Schweizer Schüler können nicht mehr richtig
Deutsch. Sie haben Mühe mit der Rechtschreibung und lesen nicht gut genug.
Woran liegt das? Was ist zu tun?
Man sprickt deutsh, Weltwoche, 16.3. von Daniela Niederberger
Wie es
ums Deutsch der Schweizer Schüler steht, weiss ein Redaktionsleiter aus der
Ostschweiz aus eigener Erfahrung. Er stellt regelmässig Praktikanten ein und
sagt: «Die Rechtschreibung ist bei einer Mehrheit absolut ungenügend. Und es
ist reiner Zufall, wie sie Kommas setzen.» Fallfehler kämen häufig vor, «und
den Genitiv kennt kein Mensch mehr». Er glaubt auch, dass die Schüler im Denken
und in der Logik nicht genügend ausgebildet würden. Viele der jungen Leute,
auch solche mit Matura, hätten Mühe, in Zusammenhängen zu denken.
Dass es
beim Lesen hapert, weiss man seit den Pisa-Studien. Mängel gebe es auch bei der
Rechtschreibung, so eine Studie der Universität Freiburg. 1650 Primarschüler
mussten den deutschen Rechtschreibetest «Hamburger Schreibprobe» machen. Es
zeigte sich, dass die Schweizer Schüler signifikant schlechter in der
Rechtschreibung sind als Schüler in Deutschland und Österreich. Professor Erich
Hartmann, der die Studie leitete, sagte gegenüber der Aargauer Zeitung: «Bei
Wörtern mit orthografischen Besonderheiten wie Dehnungen, Verdoppelungen oder
Tezett schnitten die Schweizer Kinder schon ab der zweiten Klasse schwächer ab
als die deutschen.» Besonders erschreckend: 30 bis 45 Prozent der
Schüler in der vierten bis sechsten Klasse schrieben noch stark lautgetreu
statt orthografisch korrekt.
Systematische
Vermittlung fehlt
Jetzt
kann man einwenden, dass doch nicht alle Schüler Journalist werden wollten.
Aber manch einer vielleicht Polizist. Doch die Polizeischulen haben Mühe,
genügend Anwärter zu finden, weil viele die Deutschprüfung beim Eignungstest
nicht bestehen.
Was sind
die Ursachen dafür? Die wichtigste: Die Schule verlangt weniger als früher.
Diktate etwa sind verpönt. «Sie gelten quasi als pädagogische Sünde», sagt eine
Primarlehrerin aus dem Kanton Zürich, die seit dreissig Jahren unterrichtet.
«Wenn einer noch Diktate macht, entschuldigt er sich fast.» Die Schule wolle
keinen «Drill» mehr ausüben und gehe in die falsche Richtung. «Man warf
bewährte Dinge über Bord, auch das Auswendiglernen.» Ihre Schülerinnen und
Schüler würden jedoch immer noch Gedichte und Texte auswendig lernen. «Sie
verinnerlichen dabei Satzstrukturen und Ausdrucksweisen. Sie machen es gern»,
sagt die Lehrerin.
Urs
Kalberer ist Sekundarlehrer, ebenfalls seit rund dreissig Jahren. Er sagt: «Es
gibt immer mehr Lehrmittel, in denen nicht so viel verlangt wird. Es geht nicht
mehr darum, Texte zu schreiben, sondern es geht in Richtung Lückentext.» Man
wolle den Schülern möglichst viele Hindernisse aus dem Weg räumen. Besonders
den sogenannt bildungsfernen Kindern. Beim Wörtereinfüllen kommen auch Afrim
und Amina mit. Die Lehrmittel sind heute darauf ausgerichtet, Kreativität und
Motivation zu fördern. Die Primarlehrerin sagt: «Wenn ich die Sprachlehrbücher
von heute mit jenen von vor dreissig Jahren vergleiche, fällt auf, dass sehr
viele Fantasy-Themen darin vorkommen und weit weniger Sachthemen.» Die Schüler
sollen etwa zu Monstern und Fabelwesen Fantasiewörter entwickeln. «Das nimmt
viel Zeit weg. Die Zeit für die systematische Vermittlung von Grammatik und
Rechtschreibung nimmt stark ab.»
Dabei
wären doch auch Sachthemen wichtig für den Wortschatz und die Begriffsbildung.
«Man kann im Dialog Themen erarbeiten, man fragt, begründet, vermutet, erklärt
und lernt vielfältige Ausdrucksweisen.»
Um die
zarte Pflanze Motivation nicht kaputtzumachen, wird in der Primarschule erst
spät mit dem Korrigieren von Fehlern der Schüler angefangen, nach dem Motto:
«Hauptsache, sie schreiben gern.» «Dabei wollen die Kinder richtig schreiben»,
sagt die Primarlehrerin. Bei Zweitklässlern, die mit dem Schreiben beginnen,
korrigiert sie noch nicht in die Texte hinein, weil zu viel korrigiert werden
müsste. Sie schreibt den Text korrekt darunter, «damit sie das richtige Bild
davon haben». In der dritten Klasse korrigiert sie dann. Auch um den Kindern
kein falsches Selbstbild zu vermitteln. Ende der dritten Klasse sollen ihre
Schüler fehlerfrei abschreiben können.
