Ein Klassenzimmer in der
Stadt Bern. An den Wänden hängen grosse und kleine Buchstaben. «Heute üben wir
das Z», sagt der Lehrer. Die Erst- und Zweitklässler holen sich ein
vorbereitetes Blatt und nehmen ihre Etuis hervor. Während die Kleineren
einfache Z nachmalen und selber zu schreiben versuchen, haben die Grösseren
teilweise bereits Silben vor sich: Ze, Zi, Za.
Die Handschrift verschwindet - und mit ihr ein Teil von uns, Berner Zeitung, 5.3. von Mirjam Comtesse
Der Lehrer betont, die
Kinder sollen in einem ersten Durchgang versuchen, die Buchstaben möglichst
schnell aufs Papier zu setzen. «Es geht darum, dass sie die Buchstaben nicht
nur exakt, sondern auch fliessend und mit Schwung schreiben», erklärt er.
Schulkinder lernen heute
zwar nach wie vor, wie man Schriftzeichen korrekt darstellt, doch das
«Schönschreiben» hat längst ausgedient. Im Kanton Bern wurde das Fach bereits
mit dem Lehrplan 95 in den Deutschunterricht integriert. Im Kanton Zürich
existierte es laut Volksschulamt gar nie. Es gibt aber von der ersten bis zur
sechsten Klasse das umfassendere Fach «Schrift / graphische Gestaltung». Vorbei
sind also die Zeiten, als explizit die Handschrift der Schüler benotet wurde,
heute beurteilt der Lehrer lediglich die Heftführung allgemein.
Ungeübte
Handschrift bremst
In den ehemaligen
Schönschreibstunden versuchten jeweils die einen – vorwiegend Buben – mit
verkrampften Fingern, Buchstaben mit der richtigen Ober- und Unterlänge in ihr
Heft zu kritzeln, während die anderen – vorwiegend Mädchen – scheinbar mühelos
die Zeichen in exakten Proportionen in die Häuschen setzten.
Viele Erwachsene
erinnern sich mit Schrecken an den Drill des Schreibunterrichts. Vor allem in
Deutschland gab es deshalb in den vergangenen Jahrzehnten einen Gegentrend: Die
Schüler erhielten grosse Freiheit beim Gestalten der einzelnen Lettern und
Ziffern. Mit fatalen Folgen.
Die Einträge in vielen
Heften sähen mittlerweile aus wie die sprichwörtlichen Arztrezepte, halten die
Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning und der Journalist Stephan Clauss in ihrem
gerade erschienenen Buch «Wer nicht schreibt, bleibt dumm» fest. «Immer mehr
Kinder können nicht leserlich und oft nur mit grosser Anstrengung schreiben»,
finden sie.
Das Problem dabei sei
nicht nur, dass sogar die Schüler selbst Mühe hätten, ihre Sätze zu entziffern.
Viel gravierender sei, dass sie ihre Gedanken nicht fliessend zu Papier bringen
könnten, weil «der Akt des Schreibens selbst zu viel Aufmerksamkeit
absorbiert». Die Handschrift wirke dadurch als Dauerbremse der Gedanken.
Erwachsene
Vorbilder fehlen
In der Schweiz ist die
Situation nicht ganz so dramatisch. «Hierzulande pflegen die Schulen die
Handschrift», sagt Jürg Brühlmann vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer
Schweiz (LCH). Auch die Einführung der Basisschrift sei ein Bekenntnis dazu:
«Die teilverbundene Basisschrift ist einfacher zu erlernen als die
Schnürlischrift, und sie eignet sich für den Erwachsenen später besser dazu,
eine eigene, persönliche Handschrift zu entwickeln.»
Der Kanton Zürich
vermittelt seinen Schülern seit Beginn des aktuellen Schuljahres die
Basisschrift, im Kanton Bern steht es den Schulen frei, welche Schrift sie
unterrichten, aber hier wird ebenfalls die Basisschrift empfohlen.
Auch Brühlmann stellt
allerdings fest, dass die Kinder nicht mehr so geübt sind im Schreiben von
Hand. «Sie tun es zu Hause weniger – auch weil die Erwachsenen es ihnen
seltener vormachen.» Wieso also nicht ganz darauf verzichten und konsequent auf
Computer umsteigen?
Schöne
Schrift macht Eindruck
«Das Erlernen der
Handschrift ist auch im digitalen Zeitalter unabdingbar», sagt Judith Sägesser
Wyss, Dozentin für Psychomotorik und Grafomotorik an der Pädagogischen
Hochschule Bern. «Es ist empirisch belegt, dass Schriftzeichen durch das
Schreiben von Hand im Gehirn besser abgespeichert werden und dass das Schreiben
das Lesenlernen unterstützt.»
