Die Lehrkräfte sind die Leidtragenden einer
massiven Übersteuerung des Schulsystems. Ihnen werden immer mehr Aufgaben
aufgebürdet, deren Notwendigkeit umstritten ist.
Die
Ursache der Fehlentwicklung liegt an den Funktionären.
Zorn an der Basis, Weltwoche, 30.3. von Alain Pichard
Im Jahr 1977, kurz vor meiner Patentierung zum
Berner Primarlehrer, besuchte uns Moritz Baumberger, der damalige
Zentralsekretär des Bernischen Lehrervereins (BLV), um uns davon zu überzeugen,
seinem Verband beizutreten. Der überzeugte Sozialdemokrat sass auch im Grossen
Rat, präsidierte dort die Bildungskommission und durfte sich eines Verbandes
rühmen, welcher einen sagenhaften Organisationsgrad von 98 Prozent der Lehrkräfte
aufwies. Er konnte, wenn eine Gemeinde nicht nach seiner Pfeife tanzte, die
Stelle sperren, was es den dortigen Verantwortlichen unmöglich machte, eine
Lehrerstelle neu zu besetzen.
Einen solchen Verband konnte man nicht ignorieren.
Wenn Baumberger mit etwas nicht zufrieden war, telefonierte er dem jeweiligen
Erziehungsdirektor, ass mit ihm zu Mittag, und die Sache war erledigt.
Moritz Baumberger wurde pensioniert, und mit dem
Verband ging es bergab.
Der Abstieg beschleunigte sich mit der Finanzkrise
des Kantons Bern in den späten Neunzigern. Der Staat stand kurz vor der Pleite
und musste mehrere Sparpakete schnüren, welche die Lohnentwicklung der
Lehrkräfte bremsten, deren Kaufkraft senkten und die Arbeitsbedingungen markant
verschlechterten.
Kampf ums
eigene Überleben
So verfügte die Regierung eine Halbierung des
Wahlfachangebots, beschloss weit über 200 Klassenschliessungen, schaffte die
Familienzulagen ab, führte Kursgelder für die Lehrkräfte ein, kürzte die
Stipendien, strich mehrere Jahre den Teuerungsausgleich, verkürzte die
Gymnasialzeit um ein Jahr, kürzte die fünfjährlichen Treueprämien und strich
die Überbrückungsrente für vorzeitige Pensionierungen.
Sie erhöhte die Arbeitszeit der Lehrkräfte um eine
Lektion, beteiligte die Lehrerschaft an der Sanierung ihrer Pensionskasse mit
happigen Beitragserhöhungen, strich den alljährlich gesicherten
Erfahrungsanstieg und senkte die Lektionenzahl der Primarstufe um zwei
Einheiten. Gymnasien wurden zusammengelegt und Bildungsinstitutionen
geschlossen. Gleichzeitig bürdete man den Lehrkräften immer mehr Aufgaben auf.
Allein die administrativen Arbeiten haben in den letzten zehn Jahren enorm
zugenommen. Ein kompliziertes und umständliches Beurteilungsverfahren,
vorgeschriebene Präsenzzeiten, rekurssichere Dokumentationen, mit grossem
Aufwand verbundene Disziplinarmassnahmen, Mitarbeit an zahllosen Konzepten,
gesteigerte Sitzungskadenzen, eine vorgeschriebene Anzahl von Elterngesprächen,
Netzgespräche und die Koordination mit zahllosen Fachinstanzen beanspruchen die
Zeit der Lehrkräfte über alle Massen.
Sie sind die Leidtragenden einer massiven
Übersteuerung unseres Schulsystems, deren Akteure mit immer neuen Impulsen ihr
eigenes Überleben zu sichern versuchen. Lehrkräfte sind heute keine Beamten
mehr, sie sind öffentlich-rechtliche Angestellte, denen auch gekündet werden
darf.
Der BLV wie auch die Lehrerverbände in den anderen
Kantonen waren von dieser Entwicklung völlig überfordert. Ihnen fehlte schlicht
das gewerkschaftliche Know-how, um diesem imposanten Abbau sozialer
Errungenschaften zu begegnen. Aber die Rolle der Personalverbände fällt bei
vertiefter Analyse noch um einiges brisanter aus. Ohnmächtig angesichts der
Sparmassnahmen, gebärdete sich der BLV wie eine pädagogische Hochschule und
waltete als Steigbügelhalter für Bildungsreformen, deren Notwendigkeit nicht
gegeben und deren Effekt nicht garantiert waren, deren Kosten aber ins
Unermessliche wuchsen.
