30. März 2017

Reformflut als ständiges Gebastel

Berner Lehrerinnen und Lehrer der Unterstufe schlagen beim Erziehungsdirektor Alarm. Hunderte sind frustriert und berufsmüde. Viele erleben die Schule ­angesichts der zu verarbeitenden ­Reformflut als ständiges Gebastel. Abhilfe ist nicht in Sicht.


Am Limit. Illustration von Harry Malt
Die Schule brennt, Weltwoche, 30.3. von Christoph Mörgeli

Die Resonanz der Betroffenen war gewaltig, doch das öffentliche Echo blieb bescheiden. Überraschend viele Lehrpersonen der Unterstufe haben einen offenen Brief an den Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver unterzeichnet: «Wir, bernische Lehrerinnen und Lehrer, haben genug!» Ursprünglich von der Unterstufenkonferenz der Schule Rüti in Ostermundigen ausgegangen, entwickelte sich der Protest zu einer eigentlichen Lawine: «Jedes Kind hat das Recht auf Aufmerksamkeit und Zuwendung der Lehrperson. In der aktuellen Situation können wir dies nicht mehr ­gewährleisten.»

Stein des Anstosses bildet der Integrationsartikel (Art. 17) des kantonalen Volksschul­gesetzes, der seit August 2010 in der Praxis, ähnlich wie in vielen andern Kantonen, vorschreibt, dass möglichst alle Kinder in derselben Klasse unterrichtet werden – auch und gerade solche mit «besonderen Bedürfnissen». Grundsätzlich werden seither Schülerinnen und Schüler, die spezielle pädagogische Massnahmen benötigen, in einer ­Regelklasse unterrichtet.

Abweichungen von diesem Grundsatz müssen speziell begründet werden. Jede einzelne Schule hat ein Konzept zu definieren, wie sie diese Schüler mit Zusatzaufwendungen integrativ unterrichten will. Und zwar im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel.
Ob diese finanziellen Grundlagen überhaupt vorhanden sind, scheinen sich die Bildungspoli­tiker bei ihren schön tönenden ­Integrations- modellen zu wenig überlegt zu haben. Die den Schulen explizit zugestandene «Teilautonomie» hat für die Betroffenen einen ausgesprochen schalen Beigeschmack, wenn die finanziellen Ressourcen fehlen. Eine «Schule ohne Ausgrenzung» – ehedem auch für die Lehrpersonen eine verführerische Idee – wird so zum leeren Schlagwort. Was als umfassende Bildung und Förderung ohne sozialen Ausschluss gedacht war, könnte nun das exakte Gegenteil bewirken und die Ausgrenzung zeitlich einfach nach hinten verschieben und damit zusätzlich verteuern: Es kommt zu einer nachschulischen Rundumbetreuung von Jugendlichen, die ihr Leben nicht bewältigen können und in die Verwahr­losung abdriften.

Auch die Einführung von Harmos findet im ­öffentlichen Aufschrei der Berner Unterstu­fenlehrer spezielle Erwähnung. Diese Verein­barung über die Harmonisierung der obliga-torischen Schule ist heftig umstritten und wurde in sieben Kantonen abgelehnt und in einem Kanton sistiert. Die frühe obligatorische Einschulung und die damit verbundene Umgestaltung des Kindergartens und mehr noch die ­zunehmende Verstaatlichung der Kindererziehung zu Lasten der Eltern, aber auch die Aneignung hoheitlicher Aufgaben durch demokratisch nicht genügend legitimierte Gremien wie die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) stossen auf heftige Ablehnung. Der damit verbundene Lehrplan 21, welchen die Berner Protestierenden ausdrücklich gutheissen, geht nach Ansicht vieler Kritiker weit über den Verfassungsauftrag der Harmonisierung hinaus. Befürchtet wird wegen der Vereinheitlichung von Lehrerausbildung und Lehrmitteln eine einseitige ideologische Beeinflussung. Als besonders stossend empfinden die Gegner die Bestrebungen im Bereich der Sexualerziehung, des Geschlechterverständnisses, das voreingenommene Erklären von Wirtschaft und Politik, des Konsumverhaltens und von Umweltanliegen.

