Berner Lehrerinnen und Lehrer der Unterstufe
schlagen beim Erziehungsdirektor Alarm. Hunderte sind frustriert und
berufsmüde. Viele erleben die Schule angesichts der zu verarbeitenden Reformflut
als ständiges Gebastel. Abhilfe ist nicht in Sicht.
Abweichungen von diesem Grundsatz müssen speziell begründet werden. Jede einzelne Schule hat ein Konzept zu definieren, wie sie diese Schüler mit Zusatzaufwendungen integrativ unterrichten will. Und zwar im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel.
Ob diese finanziellen Grundlagen überhaupt
vorhanden sind, scheinen sich die Bildungspolitiker bei ihren schön tönenden Integrations-
modellen zu wenig überlegt zu haben. Die den Schulen explizit zugestandene
«Teilautonomie» hat für die Betroffenen einen ausgesprochen schalen
Beigeschmack, wenn die finanziellen Ressourcen fehlen. Eine «Schule ohne
Ausgrenzung» – ehedem auch für die Lehrpersonen eine verführerische Idee – wird
so zum leeren Schlagwort. Was als umfassende Bildung und Förderung ohne
sozialen Ausschluss gedacht war, könnte nun das exakte Gegenteil bewirken und
die Ausgrenzung zeitlich einfach nach hinten verschieben und damit zusätzlich
verteuern: Es kommt zu einer nachschulischen Rundumbetreuung von Jugendlichen,
die ihr Leben nicht bewältigen können und in die Verwahrlosung abdriften.
Auch die Einführung von Harmos findet im öffentlichen
Aufschrei der Berner Unterstufenlehrer spezielle Erwähnung. Diese Vereinbarung
über die Harmonisierung der obliga-
torischen
Schule ist heftig umstritten und wurde in sieben Kantonen abgelehnt und in
einem Kanton sistiert. Die frühe obligatorische Einschulung und die damit
verbundene Umgestaltung des Kindergartens und mehr noch die zunehmende
Verstaatlichung der Kindererziehung zu Lasten der Eltern, aber auch die Aneignung
hoheitlicher Aufgaben durch demokratisch nicht genügend legitimierte Gremien
wie die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK)
stossen auf heftige Ablehnung. Der damit verbundene Lehrplan 21, welchen die
Berner Protestierenden ausdrücklich gutheissen, geht nach Ansicht vieler
Kritiker weit über den Verfassungsauftrag der Harmonisierung hinaus. Befürchtet
wird wegen der Vereinheitlichung von Lehrerausbildung und Lehrmitteln eine
einseitige ideologische Beeinflussung. Als besonders stossend empfinden die
Gegner die Bestrebungen im Bereich der Sexualerziehung, des
Geschlechterverständnisses, das voreingenommene Erklären von Wirtschaft und
Politik, des Konsumverhaltens und von Umweltanliegen.
Stolperstein
Migration
Der Schulalltag in seiner dramatisch zunehmenden
Komplexität ist jedenfalls nicht nur im Kanton Bern Grund genug für einen
Alarm. Wenn die Integration nicht schon beim Schulstart gelingt, wird sie
später immer schwieriger. Und vor allem da hapert es gewaltig. Zwar betonen die
Lehrer, dass die Kinder insgesamt zunehmend Schwierigkeiten bereiten; dass
dabei aber auch die «kulturellen Hintergründe [Kriegstraumata etc.]» eine Rolle
spielen, wird nicht ausgeblendet.
Als Beispiel für die Wirklichkeit des Schulalltags
diene die bernische Gemeinde Kehrsatz, vor noch nicht allzu langer Zeit ein
typisches Bauerndorf – mit heute gut 4000 Einwohnern. Hatte dort eine Klasse
vor zwanzig Jahren noch ein bis maximal zwei ausländische Kinder, bilden die
Migranten heute durchgehend die Mehrheit. Wie das «Chäsitzer Schulbüchlein
2015/2016» von Schulleitung und Schulsekretariat in Bild und Text belegt,
besteht etwa der Kindergarten Dorf aus 17 Kindern, wobei lediglich 5 einen
einheimischen Namen tragen. Im Kindergarten Hagwiese sind es 6 von 17, im
Mätteli 9 von 20. In der zweiten Klasse A der Primarschule Dorf haben von 19
Kindern 11 einen Migrationshintergrund, in der Klasse B sind es 10 von 18. Ab
der dritten Unterstufenklasse finden sich Mädchen, die ihren Kopf verhüllen. In
der Oberstufe von Kehrsatz sind die Verhältnisse noch extremer: Bei der Klasse
8C Selhofen weisen einzig die Nachnamen Daniel und Etter auf eine
schweizerische Herkunft hin; die
10
Mitschüler scheinen praktisch ausnahmslos aussereuropäische Migranten zu sein.
Bei der Klasse 9C dürfte höchstens ein Viertel der 16-köpfigen Schülerschaft
einen Schweizer Elternteil haben. Ob die Lehrer auch diesbezüglich irgendwann
Klartext reden, bleibt abzuwarten.
Zwar bietet das bernische Schulsystem einen
Spezialunterricht und gewisse Sondermassnahmen an. Mit dem Projekt «Pool 2»
können seit 2011 Kinder und Jugendliche mit Asperger Syndrom, schweren
Wahrnehmungsstörungen und/oder schweren Störungen des Sozialverhaltens im
Kindergarten und in der Volksschule gefördert werden. Doch angesichts des
Geldmangels stehen immer weniger Lektionen zur Verfügung. Die «SOS»-Lektionen
und andere Massnahmen bezeichnen die Berner Lehrerinnen und Lehrer als
«Flickwerk», das mehr Unruhe als Entlastung in die Klassen bringe. «Heute» –
so hält der Lehrerprotest deutlich fest – «leidet die Mehrheit der Gruppe, da
auffällige Kinder zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.» Dass angesichts
solcher Zustände begabte und hochbegabte Kinder nicht mehr genügend gefördert
werden können, liegt auf der Hand und ist ebenfalls Gegenstand der Klagen.
Diese «unhaltbare Situation» im Schulalltag führe
zu massiven Mehrkosten für den Kanton und für die Gemeinden. 10 bis 15 Prozent
der Schulabgänger beenden ihre obligatorische Schulzeit mit einem Misserfolg
und finden – wenn überhaupt – nur mit aufwendiger zusätzlicher Betreuung einen
Platz in der Gesellschaft, nicht zu reden von der Arbeitswelt. Zu viele
Lehrpersonen erzeugen gemäss Berner Appell wegen Krankheit Kosten im
Gesundheitswesen; wegen Frustration vieler Lehrerinnen und Lehrer und
nachfolgender Aufgabe ihres «Traumberufs» gingen zusätzlich erhebliche
Ausbildungskosten verloren. Die Vertreter der Lehrerbasis an der Unterstufe
wollen ausdrücklich, dass die Berner Schule eine gute Schule bleibt: «Nur eine
Gesellschaft, die für die Kinder das Beste zur Verfügung stellt, ist eine gute
Gesellschaft.» Lediglich dann, wenn der Schulalltag für alle verbessert werde,
bleibe der Lehrerberuf attraktiv. Der Lehrplan 21 sei zwar eine dazu geeignete
Grundlage, doch gipfelt das Berner Unterstufenmanifest in der Forderung nach
zusätzlichem «Teamteaching».
Reformflut
als ständiges Gebastel
Als «ersten Schritt» verlangt der offene Brief von
Erziehungsdirektor Bernhard Pulver, dass das Betreuungspensum im ersten Zyklus,
den Kindergarten und die ersten zwei Primarklassen umfassend, «in schwierigen
Situationen» auf eineinhalb Stellen angehoben wird. Nur so könne die Betreuung
«aller» Schülerinnen und Schüler besser gewährleistet werden. Konkret hiesse
dies, dass zwei pädagogisch ausgebildete Personen praktisch durchgehend im
Schulzimmer zur Verfügung stünden. Die 806 Berner Unterstufenlehrer fordern von
der Erziehungsdirektion eine schriftliche Stellungnahme und erste konkrete
Schritte bereits im folgenden Schuljahr, also ab August 2017.
Bei der Übergabe des offenen Briefes liess sich
zwar Erziehungsdirektor Pulver entschuldigen, doch nahm Erwin Sommer als
Vorsteher des Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung (AKVB) das
Anliegen entgegen. Sommer betonte, dass zusätzliche Unterstützung bei Bedarf
und auf Antrag geleistet werden könne, eine 150-Prozent-Betreuung für alle
Kindergärten und für die ersten beiden Unterstufenklassen aber unrealistisch
sei. Amtsvorsteher Sommer konnte dabei als Vertreter der links-grün geführten
Direktion vom Politisieren nicht ganz lassen: Er verwies ausser auf die
gegenwärtige Finanzlage des Kantons vor allem auf die bestehenden «politischen
Mehrheiten», welche «leider» den Forderungen der Unterstufenlehrer
entgegenstünden.
Auch in andern Kantonen legen Umfragen nahe, dass
speziell bei den Unterstufenlehrern Frust und Überforderung dramatische
Ausmasse annehmen. Nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand kommt zum
Ausdruck, dass die grosse Zahl an Kindern mit mangelnden Deutschkenntnissen den
Alltag enorm erschwert. Erschreckend viele Lehrerinnen und Lehrer sind am
Limit. Betonten verschiedene Studien bisher vor allem die Probleme an den
Oberstufen, rückt jetzt auch die Unterstufe in den Brennpunkt. Der von den
Lehrern unterstützte Integrationsgedanke bringt es mit sich, dass heute auch
geistig behinderte Kinder mit entsprechendem Mehraufwand zu betreuen sind. Der
Alltag gestaltet sich wegen unzähliger Abklärungen und Absprachen über
Sprachförderung, Logopädie und andere sonderpädagogische Massnahmen enorm
kompliziert, anstrengend und zermürbend, wobei gerade die Aufteilung des
Unterrichts aufgrund zunehmender Teilzeitarbeit dazu beiträgt.
Die Lehrkräfte beklagen vor allem die enorme Unruhe
im Klassenzimmer als Folge der Mehrfachbetreuung, die sie gleichzeitig aber
nicht missen mögen. Es ist nachvollziehbar, wie anspruchsvoll die Vermittlung
der Grundlagen in Lesen, Schreiben und Rechnen für zwanzig Kinder mit völlig
unterschiedlicher Begabung und Herkunft sein muss. Hinzu kommt in den meisten
Schulhäusern ein akutes Raumproblem. Und nicht zu unterschätzen sind die
steigenden Ansprüche der Eltern für ihr «Projekt Kind», die oft
anmassend-fordernde Züge annehmen. Parallel zu dieser Überbetreuung und
Überforderung ist in manchen Elternhäusern eine zunehmende Verwahrlosung zu
beklagen: Gewisse Kinder wachsen ohne Tagesstrukturen und ohne genügende
Aufmerksamkeit auf und werden oft genug sogar krank in die Schule geschickt.
Viele Lehrerinnen und Lehrer erleben die Schule angesichts der zu
verarbeitenden Reformflut als ständiges Gebastel. Die Bildungsrevolution der
letzten Jahre frisst offenbar nicht nur ihre Kinder. Sondern auch ihre Lehrer.
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