Politisierte
Berufsverbände
Die Leitungen des Lehrerverbandes kannten in ihrem
politischen Handeln nur die Quantität. Lohnerhöhungen? «Unbedingt!»
Arbeitszeitverkürzung? «Auf jeden Fall!» Harmos? «Nur zu!» Tagesschulen? «Ein
Muss!» Begabtenförderung? «Von uns aus!» Qualitätskontrollen? «Super!» Neues
Beurteilungssystem? «Wunderbar!» Frühfranzösisch? «Brauchen wir!»
Frühförderung? «Dringend nötig!» Stützkurse? «Es kann nicht genug davon geben!»
Kleinere Klassen? «Das Wichtigste überhaupt!» Junior Coaching? «Bitte sehr!»
Case Management? «Klar doch, wir sind ja modern!» Lehrplan 21? «Fantastisch!»
Professionalisierung der Schulaufsicht (eine der teuersten Reformen überhaupt)?
«Völlig einverstanden!» Messung von überfachlichen Kompetenzen? «Grandios!»
Integrationsartikel? «Sehr wichtig!» Elternmitsprache? «Eine Riesensache!» Die
Computerisierung? «Eine unbedingte Notwendigkeit!»
Mit anderen Worten: Das mühsam eingesparte Geld
wurde an anderen Orten wieder ausgegeben, unter gütiger Mithilfe der
Lehrerorganisationen. Es mutet daher geradezu wie ein Witz an, wenn unsere
Verbände das Jammerlied vom Bildungsabbau und der Sparhysterie anstimmen. Die
Bildungsausgaben wachsen, ja sie explodieren förmlich. Gespart wird vor allem
in der Praxis.
Die Ursache dieser Fehlentwicklung ist insbesondere
in der Entfremdung der Funktionäre von der Basis zu suchen. Die Berufsverbände
sind heute vollständig politisiert. Kaum im Amt, wollen die Funktionäre in ein
Parlament gewählt werden. Die Berufsverbände sind heute Sprungbretter für
politische und verwaltungstechnische Karrieren. Die Folgen dieser Verbandelung
mit der Politik sind offensichtlich:
1 – Permanente
Nähe zur politischen Macht; Identifikation mit dem Politsystem; Ideologisierung
statt Pragmatismus; stetes Bemühen um politische Resonanz in eigener Sache,
sprich: die Sicherung der Wiederwahl.
2 – Das
wiederum führt zur Praxisferne, weshalb die Verbände in den letzten zehn Jahren
die zum Teil absurdesten Reformen mittrugen und erst durch den Aufstand der
Basis zurückgepfiffen wurden.
3 – Für diese
Basis wird es zunehmend schwierig, sich Gehör zu verschaffen, da sie weitgehend
von den Entscheidungsprozessen in der Schulentwicklung ausgeschlossen wird.
Vernehmlassungen finden unter enormem Zeitdruck in den oberen Etagen der
Verbände statt, ein Einbezug der Basis mit breitangelegten
Meinungsfindungsprozessen kommt kaum mehr vor.
Exemplarisch ist das Verhalten des Schweizer
Lehrerverbands (LCH) beim Frühfremdsprachenkonzept. Der Dachverband
befürwortete die Idee, auf der Primarstufe zwei Fremdsprachen unterrichten zu
lassen, formulierte aber Gelingensbedingungen, die finanziell völlig utopisch
waren: Teamteaching, kleinere Klassen und anderes.
Heute, da viele Lehrerverbände vor Ort erkennen,
dass das Frühfremdsprachenkonzept gescheitert und kein Jota der vom Verband
geforderten Massnahmen umgesetzt worden ist, will der LCH von seinen damals
formulierten Forderungen nichts mehr wissen. Im Gegenteil:
Geschäftsleitungsmitglied Samuel Zingg fällt der Basis mit einem Rundbrief, in
welchem er sich gegen die Zürcher Fremdspracheninitiative
ausspricht, in den Rücken.