Stolperstein Migration
Der Schulalltag in seiner dramatisch zunehmenden Komplexität ist jedenfalls nicht nur im Kanton Bern Grund genug für einen Alarm. Wenn die Integration nicht schon beim Schulstart gelingt, wird sie später immer schwieriger. Und vor allem da hapert es gewaltig. Zwar betonen die Lehrer, dass die Kinder insgesamt zunehmend Schwierigkeiten bereiten; dass dabei aber auch die «kulturellen Hintergründe [Kriegstraumata etc.]» eine Rolle spielen, wird nicht ausgeblendet.

Als Beispiel für die Wirklichkeit des Schulalltags diene die bernische Gemeinde Kehrsatz, vor noch nicht allzu langer Zeit ein typisches Bauerndorf – mit heute gut 4000 Einwohnern. Hatte dort eine Klasse vor zwanzig Jahren noch ein bis maximal zwei ausländische Kinder, bilden die Migranten heute durchgehend die Mehrheit. Wie das «Chäsitzer Schulbüchlein 2015/2016» von Schulleitung und Schulsekretariat in Bild und Text belegt, besteht etwa der Kindergarten Dorf aus 17 Kindern, wobei lediglich 5 einen einheimischen Namen tragen. Im Kindergarten Hagwiese sind es 6 von 17, im Mätteli 9 von 20. In der zweiten Klasse A der Primarschule Dorf haben von 19 Kindern 11 einen Migrationshintergrund, in der Klasse B sind es 10 von 18. Ab der dritten Unterstufenklasse finden sich Mädchen, die ihren Kopf verhüllen. In der Oberstufe von Kehrsatz sind die Verhältnisse noch extremer: Bei der Klasse 8C Selhofen weisen einzig die Nachnamen Daniel und Etter auf eine schweizerische Herkunft hin; die 10 Mitschüler scheinen praktisch ausnahmslos aussereuropäische Migranten zu sein. Bei der Klasse 9C dürfte höchstens ein Viertel der 16-köpfigen Schülerschaft einen Schweizer Elternteil haben. Ob die Lehrer auch diesbezüglich irgendwann Klartext reden, bleibt abzuwarten.

Zwar bietet das bernische Schulsystem einen Spezialunterricht und gewisse Sondermassnahmen an. Mit dem Projekt «Pool 2» können seit 2011 Kinder und Jugendliche mit Asperger Syndrom, schweren Wahrnehmungsstörungen und/oder schweren Störungen des Sozialverhaltens im Kindergarten und in der Volksschule gefördert werden. Doch angesichts des Geldmangels stehen immer weniger Lektionen zur Verfügung. Die «SOS»-Lektionen und andere Massnahmen bezeichnen die Berner Lehrerinnen und Lehrer als «Flickwerk», das mehr ­Unruhe als Entlastung in die Klassen bringe. «Heute» – so hält der Lehrerprotest deutlich fest – «leidet die Mehrheit der Gruppe, da auffällige Kinder zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.» Dass angesichts solcher Zustände begabte und hochbegabte Kinder nicht mehr genügend gefördert werden können, liegt auf der Hand und ist ebenfalls Gegenstand der Klagen.

Diese «unhaltbare Situation» im Schulalltag führe zu massiven Mehrkosten für den Kanton und für die Gemeinden. 10 bis 15 Prozent der Schulabgänger beenden ihre obligatorische Schulzeit mit einem Misserfolg und finden – wenn überhaupt – nur mit aufwendiger zusätzlicher Betreuung einen Platz in der Gesellschaft, nicht zu reden von der Arbeitswelt. Zu viele Lehrpersonen erzeugen gemäss Berner Appell wegen Krankheit Kosten im Gesundheitswesen; wegen Frustration vieler Lehrerinnen und Lehrer und nachfolgender Aufgabe ­ihres «Traumberufs» gingen zusätzlich erhebliche Ausbildungskosten verloren. Die Vertreter der Lehrerbasis an der Unterstufe wollen ausdrücklich, dass die Berner Schule eine gute Schule bleibt: «Nur eine Gesellschaft, die für die Kinder das Beste zur Verfügung stellt, ist ­eine gute Gesellschaft.» Lediglich dann, wenn der Schulalltag für alle verbessert werde, bleibe der Lehrerberuf attraktiv. Der Lehrplan 21 sei zwar eine dazu geeignete Grundlage, doch gipfelt das Berner Unterstufenmanifest in der Forderung nach zusätzlichem «Teamteaching».

­Reformflut als ständiges Gebastel
Als «ersten Schritt» verlangt der offene Brief von Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, dass das Betreuungspensum im ersten Zyklus, den Kindergarten und die ersten zwei Primarklassen umfassend, «in schwierigen Situationen» auf eineinhalb Stellen angehoben wird. Nur so könne die Betreuung «aller» Schülerinnen und Schüler besser gewährleistet werden. Konkret hiesse dies, dass zwei pädagogisch ausgebildete Personen praktisch durchgehend im Schulzimmer zur Verfügung stünden. Die 806 Berner Unterstufenlehrer fordern von der Erziehungsdirektion eine schriftliche Stellungnahme und erste konkrete Schritte bereits im folgenden Schuljahr, also ab August 2017.

Bei der Übergabe des offenen Briefes liess sich zwar Erziehungsdirektor Pulver entschuldigen, doch nahm Erwin Sommer als Vorsteher des Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung (AKVB) das Anliegen entgegen. Sommer betonte, dass zusätzliche Unterstützung bei Bedarf und auf Antrag geleistet werden könne, eine 150-Prozent-Betreuung für alle Kindergärten und für die ersten beiden Unterstufenklassen aber unrealistisch sei. Amtsvorsteher Sommer konnte dabei als Vertreter der links-grün geführten Direktion vom Politisieren nicht ganz lassen: Er verwies ausser auf die gegenwärtige Finanzlage des Kantons vor allem auf die bestehenden «politischen Mehrheiten», welche «leider» den Forderungen der Unterstufenlehrer entgegenstünden.

Auch in andern Kantonen legen Umfragen nahe, dass speziell bei den Unterstufenlehrern Frust und Überforderung dramatische Ausmasse annehmen. Nicht mehr nur hinter vor­gehaltener Hand kommt zum Ausdruck, dass die grosse Zahl an Kindern mit mangelnden Deutschkenntnissen den Alltag enorm erschwert. Erschreckend viele Lehrerinnen und Lehrer sind am Limit. Betonten verschiedene Studien bisher vor allem die Probleme an den Oberstufen, rückt jetzt auch die Unterstufe in den Brennpunkt. Der von den Lehrern unterstützte Integrationsgedanke bringt es mit sich, dass heute auch geistig behinderte Kinder mit entsprechendem Mehraufwand zu betreuen sind. Der Alltag gestaltet sich wegen unzähliger Abklärungen und Absprachen über Sprachförderung, Logopädie und andere sonderpädagogische Massnahmen enorm kompliziert, anstrengend und zermürbend, wobei gerade die Aufteilung des Unterrichts aufgrund zunehmender Teilzeitarbeit dazu beiträgt.

Die Lehrkräfte beklagen vor allem die enorme Unruhe im Klassenzimmer als Folge der Mehrfachbetreuung, die sie gleichzeitig aber nicht missen mögen. Es ist nachvollziehbar, wie anspruchsvoll die Vermittlung der Grundlagen in Lesen, Schreiben und Rechnen für zwanzig Kinder mit völlig unterschiedlicher Begabung und Herkunft sein muss. Hinzu kommt in den meisten Schulhäusern ein akutes Raumproblem. Und nicht zu unterschätzen sind die steigenden Ansprüche der Eltern für ihr «Projekt Kind», die oft anmassend-fordernde Züge annehmen. Parallel zu dieser Überbetreuung und Überforderung ist in manchen Elternhäusern eine zunehmende Verwahrlosung zu beklagen: Gewisse Kinder wachsen ohne Tagesstrukturen und ohne genügende Aufmerksamkeit auf und werden oft genug sogar krank in die Schule geschickt. Viele Lehrerinnen und Lehrer erleben die Schule angesichts der zu verarbeitenden ­Reformflut als ständiges Gebastel. Die Bildungs­revolution der letzten Jahre frisst offenbar nicht nur ihre Kinder. Sondern auch ihre Lehrer.

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