Die übliche Schreibbewegung ist heute der Tasten- oder Sensordruck. Er
geht einher mit stereotyper Übertragung der angetippten Einzelzeichen auf den
Monitor. Dabei handelt es sich um eine Geste, die keinerlei individuelle
Prägung ermöglicht.
Dies war im Fall der mechanischen Schreibmaschine noch anders. Damals
konnte das Tippen auf der Tastatur mit stärkerem oder schwächerem Fingerdruck
bewerkstelligt werden und wirkte sich dadurch auf das Schriftbild aus: Die
Lettern variierten in ihrer Schwärze und Scharfzeichnung, das Papier empfing
unterschiedlich tiefe Einschläge. Ausser durch den Personalstil des Verfassers
waren solche Typoskripte mithin auch durch physische − um nicht zu sagen:
physikalische − Einwirkungen auf die Maschine als Dokumente einer individuellen
Schreibweise beglaubigt.
Wandtafel einer Primarschulklasse im Jahr 2008, Bild: Christoph Ruckstuhl
Diese unverwechselbare persönliche Spur, NZZ, 16.3. von Felix Philipp Ingold
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Weit mehr noch gilt dies für handschriftliche Texte, bei denen der
Körpereinsatz unmittelbar auf den Schriftträger sich auswirkt beziehungsweise
auf diesen einwirkt – mit individuellen Energieschüben, mit ständig wechselndem
Druck und Rhythmus. Im Gegensatz zur elektronischen Texteingabe ist die
Handschrift, nicht anders als das maschinelle Schreiben, stets auch Inschrift,
ist gravierte Information. Ob mit dem Stichel auf der Tontafel oder mit dem
Kugelschreiber auf dem Notizblock – die Schrift ist das, was sich einprägt, ist
eine unverwechselbar persönliche Spur. Kein Wunder, wurde sie von der
Graphologie einst als «Spiegel der Seele» aufgefasst und zur Deutung des
menschlichen Charakters genutzt.
Doch viel stärker noch als Seele oder Charakter kommt in der Handschrift
die körperliche Beschaffenheit und Befindlichkeit des Schreibers zum Ausdruck.
Die Kulturtechnik des Schreibens ist nicht zuletzt eine hochentwickelte
Körpertechnik – die Grösse und Gliederung der Hand, die Länge des Unterarms,
die Haltung der Schulter, die Muskelspannung, die Atemweite, all dies
beeinflusst die Schreibbewegung und bestimmt das Design der Schrift. Dies
geschieht unabhängig vom Inhalt der jeweiligen Nachricht, also – zum Beispiel −
auch dann, wenn ein unverständlicher Fremdtext lediglich ab- oder
nachgeschrieben wird; es geht demnach ausschliesslich um das Schriftbild und
nicht um den Text als Bedeutungsträger.
Fehler als Stilmerkmale
Auf dem PC, auf dem Smartphone sind sinnliche Eindrücke, also
«informative» Gravuren dieser Art, nicht mehr auszumachen. Die psychophysische
Individualität des Schreibers bleibt verborgen. Seine Manier erschliesst sich
am ehesten noch – auf niedrigster Schwundstufe − über die grammatischen und
orthographischen Fehler, die er unbekümmert eintippt, wohlwissend, dass
derartige Fehler weithin akzeptiert sind und anstandslos als «Stilmerkmale»
elektronischer Kommunikation abgehakt werden. Dass die Handschrift demgegenüber
jegliche Attraktivität eingebüsst hat, muss als Kulturverlust verbucht werden.
Es bedeutet nicht weniger, als dass Selbstvergewisserung und Selbstausdruck
vermittels Sprache und Schrift nach Jahrhunderten urplötzlich uninteressant
geworden sind.
Der Brief und die Ansichtskarte als einst höchst beliebte und oft
genutzte Medien handschriftlicher Kommunikation sind abgelöst worden von
Instant-Messaging, SMS, Twitter oder E-Mail. Die Handschrift hat dadurch einen
Ausnahmestatus gewonnen, sie ist von einer einstmals populären Alltagsgeste
unversehens zu einem elitären Medium geworden. Nur in Ausnahmefällen kommt sie
überhaupt noch zum Einsatz: als namentliche Unterschrift (bei Verträgen,
Dekreten, Policen, Protokollen usw.), auf Prüfungsblättern, als Widmung in
einem Buch oder zu einem Geschenk, allenfalls zur Übermittlung von Kondolenzen
oder von Glückwünschen zu besondern Anlässen.