Der Zorn der Basis ist verständlich. Permanent
haben unsere Verbände das unsägliche Prinzip des Bestellens von Leistungen,
ohne dafür die entsprechenden Mittel bereitzustellen, mitgetragen, und wenn die
Lehrer sich nun dagegen wehren, werden sie von ihren Verbandsoberen noch
diffamiert.
Auf die Spitze trieb es die Chefetage des LCH mit
ihrem wirbligen Präsidenten Beat Zemp. Dieser wird zwar von den Medien immer
noch weitherum als oberster Lehrervertreter wahrgenommen und entsprechend
portiert, aber in der Basis nimmt der Unmut zu.
Unvergessen ist sein Slalomkurs in Sachen Lehrplan.
Am 26. Juni 2013, anlässlich der Präsentation des Lehrplans 21, meinte er: «Der
neue Lehrplan ist ein Meilenstein und bringt der Schule entscheidende
Fortschritte.» Am 22. November 2013 mahnte er: «Der Lehrplan 21 ist überladen
und muss abgespeckt werden.» Kurz darauf (23. 12. 13) unterschrieb er die
sogenannte BNE-(Bildung für nachhaltige Entwicklung-)Charta und meinte: «Zur Förderung
einer nachhaltigen Entwicklung ist es von zentraler Bedeutung, BNE im Lehrplan
21 entsprechend zu berücksichtigen.»
Solche unüberlegten Zickzackkurse entstehen zurzeit
in einer besonderen Ambiance, wie die Sonntagszeitung in ihrer
letzten Ausgabe berichtete. Die realitätsfremden Positionspapiere werden
jeweils in Fünfsternehotels ausgeheckt, nachzulesen im Facebook-Eintrag eines
Geschäftsleitungsmitglieds, welches entzückt die Bilder des Fünfgangmenüs
postete. Der Dachverband, der seit mehreren Jahren mehr ausgibt, als er
einnimmt, lässt es sich gutgehen. Um seine Löhne und Entschädigungen macht er
ein Geheimnis, nicht einmal langjährige Mitglieder dürfen erfahren, wie viel
Herr Zemp verdient.
Das hat Folgen. Gestandene Lehrkräfte, die zu 100 Prozent
angestellt sind, wenden dem Verband den Rücken zu, jüngere treten gar nicht
erst ein. Die beiden Oberstufenzentren, von denen das lehrplankritische
Memorandum «550 gegen 550» ausging, zählen zusammen an die sechzig Lehrkräfte.
Nicht einmal zehn sind noch eingeschriebene Mitglieder eines Berufsverbands.
Von
Taktgebern zu Pappkameraden
Die Verbandsverantwortlichen suchen indessen
unverdrossen die Nähe zur Macht. Wenn ich Ende April in Solothurn an einem
Podium meine kritische Position zum Lehrplan 21 darlegen darf, tritt mir der
Solothurner Erziehungsdirektor Remo Ankli entgegen. Assistiert wird er –
dreimal dürfen Sie raten – vom Präsidenten des LCH, Beat Zemp. Das Gleiche wird
Ende Juni in Bern passieren. Dort wird der Bildungsdirektor Bernhard Pulver
mit uns diskutieren. An seiner Seite eine noch zu bestimmende Vertreterin des
BIBE.
Ach ja, das habe ich vergessen: Der ehemalige BLV
und vorübergehende LEBE (Lehrerinnen und Lehrer Bern) heisst jetzt BIBE. Das
ist die Abkürzung für «Bildung Bern». Die neueste Namensänderung soll dem an
Mitgliederschwund leidenden Verband Neuzugänge aus unterrichtsfernen
Berufsgruppen bescheren (Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter etc.).
So schliesst sich der Kreis – allerdings mit einem
entscheidenden Unterschied: Zu den Zeiten, als der Zentralsekretär des BLV,
Moritz Baumberger, noch die Nähe zur Macht suchte und fand, galt er als
Taktgeber. Die heutigen Vertreter der Personalverbände haben mehr die Rolle der
Pappkameraden, schliesslich sitzt man ja in einem Boot.
Der Witz, der in Lehrerkreisen zirkuliert, ist
bezeichnend: «Wenn Bernhard Pulver bei strahlendem Wetter das Fenster aufmacht
und sagt, es regne, stellt BIBE dasselbe fest!»
Alain Pichard ist
Lehrer und Gemeindepolitiker (GLP) in Biel und einer der profiliertesten
Kritiker
der Reformen im Bildungswesen der letzten Jahre.
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