshalb andere Wege zum tertiären Anschluss: Fach-, Handels- und Informatikmittelschulen, vor allem aber die Berufsmaturität. Überdies hat die Gesellschaft ein Interesse daran, dass sich ihre Eliten ständig erneuern. Die Förderung brachliegender Talente gehört deshalb – auch auf der gymnasialen Stufe – zu ihren Daueraufgaben.
Auf einer zweiten Ebene sind die Gymnasien selber angesprochen. Mit der Frage der Hochschulreife und der für ein Studium notwendigen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen haben sie sich in den letzten Jahren stark auseinandergesetzt. Ungelöst ist die schwierige Passung in den Kurzgymnasien zwischen ehemaligen Untergymnasiasten und ehemaligen Sekundarschülern. Zum Ausdruck kommt das in den hohen Ausfallquoten nach der Probezeit. Trifft es bestimmte Gruppen besonders stark? Darüber ist noch zu wenig bekannt. Nicht allein lösen können die Gymnasien ihre geringe organisatorische Flexibilität, deren Ursache in der Vielfalt der Profile und der Wahlmöglichkeiten liegt. Diese sorgen auch dafür, dass es beim eigentlich unerwünschten Nebeneinander der Fachbereiche bleibt.

Auf einer dritten Ebene schliesslich müssen sich die angehenden Gymnasiasten mit ihren Eltern und ihren Lehrern selber Rechenschaft über ihre Eignung geben. Reicht das intellektuelle Rüstzeug und die Motivation? Will ich nur ins Gymnasium, weil ich noch keinen Berufsentscheid fällen kann? Ist meine Hoffnung, dass ein Gymnasium mehr Möglichkeiten eröffnet als eine Berufslehre, heute noch realistisch? Ist mir klar, dass es die Aufgabe des Gymnasiums ist, mich an Leistungsgrenzen zu führen? Kann ich damit fertigwerden? Ehrliche Antworten senken den Stress – nicht nur am Prüfungstag.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen