Wann hat es das zuletzt gegeben? Über Jahrzehnte
schienen die Lehrer, ihre Standesverbände und die kantonalen Bildungsdirektionen
am selben Strick zu ziehen. Eine von oben initiierte Bildungsreform löste die
nächste ab, und immer stiessen sie auf das Wohlwollen der Lehrerschaft und
ihrer Exponenten. Die Neuerungen entsprachen dem pädagogischen Zeitgeist, vom
«integrativen Unterricht» über das «frühe Fremdsprachenlernen» bis zum
Vereinheitlichungsprojekt Harmos. Kritik kam deshalb selten von den Lehrern
selbst. Wer sie von aussen an die Schule herantrug, stiess meist auf
geschlossene Abwehrreihen. Doch jetzt bewegen sich die Fronten.
Revolte der Lehrer, Weltwoche, 30.3. von Philipp Gut
Über sechshundert Unterstufenlehrer haben beim
grünen Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver eine Protestnote platziert
(Seite 14). Sie könnten sich nicht mehr genügend um die einzelnen Schüler
kümmern, lautet der Kernvorwurf. Das ist von entlarvender Ironie. Denn die
Missstände, die die Lehrer nun lautstark beklagen, sind nicht zuletzt eine
Folge der schulischen Integration. Diese sieht vor, dass auch behinderte oder
verhaltensauffällige Schüler in den Regelklassen unterrichtet werden und dort
jene «Aufmerksamkeit und Zuwendung» erfahren, die nach Aussage der Berner
Aufständischen nun nicht mehr gewährt werden kann. Darunter leiden nicht nur
die ehemaligen Sonderschüler, sondern auch die normal- bis überdurchschnittlich
begabten Kinder. Das Chaos in den Schulzimmern bremst die Entwicklung aller.
Die regenbogenfarbige Blase platzt, in der viele
Lehrer geschwebt haben. Auch die integrative Schulung haben die meisten von
ihnen begrüsst. Allerdings hat der Kanton Bern bei deren Einführung
geschummelt. Eine entsprechende Umfrage bei den Lehrern sei manipulativ
ausgelegt worden, schildern Betroffene. Neun von zehn Fragen seien allgemein
gefasst gewesen, nur eine habe sich konkret darauf bezogen, ob der integrative
Unterricht eingeführt werden solle. In diesem Punkt seien viele schon damals
skeptisch gewesen, doch aus den positiven Antworten zu den restlichen Fragen
habe man eine überwältigende Zustimmung gezimmert.
Was den Lehrern das Arbeiten so schwermacht, ist
die fehlende Freiheit – etwas, was diesen Beruf früher attraktiv machte. Der
Bieler Lehrer und bekannte Reformkritiker Alain Pichard spricht von einer
«massiven Übersteuerung» des Schulsystems (Seite 16). Die Klassenzimmer sind zu
permanenten Laboratorien immer neuer Moden und Methoden geworden, zudem steigt
die Belastung durch bürokratische Auflagen, aber auch durch das besonders bei
Lehrerinnen beliebte Teilzeitmodell samt Jobsharing.
Die Not vieler Lehrer ist inzwischen so gross
geworden, dass sie sich gegen ihre eigenen Verbandsoberen wenden. Deren Nähe
zur politischen Macht habe sie blind gemacht für die Verhältnisse an der Basis,
kritisiert Pichard. Auch diese Entfremdung ist neu.
Natürlich ist übermässiges Jammern fehl am Platz.
Verglichen mit den Belastungen in manchen Jobs der Privatwirtschaft, haben es
die Lehrer immer noch gut. Doch es ist richtig, dass die müden Witze über die
«Ferientechniker» der Vergangenheit angehören. Die Einsicht hat sich
durchgesetzt, dass die Lehrer unter oft schwierigen Bedingungen eine noble
Aufgabe für die Gesellschaft erfüllen. Wollen sie sich künftig nicht wieder
selbst an der Nase nehmen müssen, bleibt ihnen nur eines: ihren Freiraum zu
verteidigen, auch und gerade gegen ihre realitätsfernen Kollegen in Verbänden
und Verwaltung.
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