Die Handschrift jüngerer und junger Zeitgenossen, die mit PC und Handy
aufgewachsen sind und ihre Schreibgewohnheiten entsprechend adaptiert haben,
lässt in aller Regel kaum etwas von ihrer «Seele», ihrem «Charakter» erkennen –
die Schrift wirkt zumeist unbedarft, unpersönlich, oft gar infantil; ein
durchgehender beziehungsweise verbindender Zug fehlt ebenso wie das individuell
gepflegte Detail (Schnörkel, Haken, Kürzel, Ligaturen).
Die Schriftzeichen werden vorzugsweise additiv aufgereiht, sei es
vereinzelt oder in Silben, so dass das Wort, der Satz, der Abschnitt wie auch
der Text insgesamt ihren skripturalen Zusammenhalt weitgehend verlieren. Die
Dominanz des Buchstabens und damit der Geste des punktuellen Setzens (anstelle
des integrativen Durchziehens) der Schrift ist sicherlich auf das gewohnte
Tippen und Tasten bei der alltäglichen elektronischen Textverarbeitung
zurückzuführen.
Das Schwinden des gestischen Schreibens als unwillkürliche, zwar
vordergründige, dennoch deutungsbedürftige Kundgabe individueller menschlicher
Eigenart wirkt sich auch auf der Sprachebene aus. Mit der linearen Dynamik der
Handschrift und ihrer rhythmischen Ausprägung geht die Aufmerksamkeit (und das
Interesse) für grammatische Fügungen und syntaktische Sequenzen verloren.
Die Mitteilung – falls sie denn überhaupt noch sprachlich verfasst wird
− bleibt vorwiegend auf Hauptsätze, fragmentarische Wortverbindungen oder
Einzelbegriffe beschränkt, Vor- und Nachzeitigkeit werden nicht mehr klar
markiert, Subjekt und Objekt nicht mehr deutlich geschieden. Die
zusammenhängende schriftliche Aussage wird abgelöst von Einzelwörtern mit
Appellcharakter, aber auch von nichtsprachlichen Zeichen wie Icons und Emoticons.
Bild statt Schrift
Das Hinsehen wird das Nachlesen ersetzen. Dem Privatbrief oder dem
postalischen Kartengruss zieht man eine kurzfristig erstellbare
Skype-Verbindung vor. Statt Schrifttexten verschickt man per Handy
Bildnachrichten (Videos mit Tonspur), die in Realzeit empfangen werden können.
Das sind bereits alltäglich gewordene elektronische Verfahren, welche nicht nur
die Handschrift, sondern die Schrift überhaupt als ein Auslaufmodell
sprachlicher Kommunikation erscheinen lassen.
Angesichts der stetig zunehmenden Komplexität der Alltagswelt (und der
Geisteswelt insgesamt) erweist sich die Geste des Schreibens als zu wenig
differenziert, zu wenig effizient und überdies als zu langsam und zu aufwendig,
als dass sie sich längerfristig gegenüber elektronischen Medien behaupten
könnte, die mit multidimensionalen Modellen, Programmen, Codes und
hochentwickelten bildgebenden Verfahren operieren. Das gilt naturgemäss umso
mehr für die handschriftliche Texterstellung, die auf eine Vielzahl von materiellen
Voraussetzungen angewiesen ist – auf eine Schreibfläche (Tisch, Brett), einen
Schriftträger (Papier, Karton, Folie), ein Schreibwerkzeug (Feder,
Kugelschreiber, Blei- oder Filzstift) sowie auf einen alphabetischen
Zeichensatz.
Im Unterschied zum mündlichen Sprachgebrauch ist das Schreiben
bekanntlich keine angeborene Disposition oder Fähigkeit: Es kann wohl, muss
aber nicht notwendigerweise als Kulturtechnik erlernt werden. Noch heute gibt
es weltweit rund 800 Millionen Analphabeten, die auch ohne Schreibkompetenz
auskommen, obwohl sie dadurch in vielerlei Hinsicht benachteiligt sind. Doch
stellt sich nun die Frage, ob in höher entwickelten Zivilisationen nicht
vielleicht ein sekundärer Analphabetismus als ein gleichermassen neues und
archaisches kulturelles Phänomen sich durchsetzen wird. Das gegenwärtige
Verschwinden der Handschrift wäre dann ein untrügliches Anzeichen für das
Verschwinden der alphabetischen Schrift schlechthin und deren Ablösung durch
numerische Codes zur Programmierung technischer Bilder.
Felix Philipp Ingold arbeitet nach langjähriger Lehrtätigkeit als freier
Autor in Romainmôtier (VD); zuletzt erschien von ihm der Prosaband «Direkte
Rede» (Wien 2016).
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