En vogue
ist derzeit das Deutschlehrbuch «Die Sprachstarken» vom Klett-Verlag. Die
Primarlehrerin besuchte einen Lehrer-Weiterbildungskurs zum Thema
Rechtschreibung, in dem eine Verlagsvertreterin als Dozentin auftrat. Diese
projizierte zum Einstieg einen Elternbrief an die Wand. Die Eltern machten sich
Sorgen, dass ihr Kind die Rechtschreibung mit dem Lehrmittel nicht lerne. Die
Referentin fragte in die Runde: «Händ Si au so schwierige Eltern?» Damit war
die Denkrichtung vorgegeben. Die Primarlehrerin fand es aber nicht in Ordnung,
dass Eltern, die sich darum sorgen, blöd hingestellt würden. Sie wehrte sich.
Die Verlagsfrau entgegnete, dass die Schüler in neun Schuljahren jedes
Rechtschreibproblem kennenlernen würden. Nur: Einmal gehört zu haben, dass man
Referat mit «f» und nicht mit «v» schreibt, heisst ja nicht, dass man’s auch
weiss.
Ein
weiterer Grund für das sinkende Deutschniveau ist der frühe
Fremdsprachenunterricht. Fürs Frühfranzösisch und Frühenglisch gehen in der
Primarstufe drei bis fünf Deutschlektionen flöten.
Fragwürdiges
«Lesen durch Schreiben»
Hinzu
kommen fragwürdige Methoden, wie den Kleinsten das Schreiben beigebracht wird.
Etwa durch Lautieren. Statt erst Buchstaben zu lernen, um daraus Wörter zu
bilden, zerlegt man die Wörter in Laute. Die Methode heisst «Lesen durch
Schreiben». Auf Lehrer-online.de wird gerühmt: «Jedes Kind lernt Schreiben und
Lesen seinem eigenen Tempo entsprechend. Kein Kind wird wie beim
Fibelunterricht in einen Lehrgang ‹gepresst›. Fibelunterricht ist
Frontalunterricht im Klassenverband und geprägt von Nachahmungslernen durch
wiederholtes Üben, bei ‹Lesen durch Schreiben› geht es um ein weitgehend
individuelles Lernen durch Einsicht.» Nachahmungslernen ist also schlecht.
Dabei lernen doch das Baby und das Kleinkind alles durch Nachahmen.
Sekundarlehrer
Kalberer bezeichnet das Leseverständnis vieler Schüler als «Katastrophe». Dafür
verantwortlich seien auch hier die wenig fordernden Lehrmittel. Die meisten
Leseaufgaben würden sich darauf beschränken, eine Stelle im Text zu finden. Da
werde etwa gefragt: «Wie alt ist der Doktor?» Der Schüler oder die Schülerin
scannten den Text: «Da, 41.» Dann der Antwortsatz: «Er ist 41 Jahre alt.» Das
Verständnis für einen längeren Text wird so nicht eingeübt.
Die
Primarlehrerin findet das schade. Sie liest sehr viel mit den Kindern, erklärt
Wörter, bespricht Wendungen. «Das Denken wird angeregt. Und es findet eine
Gemütsbildung statt, das Kind lernt, sich einzufühlen in die Figuren», sagt
sie. Die Bücher müssten aber Werte vermitteln wie Freundschaft und
Aufrichtigkeit.
Die
Volksschule will zwar das Lesen fördern. Die Kinder können Bücher ausleihen und
im Computerprogramm «Antolin» Fragen dazu beantworten. Doch der Computer
ersetze das Gespräch in der Klasse nicht, kritisiert sie. Auch werde es immer
schwieriger, gute Bücher zu finden. Die Neuerscheinungen sind sprachlich oft
wenig anspruchsvoll.
Der
Schule allein die Schuld zu geben für das mangelhafte Deutsch der Schüler, wäre
aber falsch. «Wir sind es nicht mehr gewohnt, lange Texte zu lesen», sagt Urs
Kalberer. Man hängt am Handy, liest Kurzfutter im Internet. Er fragte seine
Schüler einmal, wie viele Whatsapp-Nachrichten sie pro Tag schreiben würden.
Der Klassendurchschnitt lag bei fünfzig. «Die Jugendlichen schreiben also sehr
viel. Nur kein standardisiertes Deutsch.»
Dass
viele Kinder gern schreiben, zeigt der jährliche Schreibwettbewerb der Luzerner
Zeitung für Schüler der fünften bis neunten Klasse. Das Interesse ist gross. Im
Buch «Der Hund starb – was er nicht überlebte» sind Stilblüten der letzten
Jahre vereint. Da liest man: «Der Fremde nahm das Messer und drückte es mir an
die Kelle.» Und: «Ich drückte aufs Gas und rahmte sie.» Oder: «Meine
schulischen Leistungen wurden schlächter und schlächter.» Ja, eben.
Sie
wurden auch in Deutschland schlächter. Die Kultusministerin des links regierten
Bundeslandes Baden-Württemberg hat nun in einem Brief an die Schulen gefordert,
der Rechtschreibung wieder ihren zentralen Stellenwert zurückzugeben. Es ist
«aus meiner Sicht zwingend erforderlich, dass orthografische Fehler von Anfang
an konsequent korrigiert werden», schreibt sie. Sie will auch «systematisches
(Ein-)Üben» stärken.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen