30. März 2017

Verbandsfunktionäre sind verantwortlich

Die Lehrkräfte sind die Leidtragenden einer massiven ­Übersteuerung des Schulsystems. Ihnen werden immer mehr ­Aufgaben aufgebürdet, deren Notwendigkeit umstritten ist. Die Ursache der Fehlentwicklung liegt an den Funktionären.
Zorn an der Basis, Weltwoche, 30.3. von Alain Pichard



Im Jahr 1977, kurz vor meiner Patentierung zum Berner Primarlehrer, besuchte uns Moritz Baumberger, der damalige Zentralsekretär des Bernischen Lehrervereins (BLV), um uns davon zu überzeugen, seinem Verband beizutreten. Der überzeugte Sozialdemokrat sass auch im Grossen Rat, präsidierte dort die Bildungskommission und durfte sich eines Verbandes rühmen, welcher einen sagenhaften Organisationsgrad von 98 Prozent der Lehrkräfte aufwies. Er konnte, wenn eine Gemeinde nicht nach seiner Pfeife tanzte, die Stelle sperren, was es den dortigen Verantwortlichen unmöglich machte, eine Lehrerstelle neu zu besetzen.

Einen solchen Verband konnte man nicht ­ignorieren. Wenn Baumberger mit etwas nicht zufrieden war, telefonierte er dem jeweiligen Erziehungsdirektor, ass mit ihm zu Mittag, und die Sache war erledigt.

Moritz Baumberger wurde pensioniert, und mit dem Verband ging es bergab.
Der Abstieg beschleunigte sich mit der Finanzkrise des ­Kantons Bern in den späten Neunzigern. Der Staat stand kurz vor der Pleite und musste mehrere Sparpakete schnüren, welche die Lohn­entwicklung der Lehrkräfte bremsten, deren Kaufkraft senkten und die Arbeitsbedingungen markant verschlechterten.

Kampf ums eigene Überleben
So verfügte die Regierung eine Halbierung des Wahlfachangebots, beschloss weit über 200 Klassenschliessungen, schaffte die Familienzulagen ab, führte Kursgelder für die Lehrkräfte ein, kürzte die Stipendien, strich mehrere Jahre den Teuerungsausgleich, verkürzte die Gymnasialzeit um ein Jahr, kürzte die fünfjährlichen Treueprämien und strich die Überbrückungsrente für vorzeitige Pensionierungen.

Sie erhöhte die Arbeitszeit der Lehrkräfte um eine Lektion, beteiligte die Lehrerschaft an der Sanierung ihrer Pensionskasse mit happigen Beitragserhöhungen, strich den alljährlich ge­sicherten Erfahrungsanstieg und senkte die Lektionenzahl der Primarstufe um zwei Einheiten. Gymnasien wurden zusammengelegt und Bildungsinstitutionen geschlossen. Gleichzeitig bürdete man den Lehrkräften immer mehr Aufgaben auf. Allein die administrativen Arbeiten haben in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen. Ein kompliziertes und umständliches Beurteilungsverfahren, vorgeschriebene Präsenzzeiten, rekurssichere Dokumentationen, mit grossem Aufwand verbundene Diszi­plinarmassnahmen, Mitarbeit an zahllosen Konzepten, gesteigerte Sitzungskadenzen, eine vorgeschriebene Anzahl von Elterngesprächen, Netzgespräche und die Koordination mit zahllosen Fachinstanzen beanspruchen die Zeit der Lehrkräfte über alle Massen.
Sie sind die Leidtragenden einer massiven Übersteuerung unseres Schulsystems, deren Akteure mit immer neuen Impulsen ihr eigenes Überleben zu sichern versuchen. Lehrkräfte sind heute keine Beamten mehr, sie sind öffentlich-rechtliche Angestellte, denen auch gekündet werden darf.

Der BLV wie auch die Lehrerverbände in den anderen Kantonen waren von dieser Entwicklung völlig überfordert. Ihnen fehlte schlicht das gewerkschaftliche Know-how, um diesem imposanten Abbau sozialer Errungenschaften zu begegnen. Aber die Rolle der Personalverbände fällt bei vertiefter Analyse noch um einiges brisanter aus. Ohnmächtig angesichts der Sparmassnahmen, gebärdete sich der BLV wie eine pädagogische Hochschule und waltete als Steigbügelhalter für Bildungsreformen, deren Notwendigkeit nicht gegeben und deren Effekt nicht garantiert waren, deren Kosten aber ins Unermessliche wuchsen.

Politisierte Berufsverbände
Die Leitungen des Lehrerverbandes kannten in ihrem politischen Handeln nur die Quantität. Lohnerhöhungen? «Unbedingt!» Arbeitszeitverkürzung? «Auf jeden Fall!» Harmos? «Nur zu!» ­Tagesschulen? «Ein Muss!» Begabtenförderung? «Von uns aus!» Qualitätskontrollen? «Super!» Neues Beurteilungssystem? «Wunderbar!» Frühfran­zösisch? «Brauchen wir!» Frühförderung? «Dringend nötig!» Stützkurse? «Es kann nicht genug davon geben!» Kleinere Klassen? «Das Wichtigste überhaupt!» Junior Coaching? «Bitte sehr!» Case Management? «Klar doch, wir sind ja modern!» Lehrplan 21? «Fantastisch!» Professionalisierung der Schulaufsicht (eine der teuersten Reformen überhaupt)? «Völlig einverstanden!» Messung von überfachlichen Kompetenzen? «Grandios!» Integrationsartikel? «Sehr wichtig!» Elternmitsprache? «Eine Riesensache!» Die Computerisierung? «Eine unbedingte Notwendigkeit!»

Mit anderen Worten: Das mühsam eingesparte Geld wurde an anderen Orten wieder ausgegeben, unter gütiger Mithilfe der Lehrerorganisationen. Es mutet daher geradezu wie ein Witz an, wenn unsere Verbände das Jammerlied vom Bildungsabbau und der Spar­hysterie anstimmen. Die Bildungsausgaben wachsen, ja sie explodieren förmlich. Gespart wird vor allem in der Praxis.

Die Ursache dieser Fehlentwicklung ist insbesondere in der Entfremdung der Funktionäre von der Basis zu suchen. Die Berufsverbände sind heute vollständig politisiert. Kaum im Amt, wollen die Funktionäre in ein Parlament gewählt werden. Die Berufsverbände sind heute Sprungbretter für politische und verwaltungstechnische Karrieren. Die Folgen dieser Verbandelung mit der Politik sind offensichtlich:

1 – Permanente Nähe zur politischen Macht; Identifikation mit dem Politsystem; Ideologisierung statt Pragmatismus; stetes Bemühen um politische Resonanz in eigener Sache, sprich: die Sicherung der Wiederwahl.

2 – Das wiederum führt zur Praxisferne, weshalb die Verbände in den letzten zehn Jahren die zum Teil absurdesten Reformen mittrugen und erst durch den Aufstand der Basis zurückgepfiffen wurden.

3 – Für diese Basis wird es zunehmend schwierig, sich Gehör zu verschaffen, da sie weitgehend von den Entscheidungsprozessen in der Schulentwicklung ausgeschlossen wird. Vernehmlassungen finden unter enormem Zeitdruck in den oberen Etagen der Verbände statt, ein Einbezug der Basis mit breitangelegten Meinungsfindungsprozessen kommt kaum mehr vor.

Exemplarisch ist das Verhalten des Schweizer Lehrerverbands (LCH) beim Frühfremdsprachenkonzept. Der Dachverband befürwortete die Idee, auf der Primarstufe zwei Fremdsprachen unterrichten zu lassen, formulierte aber Gelingensbedingungen, die finanziell völlig utopisch waren: Teamteaching, kleinere Klassen und anderes.
Heute, da viele Lehrerverbände vor Ort erkennen, dass das Frühfremdsprachenkonzept gescheitert und kein Jota der vom Verband geforderten Massnahmen umgesetzt worden ist, will der LCH von seinen damals formulierten Forderungen nichts mehr wissen. Im Gegenteil: Geschäftsleitungsmitglied Samuel Zingg fällt der Basis mit einem Rundbrief, in welchem er sich gegen die Zürcher Fremdsprachen­­ini­tiative ausspricht, in den Rücken.
Der Zorn der Basis ist verständlich. Permanent haben unsere Verbände das unsägliche Prinzip des Bestellens von Leistungen, ohne dafür die entsprechenden Mittel bereitzustellen, mitgetragen, und wenn die Lehrer sich nun dagegen wehren, werden sie von ihren Verbands­oberen noch diffamiert.