Menschen, die nur noch
auf Tastaturen tippten, würden zudem allgemein schlechter im Ausführen von
Handlungen und Bewegungen mit der Hand. Sie gibt auch zu bedenken, dass das
Tastaturschreiben ebenfalls gut aufgebaut und automatisiert werden muss, damit
man einen Nutzen daraus ziehen kann.
Bei Kindern und
Jugendlichen kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Sie machen sich während der
obligatorischen Schulzeit von Hand Notizen, um den gelernten Stoff
festzuhalten. «Eine leserliche und geläufige Handschrift ist deshalb nach wie
vor notwendig für den schulischen Erfolg», sagt Judith Sägesser Wyss.
Dass die Abschaffung der
Handschrift kein Thema ist, zeigt sich auch im Lehrplan 21, der in den Kantonen
Bern und Zürich im August 2018 eingeführt werden wird. Dort steht über die zu
erlernenden Grundfertigkeiten: «Die Schülerinnen und Schüler können in einer
persönlichen Handschrift leserlich und geläufig schreiben und die Tastatur geläufig
nutzen.» Computer und Stift werden also nicht gegeneinander ausgespielt,
sondern als gleichwertig betrachtet.
Sogar Studenten legen
weiterhin schriftliche Prüfungen ab – mit dem Kugelschreiber, denn mit einem
Computer wäre das Risiko zu gross, dass jemand die Resultate heimlich im
Internet nachschaut. «Bei unseren Studierenden sehe ich oft vor schriftlichen
Prüfungen, wie die jüngeren besonders nervös sind. Die Älteren haben zumeist
noch mehr Übung im Schreiben von Hand», sagt Judith Sägesser.
Das verschafft den
Trainierteren einen Vorteil: Einerseits können sie mehr Text schreiben und
haben am Ende vielleicht sogar noch Zeit für eine Zusammenfassung, andererseits
macht die bessere Lesbarkeit in der Regel einen guten Eindruck auf den
Korrektor.
Individualität
geht verloren
Die Berner Erst- und
Zweitklässler sind inzwischen fertig mit ihren Schreibübungen. Sie zeigen dem
Lehrer die Resultate. «Ja, das ist gut», sagt er zu den meisten. Nur hier und
da rät er, eine vergessene Aufgabe nachzuholen. Danach nehmen die Schüler ihre Hefte
hervor und schreiben an einer Geschichte. Stolz präsentieren sie ihre Einträge.
In ihrer Schulkarriere dürften sie jedoch insgesamt viel weniger von Hand
schreiben als frühere Generationen.
Allerdings bewahrt auch
ehemals jahrelanges Training nicht davor, dass die Schreibfähigkeit verkümmern
kann: Einkaufszettel, Bewerbungen und Notizen an Sitzungen tippen wir immer
öfter in Computer und Smartphones. Viele Erwachsene, die wieder einmal einen
Kugelschreiber oder vielleicht sogar einen edlen Füllfederhalter hervornehmen,
müssen erkennen, dass ihnen die Übung abhandengekommen ist: Die Hand ermüdet
schnell, und die Schrift ist in der Regel nicht mehr so leserlich wie früher.
Das könnte man nun zwar
als bedauerlich, aber als logische Folge der Digitalisierung abtun. Nur: Die
Handschrift ist nicht nur eine Kulturtechnik, sondern auch Ausdruck der
Persönlichkeit. Grafologische Gutachten sind deshalb bei der Neubesetzung
wichtiger Posten nach wie vor gefragt. Der Zürcher Grafologe Urs Imoberdorf
sagt, er habe heute zwar weniger Aufträge als noch vor zwanzig Jahren, aber:
«Ich arbeite in der Regel weiterhin jeden Tag.»
Er erklärt, wieso eine
Handschrift so viel über die Person dahinter verrät: «Zum Beispiel sieht man
daran, wie jemand das Schreibwerkzeug bewegt – ob schnell, expansiv,
intensiv, mit wie viel Druck –, wie stark seine Antriebskraft ist.» Je nachdem,
wie jemand die Buchstabenformen schreibe, zeige sich auch seine Originalität
oder seine Exaktheit.
Imoberdorf meint
deshalb: «Der Vorteil des Tastaturschreibens ist die bessere Lesbarkeit, aber
mit ihm verschwindet die Unverwechselbarkeit des Individuums.» Die
Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel hat dieses Phänomen in ihrem Buch «Wir
verschwinden. Der Mensch im digitalen Zeitalter» beschrieben: «Die Handschrift
ist ein Ausdruck von Individualität unter vielen. Verschwindet sie,
verschwindet diese Ausdrucksform.»
Schreiben
hilft beim Erinnern
Das Schreiben mit dem
Stift hat sogar einen messbaren Zusatznutzen gegenüber dem Tippen aufs iPhone
oder das Tablet. Gemäss der Studie «Der Stift ist mächtiger als die Tastatur»
der Universität Princeton und der Universität von Kalifornien von 2014 bleiben
Studenten, die sich handschriftliche Notizen machen, neue Konzepte eher im Kopf
als denen, die auf dem Laptop mitschreiben. Dies gilt aber nur, wenn es um das
Erlernen von komplexen Zusammenhängen geht, beim Erinnern von Faktenwissen
zeigen sich kaum Unterschiede.
Der Grund für den
grösseren Lerneffekt ist, dass die meisten auf der Tastatur schneller schreiben
können und deshalb wortwörtlich mittippen. So verarbeiten sie die
Informationen weniger, als wenn sie sie von Hand aufschreiben würden. Die
Professoren schliessen ihre Studie mit den eindringlichen Worten: «Trotz ihrer
zunehmenden Beliebtheit könnten Laptops in den Klassenzimmern möglicherweise
mehr Schaden anrichten als Gutes tun.»
Fakt ist aber auch:
Computer bringen mehr Gerechtigkeit. Wer nur langsam schreiben kann oder Mühe
hat, leserliche Buchstaben aufs Blatt zu bringen, für den sind die technischen
Geräte eine Möglichkeit, nicht von Anfang an ins Hintertreffen zu geraten.
Schreibkurse
boomen
Denn eine Handschrift
mit Charakter ist nach wie vor ein Statussymbol – und vielen entsprechend
wichtig. Das sieht man etwa bei Stefanie Ingold. Sie unterrichtet im
bernischen Lotzwil Kurse im sogenannten Handlettering, also nicht im Schreiben,
sondern im besonders schönen Zeichnen von Buchstaben. An diesem Samstagabend
sind acht Frauen in ihrem Atelier erschienen. Sie beugen sich über ihre
Übungsblätter und malen in unterschiedlichsten Schriften Buchstaben aufs
Papier.
Stefanie Ingold geht
herum und gibt Anregungen: «Versuch doch mal, die Linien, auf die du deine
Buchstaben schreibst, zu verändern. Ziehe sie zum Beispiel schräg», rät sie.
Fragt man die Teilnehmer, was sie sich vom heutigen Abend erhoffen, sind die
Antworten ähnlich: «neue Ideen für meine Handschrift», «Inspirationen, wie ich
Etiketten speziell gestalten kann» oder «das Handwerk, um jemandem eine
besonders schön geschriebene Karte schicken zu können».
Stefanie Ingold
unterrichtet bereits seit sieben Jahren. «Seit zwei Jahren boomen die Kurse in
Handlettering geradezu», erzählt sie. Sie glaubt, dass ihre Teilnehmer bei ihr
den Ausgleich zur digitalen Welt suchen. Und natürlich ist es auch die Botschaft
hinter einer selbst gezeichneten und geschriebenen Karte, welche die
Teilnehmerinnen senden möchten: Für den Adressaten hat man sich viel Zeit
genommen und etwas Einmaliges geschaffen.
Für
besondere Gelegenheiten
Wie werden wir in
zwanzig Jahren schreiben? Wahrscheinlich nur noch sehr selten.
Spracherkennungsprogramme wie Siri von Apple dürften sich durchsetzen und
gesprochene Sprache für uns automatisch in Schriftzeichen umsetzen.
Stifte, mit denen man
auf Bildschirme schreiben kann, könnten in einer Übergangsphase eine gewisse
Popularität erlangen, dürften aber die Ausnahme bleiben. Denn ihre Nutzung
setzt voraus, dass jemand relativ leicht von Hand schreibt. Auch für die
Unterschrift gibt es im digitalen Zeitalter bessere Alternativen als das herkömmliche
Hinkritzeln des eigenen Namens: ein Scan der Augeniris beispielsweise.
Ganz verschwinden wird
das Schreiben von Hand aber kaum. Auch in der Vergangenheit haben moderne
Technologien alte selten vollständig verdrängt. So sind gedruckte Bücher trotz
E-Readern nach wie vor beliebt. Jürg Brühlmann vom Lehrerdachverband meint,
die Handschrift werde künftig die Wahl für seltene, besondere Situationen sein.
Dann werden wir Kondolenzkarten oder auch Liebesbriefen noch mehr Bedeutung
verleihen, indem wir in ihnen unsere schönste Schrift zeigen.
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