Rolf
Schönenberger ist ein Pionier. In Bürglen im Kanton Thurgau hat er an der
Sekundarschule ein Modell entwickelt, das Besucher von Basel bis Finnland
anlockte. Die Theobald Baerwart Sekundarschule hat zum Beispiel ihre
Lernateliers nach dem Modell in Bürglen ausgerichtet.
Der
55-Jährige war fast zwölf Jahre Schulleiter der Sekundarschule Bürglen und für
einen radikalen Wandel des Schulsystems mitverantwortlich. 2014 gab er seinen
Posten auf. Heute arbeitet Schönenberger in der Geschäftsleitung der
Privatschule SBW in Romanshorn.
Im
Telefon-Interview mit der TagesWoche blickt er auf seine Zeit als Schulleiter
zurück und erzählt über die Erfahrungen, die er mit Lernateliers machte.
Herr Schönenberger, in Bürglen wurden
Lernateliers bereits vor 15 Jahren eingeführt. Wie kam es dazu?
Unsere
Schule hat 1995 bei einem Kantonsprojekt mitgemacht, das die Oberstufe
weiterentwickeln sollte. Ein Ziel war, die Real- und Sekundarschule
durchlässiger zu machen. Wir sind dann auf eine Privatschule gestossen, die die
Schülerinnen und Schüler zu mehr autonomem Lernen animierte. Darauf haben wir
dann unsere Lernlandschaften aufgebaut, die 2002 in einem Pilotprojekt
starteten.
Wozu dienen solche Lernateliers?
Das
lässt sich nicht so einfach sagen. Die Frage ist, was man eigentlich erreichen
will. Wir hatten damals verschiedene Zielsetzungen: Zum Beispiel wollten wir
eine bessere Zusammenarbeit im Team. Der Lehrberuf ist derart komplex geworden,
dass wir es uns nicht mehr zutrauten, den Unterricht alleine zu machen. Ein
anderes Ziel war, dass Jugendliche vom gehetzten Schulalltag wegkommen und
einen fixen Arbeitsplatz, ein Zuhause kriegen, wo sie sich willkommen fühlen
und nicht alle 45 Minuten um einen Platz in einem anderen Schulzimmer kämpfen
müssen.
Sie wollten den Kindern also eine Art Heimat
geben.
Ja,
und Lernkompetenz vermitteln – das war ein weiteres Ziel. Sie sollten ein
Repertoire an Strategien erhalten, mit denen sie Wissen selbstständig
verarbeiten konnten. Sie sollten dabei Vertrauen kriegen in das, was sie
machen. Es geht auch darum, was wir von Schülerinnen und Schülern erwarten.
Sollen alle brav durch die Schule, durchs Studium kommen? Oder wollen wir
eigenverantwortliche Menschen bilden? Mit Lernlandschaften konnten wir
möglichst viele unserer Ziele erreichen, also haben wir uns dafür entschieden.
Also ganz pragmatisch, als Mittel, Ihre Ziele
umzusetzen.
Es
ist wichtig zu verstehen, dass Lernlandschaften nicht als Selbstzweck
funktionieren. Man muss sich zuerst über die Tiefenstruktur einig sein, also
die Frage, was man erreichen will. Erst dann kann man die Oberflächenstruktur
anpassen und beispielsweise Lernateliers einrichten. Der Fehler, den viele
Schulen machen, ist der: Sie finden Lernateliers cool und wollen das bei sich
einführen. Dabei sind ihnen die Gründe und Zielsetzungen dieser Veränderung
nicht wirklich bewusst.
Wie reagierten die Eltern auf die radikale
Umstellung des Unterrichts?
Es
war ein wahnsinniger Abend, als wir uns vor die Eltern stellten. Im Juni vor
den Sommerferien haben wir ihnen gesagt, dass wir ab dem darauffolgenden Schuljahr
ganz anders unterrichten würden. Wir erklärten, was wir mit Lernlandschaften,
Coaches und autonomem Lernen bezwecken wollten. Die Eltern haben danach spontan
applaudiert. Ein Vater sagte im Plenum: «Wenn ein Team aus Eigeninitiative
solche Veränderungen umsetzen will, kann nichts schiefgehen.» Mir fiel ein
Stein vom Herzen. Die Eltern hätten das Konzept genauso gut zerpflücken können.
Die Lehrerschaft stand geschlossen hinter dem
neuen Modell?
Fast.
Diejenigen, die nicht mitmachen wollten, haben gekündigt. Das waren zwei
Personen. Ich bin ihnen bis heute dankbar. Sie haben sich nicht in den Weg
gestellt, sondern aus Eigenverantwortung heraus gesagt: «Das ist nicht unser
Weg, aber probiert es ohne uns aus.»
Sehen Sie auch Nachteile beim Unterricht in Lernateliers?
Ich
würde sagen, es gibt Gefahren. Zum Beispiel, wenn die Teamarbeit nicht
funktioniert, dann wird es für alle Beteiligten anstrengend – für
Schülerschaft, Eltern, Lehrpersonen. Es braucht die Offenheit und Bereitschaft,
mit den Kollegen eng zusammenzuarbeiten.
Manche sagen, schwächere Schülerinnen und
Schüler würden in Lernateliers abgehängt.
Eher
das Gegenteil ist der Fall. Pro Atelier haben wir vier Lehrpersonen, davon war
eine für den heilpädagogischen Bereich zuständig. Jugendliche mit
Lernschwierigkeiten waren in diesem System immer sehr nahe am Heilpädagogen
dran – auch räumlich. Die Sitzordnung war wie ein Zwiebelsystem aufgebaut. Ganz
innen diejenigen, die auf viel Unterstützung angewiesen waren, ganz aussen
jene, die grösstenteils selbstständig arbeiteten. So konnten wir sehr gezielt
auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schülerschaft eingehen.
Gegner der Lernateliers sagen auch, die Schülerinnen und Schüler würden darin allein gelassen. Der Lehrer kann kaum kontrollieren, was der Einzelne macht.
Das
hat mit dem Menschenbild zu tun, das eine Lehrperson hat. Muss man jeden
kontrollieren, damit er etwas tut? Oder sind die Jugendlichen grundsätzlich da,
um etwas zu lernen? Im Lernatelier weiss ich mit der Zeit, welche Schülerinnen
und Schüler ich regelmässig unterstützen oder vielleicht auch kontrollieren
muss, weil sie noch nicht die Reife haben. Wie ist es denn im normalen
Unterricht, wenn der Lehrer eine Frage stellt und von drei Schülern eine
Antwort erhält? Er weiss nicht, ob die anderen zuhören. Lernateliers helfen,
nahe am Schüler zu sein. Wir haben unsere Jugendlichen mit dem neuen System viel
besser gekannt als vorher.
Sollten Lernateliers den Frontalunterricht
irgendwann ganz ersetzen?
Nein.
Es wäre zu kurz gedacht, wenn man sagen würde, Frontalunterricht ist etwas
Schlechtes. Ein Geschichtslehrer an unserer Schule hat beispielsweise 45 Minuten
nur frontal erzählt, während 40 Schülerinnen und Schüler an seinen Lippen
hingen. Jedes Mal wenn ich eine Lektion von ihm besuchte, bin ich auch sitzen
geblieben, weil es einfach so spannend war. Die Schülerinnen und Schüler hatten
keinen Auftrag, sie haben nicht mitgeschrieben, aber sie gingen gerne hin,
hörten gerne zu und haben ganz bestimmt etwas gelernt.
Was ist denn ganz konkret der Vorteil von Lernateliers?
Das
pädagogische Repertoire der Lehrerinnen und Lehrer ist viel grösser, wenn vier
Leute zusammenarbeiten. Sie können viel besser mit Lernschwierigkeiten umgehen.
Zum Beispiel kam ein Mädchen aus einer benachbarten Kleinklasse zu uns. Ihre
Mathematik-Kenntnisse waren auf dem Niveau einer Zweitklässlerin. Das Team
musste sich überlegen, wie es damit umgehen sollte. Sollte man ihr
2.-Klass-Mathe-Aufgaben geben? Die anderen würden sie doch auslachen.
Was haben Sie stattdessen getan?
Die
Lehrpersonen haben im Team entschieden: Wir machen das Mädchen zur Chefin des
Pausen-Kiosks. Dort sollte sie rechnen lernen. Bei ihrem Abschluss nach der 9.
Klasse sagte das Mädchen in einer Abschiedsrede vor versammeltem Saal, sie
könne nun addieren, subtrahieren und eine einfache Buchhaltung führen. Das habe
ihr unglaublich viel Selbstvertrauen gegeben. Ich kriege noch heute Gänsehaut,
wenn ich an ihre Rede denke.
Lässt sich der Erfolg bei den Schülerinnen und
Schülern denn belegen?
Wir
hatten 100 Prozent Anschlussfähigkeit. Das heisst, unsere Schülerinnen und
Schüler fanden alle eine Lehrstelle oder anderweitig Anschluss. Wir hatten auch
gute Quoten bei den Abgängen ans Gymnasium. Aber der grösste Erfolg war für
mich
persönlich, dass ich in den letzten vier Jahren, in denen ich Schulleiter
war, keinen einzigen Verweis schreiben und keinen Franken wegen Vandalismus
ausgeben musste.
Das führen Sie auf die Lernateliers zurück?
Entscheidend
ist nicht die Lernform, sondern die Haltung der Lehrpersonen. Wie begegne ich
den Jugendlichen? Begegne ich ihnen auf Augenhöhe, oder betone ich das
Machtgefälle? Ich gehe nicht davon aus, dass Schülerinnen und Schüler am Morgen
aufstehen, um in der Schule schlecht abzuschneiden. Sie wollen Erfolg haben.
Als Lehrer muss ich schauen, dass sie Erfolg haben können. Eine positive
Einstellung gegenüber Schülerinnen und Schülern hilft enorm, guten Unterricht
zu machen. Es ist auch so: Wenn sich Lehrer intensiv mit einem Projekt zur
Schulentwicklung beschäftigen, sind sie in der Regel auch engagierter. Das hat
uns auch geholfen.
Also muss man nur irgendwelche Reformen
durchführen, um die Lehrerinnen und Lehrer zu motivieren?
(Lacht)
So ist es natürlich nicht. Man muss auch schauen, dass sich die Lehrerschaft
wohlfühlt. Nur wenn sie sich wohlfühlt, kann sie ihr Wohlbefinden auch an die
Jugendlichen weitergeben.
Lernateliers sind auch mit einem enormen Effort
der Lehrpersonen verbunden. Diese müssen nämlich mehr Stunden pro Woche in der
Schule verbringen.
Als
Schulleiter haben Sie zwei Varianten: Sie können zusehen, wie die Lehrerinnen
und Lehrer alleine unterrichten und Gefahr laufen, ein Burnout zu erleiden.
Oder sie geben den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit, im Team zu
arbeiten, Probleme zu teilen und Schwierigkeiten gemeinsam anzupacken. So
können Sie Lehrpersonen auch entlasten.
Sie sehen kein Problem darin, dass Lehrerinnen
und Lehrer in Lernateliers mehr Stunden absolvieren?
Im
herkömmlichen System verfügen Lehrpersonen über viel Zeit, die sie selbst
einteilen können. Mit höheren Präsenzzeiten können sie ihre Schulstunden im
Atelier vorbereiten. Das spiegelt auch die Grundhaltung wider, die wir
verfolgen wollten. Lehrpersonen haben ihre Arbeitsplätze neben den Schülerinnen
und Schülern im Atelier. Das heisst: Wir zeigen, wie man arbeitet, wir leben
vor, was wir von den Jugendlichen erwarten. Das schafft eine ganz andere
Arbeitskultur, als wenn der Lehrer von zu Hause Arbeitsblätter mitbringt, diese
im Unterricht ausfüllen lässt und zu Hause wieder korrigiert.
„Sie stürmen Bestsellerlisten, erobern das öffentlich-rechtliche Fernsehen, desavouieren pauschal das bestehende Bildungssystem inklusive Lehrpersonen und finden unkritische Gefolgschaft in der Politik. Dass die selbsternannten Bildungsexperten den Schulalltag grösstenteils nur vom Hörensagen kennen, führt nicht etwa dazu, dass ihre Diagnosen und behaupteten Heilmittel argwöhnisch beäugt würden, sondern das Gegenteil ist der Fall: «Befreit von akademischen Skrupeln» und «den Mühen der Empirie» dürfen sie umso ungehemmter ihre Konzepte zur angeblich dringend erforderlichen «Schulrevolution» verkünden. Der vorliegende Artikel unternimmt den Versuch einer Bestandesaufnahme“:
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