Auf die Spitze trieb es die Chefetage des LCH mit ihrem wirbligen Präsidenten Beat Zemp. Dieser wird zwar von den Medien immer noch weitherum als oberster Lehrervertreter wahrgenommen und entsprechend portiert, aber in der Basis nimmt der Unmut zu.
Unvergessen ist sein Slalomkurs in Sachen Lehrplan. Am 26. Juni 2013, anlässlich der Präsentation des Lehrplans 21, meinte er: «Der neue Lehrplan ist ein Meilenstein und bringt der Schule entscheidende Fortschritte.» Am 22. November 2013 mahnte er: «Der Lehrplan 21 ist überladen und muss abgespeckt werden.» Kurz darauf (23. 12. 13) unterschrieb er die sogenannte BNE-(Bildung für nachhaltige Entwicklung-)Charta und meinte: «Zur Förderung ­einer nachhaltigen Entwicklung ist es von zentraler Bedeutung, BNE im Lehrplan 21 entsprechend zu berücksichtigen.»

Solche unüberlegten Zickzackkurse entstehen zurzeit in einer besonderen Ambiance, wie die Sonntagszeitung in ihrer letzten Ausgabe berichtete. Die realitätsfremden Positionspapiere werden jeweils in Fünfsternehotels ausgeheckt, nachzulesen im Facebook-Eintrag eines Geschäftsleitungsmitglieds, welches entzückt die Bilder des Fünfgangmenüs postete. Der Dachverband, der seit mehreren Jahren mehr ausgibt, als er einnimmt, lässt es sich gutgehen. Um seine Löhne und Entschädigungen macht er ein Geheimnis, nicht einmal langjährige Mitglieder dürfen erfahren, wie viel Herr Zemp verdient.
Das hat Folgen. Gestandene Lehrkräfte, die zu 100 Prozent angestellt sind, wenden dem Verband den Rücken zu, jüngere treten gar nicht erst ein. Die beiden Oberstufenzentren, von denen das lehrplankritische Memorandum «550 gegen 550» ausging, zählen zusammen an die sechzig Lehrkräfte. Nicht einmal zehn sind noch eingeschriebene Mitglieder eines Berufsverbands.

Von Taktgebern zu Pappkameraden
Die Verbandsverantwortlichen suchen indessen unverdrossen die Nähe zur Macht. Wenn ich Ende April in Solothurn an einem Podium meine kritische Position zum Lehrplan 21 darlegen darf, tritt mir der Solothurner Erziehungsdirektor Remo Ankli entgegen. Assistiert wird er – dreimal dürfen Sie raten – vom Präsidenten des LCH, Beat Zemp. Das Gleiche wird Ende ­Juni in Bern passieren. Dort wird der Bildungsdirektor Bernhard Pulver mit uns diskutieren. An seiner Seite eine noch zu bestimmende Vertreterin des BIBE.
Ach ja, das habe ich vergessen: Der ehemalige BLV und vorübergehende LEBE (Lehrerinnen und Lehrer Bern) heisst jetzt BIBE. Das ist die Abkürzung für «Bildung Bern». Die neueste Namensänderung soll dem an Mitgliederschwund leidenden Verband Neuzugänge aus unterrichtsfernen Berufsgruppen bescheren (Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter etc.).

So schliesst sich der Kreis – allerdings mit ­einem entscheidenden Unterschied: Zu den Zeiten, als der Zentralsekretär des BLV, Moritz Baumberger, noch die Nähe zur Macht suchte und fand, galt er als Taktgeber. Die heutigen Vertreter der Personalverbände haben mehr die Rolle der Pappkameraden, schliesslich sitzt man ja in einem Boot.
Der Witz, der in Lehrerkreisen zirkuliert, ist bezeichnend: «Wenn Bernhard Pulver bei strahlendem Wetter das Fenster aufmacht und sagt, es regne, stellt BIBE dasselbe fest!»


Alain Pichard ist Lehrer und Gemeindepolitiker (GLP) in Biel und einer der profiliertesten Kritiker der Reformen im Bildungswesen der letzten Jahre.

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